Ausgabe Januar 2021

Äthiopien vor dem Zusammenbruch?

Der äthiopische Premierminister Abiy Ahmed nimmt am 10. September 2020 an einer Veranstaltung in Addis Abeba, der Hauptstadt von Äthiopien, gefeiert wird (imago images / Xinhua)

Bild: Der äthiopische Premierminister Abiy Ahmed nimmt am 10. September 2020 an einer Veranstaltung in Addis Abeba, der Hauptstadt von Äthiopien, gefeiert wird (imago images / Xinhua)

Seit Anfang November herrscht in Äthiopien Krieg zwischen der staatlichen Armee und der „Volksbefreiungsfront von Tigray“, kurz TPLF, die die gleichnamige Region im Norden des Landes regiert. Zwar erklärte die äthiopische Regierung Ende November ihre Militäroffensive für siegreich beendet, aber die TPLF, die sich zwar aus der Regionalhauptstadt Mekelle zurückgezogen hat, sagt, die Kämpfe gingen weiter.

Zu überprüfen sind Information aus Tigray derzeit kaum, da die Regierung zwischenzeitlich Internet- und Telefonverbindungen blockierte. Unstrittig aber ist: Der äthiopische Premierminister und Friedensnobelpreisträger Abiy Ahmed lehnt den Dialog mit der TPLF weiterhin kategorisch ab. Und politische Beobachter gehen davon aus, dass die TPLF ihren Widerstand gegen die Armee fortsetzen wird. Sicher ist auch: Die Kämpfe im Norden Äthiopiens haben eine veritable Flüchtlingskrise ausgelöst; mehr als 40 000 Menschen sind bereits in den benachbarten Sudan geflohen. Und entgegen der Behauptung der Regierung, Zivilisten seien nicht zum Ziel ihrer Offensive geworden, berichten Flüchtlinge im Sudan von toten Zivilisten und Menschenrechtsverletzungen beider Seiten.

Was die schon lange schwelende Krise zuletzt befeuerte und letztlich zum offenen Krieg führte, waren die Regionalwahlen, die die TPLF Anfang September in Tigray organisierte – ohne Zustimmung der Zentralregierung in Addis Abeba, welche die TPLF nicht länger als legitim anerkennt. Denn eigentlich hätten im August 2020 landesweit Parlamentswahlen stattfinden sollen. Das neue Parlament hätte anschließend einen neuen Premierminister bestimmt. Aufgrund der Corona-Pandemie wurde die Wahl jedoch verschoben und wird nun voraussichtlich im Mai oder Juni 2021 stattfinden. Das aber verschärft die demokratische Legitimationskrise, in der sich Abiys Regierung befindet – ein gravierendes Problem angesichts der ambitionierten Reformen, die er sich vorgenommen hat.

Die Parlamentswahl und anschließend die erhoffte Bestätigung Abiys durch das neue Parlament wären vor allem deshalb wichtig gewesen, weil dieser sein Amt inmitten einer laufenden Legislaturperiode übernommen hatte: Sein Vorgänger, Hailemariam Desalegn, gab im Februar 2018 überraschend seinen Rücktritt bekannt und gab damit den jahrelangen Protesten nach, die vor allem von der größten äthiopischen Volksgruppe, den Oromo, getragen wurden. Abiy übernahm als erster Oromo das Amt des Regierungschefs und galt zunächst als Hoffnungsträger vor allem seiner Volksgruppe, die etwa ein Drittel der Bevölkerung stellt. Doch er wurde auch deshalb zum Hoffnungsträger, weil Äthiopien unter seinen Vorgängern zwar formal eine Demokratie gewesen war, diese aber sehr repressiv gegen Kritiker vorgegangen waren. Abiy schlug einen anderen Ton an und versprach weitreichende Reformen.

