Ausgabe Oktober 1998

Offener Brief an den 14. Deutschen Bundestag

Betr.: Wiedergutmachung

An die Mitglieder des 14. Deutschen Bundestages c/o Präsidium, Bundeshaus, 53113 Bonn

Sehr geehrte Frau Präsidentin/Sehr geehrter Herr Präsident,

sehr geehrte Damen und Herren,

in Sachen "Wiedergutmachung" schlägt die Stunde der Wahrheit. Die Entschädigungsverpflichtung der Schweizer Banken und die Einleitung von Sammelklagen gegen führende deutsche Konzerne in den USA haben international eine neue Dynamik geschaffen. Wir empfinden es als unerträglich, wenn in dieser Situation ausgerechnet in Deutschland, dem Land der Täter, Politik und Öffentlichkeit in einer Zuschauerrolle verharren. Wir wissen, die Ermordung von Millionen Menschen läßt sich nicht "wieder gut machen". Lassen Sie uns bescheidener und konkreter werden: überfällig ist, "Wiedergutmachung" wenigstens in dem beschränkten Sinn zu leisten, daß deutsche Firmen ungerechtfertigterweise erworbene Werte herausgeben, Kompensation leisten für die Bereicherung durch Zwangsarbeit und daß allen (noch) überlebenden NS-Verfolgten endlich schnell und unbürokratisch geholfen wird. Wir dürfen nicht länger passiv bleiben, zuwarten, "aussitzen", während in aller Welt erneut Aufklärung und Entschädigung auf die Tagesordnung gesetzt werden. Vom neugewählten Bundestag und der von ihm zu bestimmenden neuen Regierung erwarten wir unverzüglich eigene Initiativen:

- Die seit Jahrzehnten verweigerten Zahlungen für Zwangsarbeit dürfen nicht länger verzögert werden. Fonds- und Stiftungslösungen können einen Beitrag leisten, sollten jedoch nicht dazu führen, daß Verantwortlichkeiten verwischt werden, etwa indem namhafte Firmen sich mit letzten Endes symbolischen Summen "freikaufen" und in die Anonymität flüchten, statt sich den individuellen und konkret bezifferbaren Ansprüchen zu stellen.

- Um wenigstens den noch lebenden Opfern ohne weiteren Verzug zu ihrem Recht zu verhelfen, bedarf es einer Umkehrung der Beweislast. Viele Dokumente sind verloren oder vernichtet, aber es darf nicht dabei bleiben, daß Geschädigte leer ausgehen, etwa weil ihnen Unterlagen fehlen, die sich in den Firmenarchiven finden oder rekonstruieren lassen. Wir erwarten, daß der neue Bundestag Regelungen für den erforderlichen Archivzugang herbeiführt und auf die betroffenen Unternehmen dahingehend einwirkt, dem Vorbild der Schweizer Banken zu folgen, die z.B. "nachrichtenlose Konten" in internatationalen Zeitungsanzeigen und im Internet dokumentiert haben. Wir sind nicht bereit hinzunehmen, daß die Archive der betreffenden Gesellschaften in Deutschland verschlossen gehalten oder allenfalls einem von den Eigentümern ausgewählten Personenkreis zugänglich gemacht werden.

- Ein qualifiziertes Gremium muß geschaffen und mit den nötigen Rechten und Mitteln ausgestattet werden, damit sich endlich im einzelnen aufklären läßt, welche Werte zu Unrecht in deutschen Privat- oder Staatsbesitz übergegangen sind (eine Frage, mit der sich im November/Dezember des Jahres auch die Conference on Holocaust-Era Assets im Washingtoner Außenministerium befassen wird).

- Die Herausgabe des Raubguts kann sich im übrigen nicht etwa darauf beschränken, die wenigen Überlebenden abzufinden. Die Kompensationsleistungen müssen dem Ausmaß der Bereicherung, der Ausbeutung von Zwangsarbeit etc. entsprechen. Das gilt auch für die infolge des Kalten Krieges nicht berücksichtigten Ansprüche aus Osteuropa.

- Seit etlichen Jahren wird gefordert, den noch lebenden NS-Verfolgten einen Lebensabend in Würde und ohne materielle Not zu sichern. Trotz Fortschritten im Detail ist dieses Ziel bisher nicht erreicht worden. Zwar sind dem Deutschen Bundestag Anträge hierfür vorgelegt worden, doch ist er ihnen bisher nicht nachgekommen. Die bisher abgetrotzten Leistungen bleiben so weiterhin selbst hinter dem Bundesentschädigungsgesetz zurück. Sie stehen vor der Aufgabe, dies jetzt zu ändern. Vom 14 Deutschen Bundestag, der seinen Sitz in der früheren Reichshauptstadt nehmen wird, erwarten wir - jenseits aller symbolischen Politik - konkrete Signale, daß die "Berliner Republik" sich der deutschen Verantwortung für die NS-Verbrechen und deren Folgen stellt.

Mit diesem Offenen Brief wird die "Blätter"-Redaktion sich anläßlich der Konstituierung des neugewählten Bundestages in der Woche vom 19. bis 23. Oktober an alle Abgeordneten wenden. Wir freuen uns über jede Unterstützung dieser Initiative. Der Nachdruck des Briefs ist gestattet, Kopieren und Weiterverbreitung sind erwünscht. Eine Kurzfassung des Briefs liegt dieser Ausgabe als Postkarte bei. Wir regen an, die Karte unmittelbar dem Bundestagspräsidium zuzuschicken und Bekannte für die Teilnahme an der Briefaktion zu gewinnen. Weitere Exemplare der Postkarte können unentgeltlich bestellt werden (10, 20, 50, 100 Expl.); gewünschte Stückzahl bitte übermitteln an: "Blätter"-Redaktion, Postfach 28 31, 53018 Bonn, Fax 0228/65 02 51, e-mail blaetter@t-online.de. Im Internet finden Sie die Aktion unter www.blaetter.de Spenden zur Finanzierung der Initiative mit Kennwort "Betr.: Wiedergutmachung" bitte auf das Konto Nr. 1028 1717 00 (BLZ 380 101 11, BfG Bank Bonn) der Gesellschaft zur Förderung politisch-wissenschaftlicher Publizistik und demokratischer Initiativen e.V. (Blätter-Förderverein).

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