Ausgabe Juni 1998

APO aus Erfurt ?

Daß die deutsche Misere zumeist eine Misere deutscher Opposition war und ist, gehört zu jenen Kontinuitäten, an die im Jahre des Gedenkens an 1848 und an 1968 kritisch-selbstkritische Öffentlichkeit zu erinnern hat. Nach 20 Jahren neoliberaler Herrschaftsoffensive und 15 Jahren offen neokonservativer Roll-BackPolitik scheint ganz Deutschland erneut nichts besseres zu tun zu haben, als gebannt auf die Herren Kohl und Schäuble, Schröder und Lafontaine, Fischer und Trittin und wie sie alle heißen mögen, zu schauen. Hoffnungen, daß sich wachsender gesellschaftlicher Unmut in organisierte, emanzipierende Opposition transformiert, machen sich fest an diversen "Ein-Punkt-Bewegungen" wie dem Anti-Atom-Protest, der ewigen Studierendenunruhe, der schüchternen Arbeitslosenbewegung oder dem mächtigen Defensivkampf sozialpartnerschaftlich orientierter Gewerkschaften. Doch sie alle bilden kaum mehr als abhängige Variablen des regierungsamtlichen Konservatismus.

"Unsere bisherige deutsche Tragödie ... liegt gerade darin, daß wir uns von 'oben' oder von 'anderen' haben bestimmen lassen. Der Begriff der Selbstbestimmung ist bei uns noch immer auf einem unterentwickelt gehaltenen Niveau. Deshalb ist eine befreiende und nicht mehr reaktionär verklärende Identitätsfindung mit unserem Lande bisher so besonders schwer gewesen", provozierte vor 25 Jahren Rudi Dutschke die westdeutsche Linke. 1) Eine andere, deutlich jüngere Provokation verbirgt sich hinter der Chiffre "Erfurter Erklärung", jenem ersten zaghaften Versuch, die verschiedenen Unmutsstränge in dieser Republik politisch zu bündeln. Erinnern wir uns: Wochenlang regten sich Deutschlands Medien Ende 1996 darüber auf, daß unsere Intellektuellen nichts besseres zu tun hätten, als gegen die neue Rechtschreibreform zu wettern. Und als schließlich, Anfang Januar 1997, einige dieser Intellektuellen öffentlich politisch Stellung nahmen, wurden sie genauso ignoriert und niedergemacht. In der sogenannten Erfurter Erklärung "Bis hierher und nicht weiter. Verantwortung für die soziale Demokratie" 2) wenden sich Intellektuelle, GewerkschafterInnen, Theologen und oppositionelle PolitikerInnen gegen den neoliberalen Zug der Zeit, prangern "gnadenlose Ungerechtigkeit", "Sozialverschleiß" und "fehlende Perspektiven" "mitten in einem Epochenwechsel" an. Sie verlangen eine "gerechtere Verteilung der Einkommen und Güter", wollen die Massenerwerbslosigkeit durch "weitere radikale Verkürzung der Arbeitszeit bei angemessenem Lohnausgleich", durch "das Leitbild eines neues Typs von Vollbeschäftigung für Männer und Frauen", durch "Einstieg in eine ökologische Steuerreform" und Ausbau der sozialen Sicherungssysteme, sowie durch "demokratische Rahmenbedingungen", mehr Steuerehrlichkeit und Lastenausgleich "zwischen West und Ost, Alt und Jung, Erben und Armen" überwinden.