Tatsächlich hat in Äthiopien kaum jemand in so kurzer Zeit so viele politische Veränderungen bewirkt wie Abiy. Seit der 44jährige am 2. April 2018 zum Ministerpräsidenten des Vielvölkerstaates im Osten Afrikas mit seinen gut 110 Millionen Einwohnern ernannt wurde, hat er den lange geltenden Ausnahmezustand aufgehoben, bis dahin verbotene Medien und Parteien erlaubt, freie Wahlen angekündigt und tausende politische Gefangene freigelassen, ist gegen Korruption vorgegangen und hat den Einfluss von Frauen in Politik und Gesellschaft erhöht. Im Oktober 2019 reduzierte er die damals 28 Kabinettsposten um ein knappes Drittel; die Hälfte der Regierungsmitglieder sind heute Frauen. Außerdem berief Abiy nicht nur Mitglieder der größeren und einflussreicheren unter den rund 80 Ethnien, also etwa der Oromo, Amhara oder Tigrayer, in sein Kabinett, sondern auch der kleineren und politisch meist vernachlässigten Volksgruppen. So gehört die Verteidigungsministerin Aisha Mohammed zum Volk der Afar, Finanzminister Ahmed Shide ist Somali.

Abiy Ahmed: Vom Hoffnungsträger zum Kriegsherrn

Im Juli 2018 schloss Abiy zudem einen Friedensvertrag mit dem benachbarten Eritrea. Das Abkommen beendete einen jahrzehntelangen Grenzkonflikt, dem zwischen 1998 und 2000 Schätzungen zufolge 100 000 Menschen zum Opfer fielen. Im September 2018 wurde die lange geschlossene Grenze geöffnet, manche Familienmitglieder lagen sich zum ersten Mal nach zwanzig Jahren wieder in den Armen. Viele bejubelten die Versöhnung – ein Jahr später wurde Abiy Ahmed dafür sogar mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Doch der Kurs des neuen äthiopischen Regierungschefs stieß schon damals nicht überall auf Zustimmung, mehr noch: Der Friedensschluss bildet einen der Grundsteine für den aktuellen Konflikt mit der TPLF. Denn diese fühlte sich nicht nur durch Abiy von der Macht verdrängt, die sie jahrzehntelang in Äthiopien im Rahmen der Parteienkoalition EPRDF (Revolutionäre Demokratische Front Äthiopischer Völker) innehatte. Der neue Ministerpräsident hatte die TPLF auch komplett außen vor gelassen, als er sich 2018 zum Frieden mit deren langjährigem Erzfeind Eritrea entschloss.

Die TPLF ist davon überzeugt, dass der eritreische Präsident Isaias Afeworki in ihrem Konflikt mit der äthiopischen Zentralregierung die Strippen zieht, mehrfach feuerte sie deshalb Raketen auf die eritreische Hauptstadt Asmara. Diese Sicht kommt auch in einer Karikatur zum Ausdruck, die in diesen Tagen auf Twitter kursiert: Sie zeigt Afeworki, wie er mit einer Marionette spielt: Abiy Ahmed. Dem sind die unterschiedlichen äthiopischen Regionen auf den Leib geschrieben. Den linken Unterschenkel schlägt er sich gerade ab, darauf steht „Tigray“. Isaias Afeworki, der Marionettenspieler, lächelt dazu diabolisch-zufrieden.

Der norwegische Friedens- und Konfliktforscher Kjetil Tronvoll geht davon aus, dass die eritreische Reaktion auf die Angriffe nicht lange auf sich warten lassen wird. Die Regierung verlege bereits Truppen an die Grenze zu Tigray, das zugleich die Landesgrenze zwischen Äthiopien und Eritrea ist. Gerüstet ist der kleine Nachbar Äthiopiens ohnehin: In Eritrea sind alle Männer und Frauen bis zum Alter von 50 Jahren wehrpflichtig. Als Grund dafür gelten die jahrzehntelangen Konflikte mit dem benachbarten Äthiopien, die in dem Grenzkrieg Ende der 1990er Jahre ihren vorläufigen Höhepunkt fanden. In Eritrea war schon damals der jetzige Präsident Isaias Afeworki an der Macht. In Äthiopien herrschte formal eine Koalitionsregierung, faktisch aber hatte die TPLF alle wichtigen Posten in Armee und Regierung inne.

Der Konflikt entwickelte sich schnell zu einem der blutigsten Kriege auf dem afrikanischen Kontinent. Im Mai 2000 nahm Äthiopien die umstrittenen Gebiete vollständig ein, im Dezember des gleichen Jahres unterzeichneten die Kriegsparteien einen Friedensvertrag. Eine internationale Grenzkommission schlug die umkämpften Gebiete später jedoch Eritrea zu, was Äthiopien wiederum nicht anerkannte. Trotz des Friedensvertrages standen sich die beiden Länder weiterhin feindlich und hochgerüstet gegenüber, an der Grenze lieferten sie sich immer wieder Gefechte. Das änderte sich erst mit Abiy Ahmeds Friedensinitiative im Jahr 2018.

