Ausgabe April 2013

Europa und die mutlose Linke

Bild: dioxin / photocase.com

Seit Beginn der Eurokrise führen die „Blätter“ eine intensive Debatte über die europäische Rettungspolitik. Auf den jüngsten Beitrag „Baustelle EU und die Krise der Linken“ („Blätter“, 3/2013) von den Gewerkschaftern Klaus Busch und Dierk Hirschel antwortet nun der Volkswirt und Foodwatch-Gründer Thilo Bode.

Klaus Busch und Dierk Hirschel haben völlig recht: Die allesamt „linken“ Oppositionsparteien im Deutschen Parlament – SPD, Grüne und Die Linke – versagen in der Europapolitik, und zwar auf der ganzen Linie. Aber keineswegs aus den skizzierten Gründen, im Gegenteil: Die linken Parteien, aber auch Busch und Hirschel, erklären bis heute nicht, warum die Bürger der Währungsunion – im Norden wie im Süden – diesen gewaltigen Preis für die Rettung der Gemeinschaftswährung zahlen müssen. Bis heute legen sie keine überzeugenden Rezepte gegen die zunehmende Verarmung der Bevölkerung speziell im Süden Europas vor. Stattdessen heißt es immer wieder vermeintlich generös, wie unlängst in „der tageszeitung“: „Europa kann sich Griechenland leisten“. Vielmehr muss jedoch gefragt werden: „Kann Griechenland sich Europa und den Euro noch leisten?“

»Griechenland ist heute ein Land im permanenten Ausnahmezustand.«

Offenbar können sich nur die Wenigsten vorstellen, welches Ausmaß die Wirtschaftskrise in Griechenland heute bereits angenommen hat. Die verheerenden sozialen Folgen der Euro-Rettungspolitik lassen sich mit Begriffen wie Arbeitslosigkeit oder Sparprogramm nicht annähernd mehr erfassen. Griechenland ist ein Land im permanenten Ausnahmezustand; faktisch gibt es so etwas wie ein normales Leben gar nicht mehr. Cafés und Restaurants, die sonst von Griechen besucht werden, sind heute gähnend leer – ein gespenstischer Zustand. In Griechenland zerfällt und verarmt die gesamte Gesellschaft unter der Krise. Insbesondere ist es die Jugend, die keine Zukunftsoptionen mehr hat. Jeder zweite Jugendliche hat keinen Job. Die Selbstmordrate hat sich verdreifacht, die Gewalt krimineller Banden nimmt zu. Und rechtsradikale Parteien wie die „Goldene Morgenröte“ haben starken Zulauf. Gleichzeitig wächst die Angst vor einer weiteren Radikalisierung und Weimarer Verhältnissen.

»In Gläubigerländern wie Deutschland bringt die Niedrigzinspolitik der EZB die Sparer um ihr Vermögen.«

In Gläubigerländern wie Deutschland bringt derweil die Niedrigzinspolitik der EZB die Sparer gleichzeitig schleichend um ihr Vermögen, weil die Inflation höher ist als der Sparzins. Somit werden die Steuerzahler hierzulande zweimal zur Kasse gebeten: Erstens müssen sie für die teure Rettungspolitik zahlen. Zweitens raubt diese ihnen zusätzlich noch ihr Erspartes.

Inzwischen hat die Linkspartei zwar gegen den Euro-Rettungsschirm ESM geklagt sowie gegen die Rettung der spanischen Banken auf Kosten der Steuerzahler und das letzte Griechenland-Rettungspaket gestimmt. Letztlich ist sie sich jedoch mit Grünen und SPD einig: Die Währungsunion muss im gegenwärtigen Umfang erhalten bleiben.

Genau das hat schwerwiegende Konsequenzen. Das Kernproblem der Währungsunion ist – neben der allgemeinen Staatsverschuldung – die zu niedrige Produktivität der Privatwirtschaft in den Krisenstaaten. Deshalb verschulden sich diese immer weiter bei ihren Nachbarn, weil ihre zu teuren Exporte keine Käufer mehr finden und sie die Importe nicht mehr bezahlen können. Wären die Wechselkurse der Krisenstaaten veränderbar, könnten diese sich mit einer Abwertung der drohenden Verschuldung entziehen: Die importierten Güter würden teurer und die Nachfrage nach ihnen geringer. Der Umfang der durch die Abwertung billigeren Exporte nähme hingegen zu.