All dies gehe nur durch "eine andere Politik, also ... eine andere Regierung". Einerseits bräuchten wir "eine außerparlamentarische Bewegung", sollen "aus der Zuschauerdemokratie heraustreten", andererseits könne dieser Wechsel "nur aus den bisher getrennten Oppositionskräften entstehen", sprich: SPD, Grüne und PDS. "Sie dürfen der Verantwortung nicht ausweichen, sobald die Mehrheit für den Wechsel möglich wird." Deswegen fordern die Unterzeichnenden die Aufgabe "innerer Feindbilder" und "Nichtberührungsgebote", sprich: die Zusammenarbeit mit der PDS. Sicher, es hat schon etwas kurioses, wenn namhafte Intellektuelle mit einer Unterschriftenliste zur außerparlamentarischen Opposition aufrufen und in ihrer Erklärung mit guten Ratschlägen für die mehr oder weniger etablierten parlamentarischen Parteien aufwarten. Anstatt nun aber in eine spannende gesellschaftliche Diskussion um soziale und politische Alternativen einzusteigen, wurde öffentlich an der Versteinerung hiesiger Verhältnisse weitergezimmert. Von der SPD kam nur gehässiges Abwinken. Und die Grünen überboten ihren Opportunismus ins Peinliche, als sie eiligst eine "Wörlitzer Erklärung" herausbrachten und erstmals den totalen Unvereinbarkeitsbeschluß selbst für Tolerierungen durch die PDS proklamierten. 3) Das Ansinnen der "Erfurter" schien im medialen Kugelhagel unterzugehen. Ernstzunehmende Stimmen "outeten", daß die Erklärung die deutliche Handschrift führender PDS-Genossen trage, was zu ihrer Diskreditierung im Westen nicht unwesentlich beigetragen haben wird - unabhängig davon, ob es denn stimmt. Im neuen Osten der Republik dagegen zeigte die Erklärung nachhaltigere Wirkungen. Immer mehr Menschen unterschrieben und kamen zu Veranstaltungen. Der Aufbau regionaler Basisgruppen machte schnell Fortschritte und griff sogar vereinzelt auf den Westen über.

Mehr als ein Papiertiger?

Weitgehend unbeachtet trafen sich dann mehrere hundert Menschen am 3. Oktober 1997, dem "Tag der deutschen Einheit", in Erfurt und verabschiedeten einen Tag später einen weiteren Appell "Aus der Zuschauerdemokratie heraustreten!". 4) Man erneuerte das Pochen auf eine grundsätzlich andere Politik, die durch ein "Kabinett ohne Kohl" noch längst nicht garantiert sei. "Grundlegendes muß sich verändern. Wer soll das tun, wenn nicht wir, und wann, wenn nicht jetzt? Beginnen wir zu handeln. Bündeln wir unsere Kräfte, um uns im Bundestagswahlkampf und darüber hinaus Gehör zu verschaffen. Fordern wir von den Oppositionsparteien Alternativen zur jetzigen Regierungspolitik ein." Im gleichzeitig erschienenen Begleitbuch zur Unterschriftenliste 5) läßt sich nochmals das ganze Spektrum vertretener Positionen besichtigen. Von Verfassungspatrioten wie Günter Grass über Pastoren wie Schorlemmer ("Ohne Reiche keine Armen, aber ohne Reichtum auch keine Hilfe für die Armen.") bis zur erneuten Proklamierung der Alternative "Sozialismus oder Barbarei" durch Daniela Dahn, die eine "Halbierung der Arbeitszeit, wohlgemerkt für alle" fordert, reicht das Spektrum, von Elmar Altvater über Peter von Oertzen, Claudia Roth bis Gerhard Zwerenz.

Es mutet zwar komisch an, wenn sich Linke in einer Erklärung "sehr genau an Formulierungen und Programmen der CDU (orientieren)" und diese "in ihrem programmatischen Teil auch von Ludwig Erhard unterschrieben sein könnte" (Walter Jens). Aber wenn's der Bewegungsfindung dient... Und in der Tat: Spätestens nach dem 7./8. März diesen Jahres muß umdenken, wer bisher davon ausging, daß die "Erfurter Erklärung" kaum mehr als ein Papiertiger sei. Jene, die damals den "Erfurtern" das gleiche Schicksal wie das der ostdeutschen "Komitees für Gerechtigkeit" prophezeiten, haben sich geirrt. Auf ihrem "Bochumer Ratschlag" zeigte sich die Bewegung in eindrucksvollem Selbstbewußtsein. "Wir haben Zulauf, und darum sind wir hier", eröffnete Heino Falcke, Erstunterzeichner und Probst im Ruhestand, die Versammlung. 500 Menschen waren aus allen Teilen der Republik gekommen und riefen nach kurzer Diskussion zur Großdemonstration nach Berlin auf, am symbolischen 20. Juni, dem fünfzigsten Jahrestag der westdeutschen Währungsreform. Sie gaben sich optimistisch, daß es gelingt, mehr als 100 000 Menschen nach Berlin zu mobilisieren. Über 50 000 Unterschriften können sie bisher aufweisen, fast 330 Initiativgruppen bildeten sich bundesweit im vergangenen Jahr. Versammelt war in Bochum ein buntes Gemisch von Personen und Organisationen, das eher untypisch für politische Treffen dieser Art ist.