Aber weder die TPLF noch der eritreische Präsident Afeworki seien damals zur Versöhnung bereit gewesen, meint Tronvoll. Zu Abiy dagegen unterhält Afeworki seither freundschaftliche Beziehungen. „Afeworki wollte sich seit dem Krieg von 1998 bis 2000 an der TPLF rächen“, sagt Tronvoll. „Als Abiy in Äthiopien die Macht übernahm, gewann er in ihm plötzlich einen Vertrauten und Partner.“ Abiy wiederum brauche die Unterstützung von Afeworki, um die TPLF in Äthiopien weiter zu schwächen: „Sie haben das gemeinsame Ziel, die TPLF auszuschalten.“

Konfliktträchtige Zentralisierung

Mit Abiys Amtsantritt begannen die Konflikte zwischen der Zentralregierung und der TPLF, die bis dahin die politisch stärkste Kraft innerhalb der regierenden Parteienkoalition EPRDF war. Seit 1991 hatte die TPLF den Regierungschef gestellt und die Macht im Vielvölkerstaat monopolisiert – obwohl Tigray nur sechs Prozent der äthiopischen Bevölkerung ausmachen. Aber nicht nur die Spannungen mit Tigray wuchsen, in immer mehr Regionen eskalierten ethnische Konflikte, und Abiys Rückhalt schrumpfte. Auch große Teile der Oromo gehen mittlerweile gegen ihren einstigen Hoffnungsträger auf die Straße. Denn zu Abiys Reformagenda gehört, dass er den äthiopischen Staat stärker zentralisieren will. Äthiopien soll seiner Vorstellung nach zwar ein Föderalstaat bleiben, aber die Volksgruppen sollen darin eine immer kleinere Rolle spielen. Die Oromo- und Tigrinya-Aktivisten sowie Aktivisten anderer Volksgruppen wollen dagegen mehr Autonomie und mehr Rechte als bisher. Dennoch wagte es Abiy am 1. Dezember 2019 sogar, die bis dahin größte politische Parteienkoalition Afrikas, die regierende EPRDF, aufzulösen und damit auch die Macht der TPLF weiter zu schwächen. Sie bestand aus Parteien der Tigray, Amhara, Oroma und südäthiopischer Völker. An ihre Stelle setzte er die „Wohlstandspartei“ (PP). Er wolle so helfen, den ethnischen Nationalismus zu überwinden, erklärte Abiy, denn in der PP werden die Mitglieder nicht mehr nach ihrer ethnischen Zugehörigkeit unterschieden. Dass die EPRDF jemals Geschichte sein würde, hatte bis dahin kaum jemand für möglich gehalten. Und so bringt der Kampf um die Machtverteilung im zu reformierenden Staat nicht nur Regionen und Zentralregierung, sondern auch einige Volksgruppen gegeneinander auf.

Äthiopien aber droht unter der Last dieser Konflikte zu zerbrechen. Vielerorts eskalieren die Spannungen, hunderttausende Menschen wurden vertrieben. Bereits im Jahr 2018 ergriffen innerhalb weniger Monate etwa 1,5 Millionen Menschen die Flucht vor der Gewalt, die meisten innerhalb der Landesgrenzen – mehr als in jedem anderen Land der Welt in diesem Jahr. Mit insgesamt etwa drei Millionen Binnenflüchtlingen gehörte Äthiopien laut UN-Angaben damit zu den fünf Ländern weltweit, in denen die meisten Binnenvertriebenen leben. Seither halten die Fluchtbewegungen an, wenngleich einige Menschen nach Hause zurückkehren konnten. Hinzu kommt, dass aufgrund der Pandemie und ihren wirtschaftlichen Folgen die Zahl derjenigen, die auf humanitäre Hilfe angewiesen sind, laut den Vereinten Nationen von sieben Millionen Anfang 2020 auf 16,5 Millionen Mitte August drastisch gestiegen ist.

