Ausgabe Januar 1990

Kurs 127:1

Wiedervereinigung - Der größte Entschuldungscoup aller Zeiten?

Selten war soviel von Geschichte die Rede wie in diesen Wochen seit dem 9. November. Aber der Redeschwall vom "historischen Augenblick", die Beschwörung des sprichwörtlichen "Mantels der Geschichte", den man nun - Bismarck gleich - erhaschen möchte, alle diese Geschichtsrhetorik wird noch übertroffen durch das Ausmaß historischer Vergeßlichkeit. - Macht Geschichte dumm? Die "große Rede" des Bundeskanzlers zu den Perspektiven einer "Wiedervereinigung" gab sich zwar nüchtern; ganz verzichten mochte er auf die allfällige Erklärung "W i r sind die Sieger der Geschichte!" aber auch nicht. Einige Impressionen: Daß die polnische Westgrenze "vergessen" wurde, fiel in der Einheitsbegeisterung des 4. August, pardon: 28. November natürlich niemanden auf. Oder ein anderes: "Keine Vorbedingungen" an die DDR, das ist inzwischen eine feststehende Redewendung geworden, so auch beim Bundeskanzler.

Ihr folgte die Einschränkung freilich auf dem Fuße: "Wirtschaftliche Hilfe kann nur wirksam werden, w e n n grundlegende Reformen des Wirtschaftssystems erfolgen" und - noch deutlicher - "w e n n ein grundlegender Wandel des politischen und wirtschaftlichen Systems in der DDR ... verbindlich und unumkehrbar in Gang gesetzt wird.

Sie haben etwa 16% des Textes gelesen. Um die verbleibenden 84% zu lesen, haben Sie die folgenden Möglichkeiten:

Artikel kaufen (1€)
Digitalausgabe kaufen (10€)
Anmelden

Aktuelle Ausgabe September 2025

In der September-Ausgabe plädiert Lea Ypi für eine Migrationsdebatte im Sinne der Aufklärungsphilosophie. Cinzia Sciuto fordert, der zunehmenden Aushöhlung des Völkerrechts mit einer entschiedenen Verteidigung desselben zu begegnen – und nicht mit Resignation und falschem Realismus. Für Georg Diez markieren die Kriegsverbrechen in Gaza und die fehlenden Reaktionen darauf einen Epochenbruch; sie stünden für nicht weniger als den Verrat des Westens an der Humanität. Herfried Münkler analysiert, wie Kriege historisch endeten und Friedenszeiten begannen und was das mit Blick auf den Ukrainekrieg bedeutet. Simone Schlindwein deckt auf, wie Russland junge Afrikanerinnen mit falschen Versprechen für die Kriegswirtschaft rekrutiert. Warum die grüne Digitalisierung ein Mythos ist und was der KI-Boom den Globalen Süden kostet, erläutern Ingo Dachwitz und Sven Hilbig. Und Eva-Maria Klinkisch sowie Markus Rieger-Ladich zeigen auf, wie Long Covid-Betroffene von der Gesellschaft und dem Gesundheitssystem systematisch ignoriert werden – und was dagegen zu tun ist. 

Zur Ausgabe Probeabo

Weitere Artikel zum Thema

Die Rückkehr des Besatzers

von Sergej Lebedew

Vor fünfzig Jahren, am 1. August 1975, wurde mit der Unterzeichnung des Abkommens von Helsinki die Unverletzlichkeit der nach dem Zweiten Weltkrieg errichteten Grenzen anerkannt. Wie wir wissen, dauerte die Ordnung von Helsinki etwa fünfzehn Jahre. Die Sowjetunion hörte auf zu existieren, und die Länder Ost- und Mitteleuropas fanden ihren Weg zu Freiheit und Eigenstaatlichkeit.