»Die Rezepte der drei Oppositionsparteien gegen die gezielte Verarmungspolitik sind inhaltsleer und hilflos.«

Da in der Währungsunion Wechselkursänderungen nicht möglich sind, müssen die drakonischen Sparmaßnahmen der gegenwärtigen Rettungspolitik die notwendige Steigerung der Produktivität auf indirektem Wege erzwingen. Das geschieht, indem die schrumpfende Wirtschaft nicht wettbewerbsfähige Betriebe eliminiert. Dadurch erhöht sich zwar die durchschnittliche Produktivität des Unternehmenssektors – aber um den Preis stark ansteigender Arbeitslosigkeit. Geht man heute in ein griechisches Geschäft, um Dinge des täglichen Bedarfs zu kaufen, stammt dort selbst so Triviales wie ein Schreibblock oder Seife nicht aus griechischer Produktion, sondern wird importiert. Kurzum: Arbeitslosigkeit ist sowohl Programm als auch der unvermeidliche Preis der aktuellen Euro-Rettungspolitik. Die Deutsche Bundesbank bringt dies in ihrem Monatsbericht vom November 2012 unmissverständlich auf den Punkt: „Der Schrumpfungsprozess […] und die damit einhergehende Produktivitätserhöhung (stellen) für sich genommen eine notwendige und ökonomisch sinnvolle Korrektur dar“.

Die Rezepte der drei deutschen Oppositionsparteien gegen diese gezielte Verarmungspolitik sind inhaltsleer und hilflos: Mit durch öffentliche Gelder finanzierten „Aufbauprogrammen“ soll eine „soziale und ökologische Transformation mit dem Aufbau neuer Wertschöpfungsketten in den Leitmärkten der Zukunft“ geschaffen werden, so ein Grundsatzpapier der Grünen und der SPD. Auch die Linke avisiert „ein Zukunfts- und Investitionsprogramm für Südeuropa, um dem drohenden wirtschaftlichen Ruin entgegenzuwirken und […] die Massenarbeitslosigkeit dort zu beseitigen“. Finanziert werden soll dies durch eine „Finanztransaktionssteuer und eine europaweite Vermögensabgabe für Millionäre“.

Solche Wachstumsprogramme mögen kurzfristig Beschäftigung schaffen, werden aber langfristig an der hohen Arbeitslosigkeit nichts ändern. Sie steigern nicht die Produktivität in der Privatwirtschaft und damit die Wettbewerbsfähigkeit der Krisenländer. Auch die von der Opposition geforderte stärkere politische Integration Europas mit einer harmonisierten Wirtschafts-, Fiskal- und Sozialpolitik wird den Armen nicht helfen. Zum einen lehnt die Bevölkerung sowohl in den Krisenländern als auch in Deutschland mehr Macht für eine Europäische Zentralregierung eindeutig ab. Aber selbst wenn das Kunststück gelänge, ganz schnell und auch demokratisch legitimiert die Europäische Zentralregierung aus dem Hut zu zaubern, wären dann die strukturellen Probleme der Eurokrise gelöst? Mitnichten. Die Unterschiede in der Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit würden weiter bestehen, die sozialen Probleme zementiert.

»Die griechische Wirtschaft würde nach Einführung der Drachme und einem Schuldenschnitt sehr bald wieder wachsen.«

Vor der Forderung nach einer (temporären) Verkleinerung der Währungsunion, also beispielsweise dem Austritt Griechenlands, schrecken die Oppositionsparteien jedoch zurück. Dabei würde eine Rückkehr Griechenlands zur Drachme zuvorderst die Arbeitslosigkeit deutlich absenken: Anstatt die Nachfrage durch ständige Sparrunden weiter zu schwächen, würde diese in vollem Umfang auf die nunmehr relativ billigeren Güter der inländischen Industrie umgelenkt. Und mit einer gegenüber dem Euro abgewerteten Drachme könnten sich die meisten inländischen Unternehmen – durch den Wechselkurs vor ausländischer Konkurrenz geschützt – im Markt behaupten. Privates Investitionskapital würde wieder ins Land strömen und die Produktivität der Wirtschaft ansteigen.

Natürlich müssten die noch ausstehenden privaten und öffentlichen Forderungen des Auslandes abgeschrieben und die griechischen Banken gestützt werden. Bis zu 90 Mrd. Euro könnten auf Deutschland zukommen, hat das IFO Institut errechnet. Allerdings ist dieses Geld ohnehin weg. Doch die griechische Wirtschaft, die jetzt im Sinkflug ist, würde – das zeigen die Erfahrungen in anderen Ländern – nach einem Schuldenschnitt sehr bald wieder wachsen.

Das vermeintlich sozial motivierte Argument, mit der Wiedereinführung der Drachme ginge es der griechischen Bevölkerung noch schlechter – zum Beispiel wegen der dann drastisch höheren Energiekosten – trägt nicht. Denn der gegenwärtige Lebensstandard ist eine mit einem stetig wachsenden Schuldenberg finanzierte Wohlstandsillusion. Und muss nicht auch eine substantielle Verringerung der Jugendarbeitslosigkeit von derzeit um die 50 Prozent als Vorteil dem Nachteil einer Belastung durch eine Währungsabwertung gegenübergestellt werden? Die jetzt sinnlos verpulverten Rettungsgelder könnten außerdem viel besser für gezielte Übergangshilfen eingesetzt werden, beispielsweise um die abwertungsbedingte Verteuerung der Energiekosten abzumildern.