Dass viele Konflikte erst seit der Machtübernahme Abiys eskalieren, ist allerdings nicht allein sein Versagen: Etliche schwelen seit Jahren und wurden nie austragen, denn das autoritäre Regime, das Abiy vorausging, hat jede Diskussion oder Auseinandersetzung um die Machtverteilung mit brutaler Gewalt unterdrückt. Jetzt brechen alte Konflikte umso heftiger auf, als es nicht nur um ethnische Befindlichkeiten geht, sondern auch um konkrete und teils lebenswichtige Interessen, etwa um Landbesitz und um Entwicklungschancen.

Die Destabilisierung einer ganzen Region

Womöglich unter dem zunehmenden Druck der zahlreichen Krisen und Kritiker hat Abiy sein Vorgehen gegen Oppositionelle und Andersdenkende massiv verschärft. Schon im Januar klangen die jüngsten Nachrichten aus Äthiopien erschreckend vertraut: Laut Amnesty International wurden Ende Januar mindestens 75 Anhänger der „Oromo Liberation Front“ (OLF) verhaftet. Unter ihnen war die politische Aktivistin Chaltu Takele, die mit politischer Haft reichlich Erfahrung hat: Unter dem vorherigen äthiopischen Regime saß sie von 2008 bis 2016 im Gefängnis. Der Vorwurf: Sie sei Mitglied der OLF, die unter der damaligen Regierung als Terrororganisation eingestuft war, aber kurz nach Abiys Amtsantritt 2018 zugelassen wurde. Trotzdem geht die Regierung weiter gegen deren Anhänger und andere Oppositionelle vor.

Ab Februar 2019 nahmen äthiopische Polizisten und Soldaten gar Menschen fest, um sie in Lagern einem „Rehabilitierungstraining“ zu unterziehen. Laut Amnesty International wurden die meisten zwar zwischen September und November desselben Jahres wieder freigelassen. Aber die Festnahmen reißen nicht ab. Anfangs hatte Abiy verkündet, er werde auf weniger Gewalt und mehr Toleranz setzen, als das alte Regime. Doch seit einem Attentat auf ihn im Juni 2018 hat der Ministerpräsident seine Linie verschärft. Abiy baute den Sicherheitsapparat um, setzte Menschen aus seinem Einflussbereich ein. Auch das weckt Erinnerungen an Regime, zu deren Merkmalen die Demokratie nicht unbedingt gehört. Ende Juni 2019 folgte ein Putschversuch, angeführt von General Asaminew Tsige, einem amharischen Nationalisten. Vermutlich wollte er die historische Vorherrschaft der Amharen wiederherstellen. Auch das hat Abiys Griff nach dem Sicherheitsapparat weiter verstärkt.

Trotz aller bisherigen Widerstände ist Abiy mit seinem Umbau der äthiopischen Politik noch nicht am Ende. Wie tief seine demokratischen Überzeugungen verankert sind, muss sich allerdings erst noch erweisen. Fest steht indes schon jetzt: Die Spannungen in Äthiopien bedrohen nicht nur die Stabilität im Land selbst, sondern die der gesamten Region.

Viele Länder befinden sich hier ohnehin in einer Krise: Der Sudan ist nach den Massenprotesten und dem Regierungswechsel von 2019 noch immer in einer Übergangsphase. Im benachbarten Somalia sieht sich die Zentralregierung weiterhin mit den Anschlägen der terroristischen Shabaab-Miliz konfrontiert. Äthiopien spielt dort militärisch eine wichtige Rolle: Es stellt nicht nur rund 4000 Soldaten der 19 000köpfigen Militärmission der Afrikanischen Union namens AMISOM, sondern hat auch ein paar tausend weitere Militärs unter eigenem Kommando im Land stationiert. Von denen soll es im Zusammenhang mit der Tigray-Krise nun 3000 wieder abgezogen haben. Das nördliche Nachbarland Eritrea schließlich ist ohnehin in den aktuellen Konflikt involviert. Gelingt es nicht, diesen in absehbarer Zeit beizulegen, könnte das auch die Nachbarländer noch tiefer in die Krise stürzen – angesichts der verfahrenen Lage in Tigray ein durchaus realistisches Szenario.

Aktuelle Ausgabe September 2025

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