Da trafen Aktivisten und Mitglieder von Aktionsbündnissen und gesellschaftlichen Organisationen auf Mitglieder von Selbsthilfegruppen und Tauschringen, Gewerkschaftssekretäre und Kommunalpolitiker auf Volkshochschullehrende, RentnerInnen und Menschen, die sich bis dato noch nie politisch engagiert hatten. Die "Erfurter Erklärung" hat einen Nerv der Zeit getroffen, daran kann kein Zweifel mehr bestehen. Sie wäre sonst bereits vergessen. Wessen Initiative sie auch zu verdanken ist oder nicht, sie hat diese Eierschalen schon längst abgeworfen. Inwieweit die "Erfurter" nun die Bewährungsprobe jeder Bewegung, die Großdemonstration, bestehen werden, d.h., inwieweit sie in der Lage sind, Massen zu mobilisieren und in die Waagschale des Wahlkampfgetümmels zu werfen, ist schwer zu sagen. Es hängt auch nicht mehr von ihnen allein ab. Mittlerweile hat sich, ausgehend vom "Bochumer Ratschlag", eine Bundeskoordination für die Organisation der Großdemonstration gebildet, in der Arbeitsloseninitiativen, Gewerkschaftsgruppen und -Individuen, kirchliche Basisgruppen, Studierendenvertretungen und politische Organisationen wie die Falken, die Jungdemokraten, Kairos Europa usw. aktiv vertreten sind.

Und so rufen sie uns nun auf, aus der Zuschauerdemokratie herauszutreten, aufzustehen für eine andere Politik: "Ein neuer Kanzler genügt nicht! Wir wollen eine neue Politik! Schluß mit der Selbstentmachtung der Politik zugunsten der Wirtschaft! Schluß mit der Mißachtung der Lebensinteressen der Menschen zugunsten des Profits! Schluß mit der Diskriminierung durch Armut! Schluß mit dem Abbau demokratischer Rechte!" In Forderungen umgesetzt, heißt dies: Neue und gerechte Verteilung der Arbeit durch aktive Beschäftigungspolitik, soziale und ökologische Steuerreform, Demokratie und Bildung in einer zivilen Gesellschaft der Völker sowie die Bekämpfung von Armut und schließlich sozialökologische und friedenspolitische Steuerung der Weltwirtschaft. Die bisherige programmatische Zuspitzung läßt sicherlich manches vermissen. Sie ist auch längst nicht so entwickelt wie bei dem inhaltlich und personell verwandten "Crossover"-Projekt, bei dem sich vorwiegend parlamentarische Linke aus SPD, den Bündnisgrünen und der PDS in organisierter Form Gedanken machen über einen neuen sozialökologischen "New-Deal". Doch während "Crossover" deutliche Stagnationserscheinungen aufweist 6) und sich vorerst auf die Theoriearbeit nach den Wahlen zurückgezogen hat, verbinden die Erfurter erfolgreich geringere inhaltliche Tiefe mit stärkerer politischer Zuspitzung. Die weitere Bündnisarbeit und die Dynamik der Bewegung werden hier sicherlich Klärung erzwingen. Mit der nun bündnisweit in den Vordergrund gestellten Forderung nach einem Bruch mit der neoliberalen Politik, auch in ihrer weichen Variante, ist ein hoffnungsvoller Anfang für eine neue, selbständig auftretende Opposition gemacht. Fände sie am 20. Juni nennenswerten Widerhall, bekäme sie Bedeutung auch über den 27. September hinaus.

1) Rudi Dutschke, pro patria sozi?, in "Konkret, 2/1974, S. 30. 2) Vgl. "Blätter", 2/1997, S. 251 ff. 3) Ebd., S. 254. 4) Vgl. "Blätter", 11/1997, S. 1400 f. 5) Daniela Dahn/Dieter Lattmann/Norman Paech/ Eckart Spoo (Hg.), Eigentum verpflichtet. Die Erfurter Erklärung, Heilbronn 1997. 6) Vgl. hierzu: Christoph Jünke, Radikalreformerische Stagnation. "Crossover" diskutiert Konturen eines neuen "New Deal", in. "ak. analyse und kritik", 12.2.1998, S. 25.

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