»Die Opposition ist Gefangene ihres eigenen Opportunismus und ihres ideologischen Korsetts.«

Mit dem unbedingten Bekenntnis zur Währungsunion in bestehendem Umfang nehmen die Oppositionsparteien das soziale Desaster in den Schuldnerstaaten bewusst hin. Mit fundierten Argumenten gegen eine Verkleinerung der Währungsunion können sie jedoch nicht aufwarten. Die Opposition ist Gefangene ihres eigenen Opportunismus und ihres ideologischen Korsetts.

Mehr als andere sehen die linken Parteien die Krise des Euro als Chance, den Traum von einer Europäischen Supermacht zu verwirklichen. Implizit ist diese Hoffnung mit der widersinnigen Merkel-Doktrin deckungsgleich, dass mit einem Scheitern des Euro – und damit ist bereits eine Verkleinerung der Währungsunion gemeint – ein Scheitern Europas verbunden sei. Elmar Altvater drückt aus, was viele Linke denken: Mit dem Erhalt der Währungsunion gehe es „um die Bändigung des entfesselten Kapitalismus, um die Regulierung von Finanzmärkten, um sozial gesicherte Arbeitsplätze und um die Wende zu erneuerbaren Energien“. Diese Millenniumsaufgaben ließen sich „besser im großen Maßstab eines vereinigten Europa bewältigen als in einem durch den Spaltpilz der Finanzkrise getrennten und vermutlich zerrütteten Europa.“

Wer aber garantiert denn, dass ein großes, wegen interner Währungskrisen zunehmend zerrissenes Europa diese Erwartung besser erfüllen kann als ein Europa mit einer kleineren Währungsunion, aber dafür politisch geeint? Wird hier für ein bloßes Idealbild die Verarmung breiter Bevölkerungsschichten in Kauf genommen?

Auch die These, eine Verkleinerung der Währungsunion würde – wegen der dann zu erwartenden Aufwertung des Euro – der Exportnation Deutschland schaden, ist nicht stichhaltig. „Vor allem zu selten und zu leise wird gesagt, dass Deutschland in sehr hohem Maße von Europa profitiert, dass der Titel ‚Exportweltmeister’ – den wir von 2003 bis 2008 innehatten – ohne die gemeinsame Währung wahrscheinlich schon früher an das aufstrebende China gegangen wäre“, so die Fraktion der Grünen.

Dieses Argument mag gut ankommen. Wahr ist vor allem etwas anderes: Es ist gerade die Exportdominanz Deutschlands, die ursächlich für die Eurokrise ist. Deutschland exportiert die Hälfte seiner Wirtschaftsleistung, davon gehen 40 Prozent in die Euroländer. Die eiserne Lohnzurückhaltung in der deutschen Wirtschaft hat den Eurokurs in der Vergangenheit nach oben getrieben, zum Nachteil der Krisenländer, die sich nicht mit einer Abwertung dagegen wehren konnten. Die Folge: eine wachsende Auslandsverschuldung der Krisenländer.

Schließlich warnen die Oppositionsparteien vor den unkalkulierbaren „Ansteckungsgefahren“ eines Austritts Griechenlands – wie zum Beispiel verstärkte Kapitalflucht. Dieses Argument ist vollends rätselhaft, halten doch sogar Ex-Eurogruppen-Chef Jean-Claude Juncker und der Bundesverband der deutschen Banken einen Austritt Griechenlands für beherrschbar. Und befremdlich ist obendrein, dass gerade globalisierungskritische Parteien derartige Effekte als unabänderlich hinnehmen.

»Wo, wenn nicht in der Europapolitik, steht tatsächlich die soziale Gerechtigkeit und ein würdiges Leben von Millionen von Menschen auf dem Spiel?«

Letztlich haben die Oppositionsparteien nicht den politischen Mut, einen Austritt Griechenlands zu unterstützen – verbunden mit einer geordneten Staatsinsolvenz, die Griechenland endlich von seiner niemals abzahlbaren Schuldenlast befreien würde. Zu offensichtlich würde, wie viel Geld in der Eurorettungspolitik schon verbrannt wurde, durch eine Politik also, die die Opposition zum großen Teil mitgetragen hat.

Die Oppositionsparteien – allen voran die SPD – haben beschlossen, im Wahlkampf auf das Thema „soziale Gerechtigkeit“ zu setzen, weil sie nicht daran glauben, in der Europapolitik gegen Angela Merkel punkten zu können. Das ist eine Verhöhnung der eigenen Wähler, die sich nirgends so wie in der Europapolitik allein und ratlos zurückgelassen fühlen. Und es ist ein Verrat an den eigenen Idealen. Denn wo, wenn nicht in der Europapolitik, steht tatsächlich die soziale Gerechtigkeit und ein würdiges Leben von Millionen von Menschen auf dem Spiel?

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