Die syrische Diaspora in Deutschland als neue gesellschaftliche Kraft

Bild: Syrer und Ukrainer protestieren vor dem Bundeskanzleramt gegen den Besuch des russischen Präsidenten Wladimir Putin und fordern Frieden in ihren Ländern – Berlin, Oktober 2016 (IMAGO / Future Image)
Im März 2011 begann in der Stadt Daraa im Süden Syriens eine Revolution. Die Videos von Syrer*innen, die zu Hunderttausenden friedlich demonstrierten, sind in unserem kollektiven Gedächtnis jedoch längst überdeckt von Bildern bombardierter Wohnviertel, zu Tode gefolterter Gefangener, radikaler Milizen und elender Geflüchtetenlager. Zehn Jahre dauert der Krieg in Syrien nun schon, und ein Ende der Diktatur ist nicht in Sicht. Präsident Baschar al-Assad wird sich im Mai „wiederwählen“ lassen, seine zu Loyalität gezwungenen Untertanen leiden Hunger, hier und da regt sich Kritik, die aber im Keim erstickt wird. In Idlib harren Millionen in improvisierten Zeltstädten aus; in den von Ankara kontrollierten Regionen entlang der Grenze schreitet die türkische Kolonialisierung voran und weiter östlich fürchten Syriens Kurd*innen in ihrem autonom verwalteten Gebiet Rojava die nicht abreißenden Angriffe der Türkei und der mit ihr verbündeten Syrischen Nationalen Armee. Für Millionen Syrer*innen im Exil bedeutet all das, dass sie bis auf Weiteres nicht in ihre Heimat zurückkehren können.
Russland bemüht sich international um die Rehabilitierung des syrischen Regimes, die neue US-Regierung arbeitet an einem diplomatischen Comeback – und die Europäer? Die haben wegen fehlender Handlungsoptionen längst einen Politikwechsel eingeleitet: von der „Syria policy“ zur „Syrians policy“. Eine neue „Politik für Syrer“, die vor allem den Exil-Syrer*innen zugutekommt, soll die bisherige „Syrien-Politik“, in der das Land im Fokus steht, ablösen.
Der Sinneswandel ist aus der Not geboren. Europa hat aufgrund seiner Strategielosigkeit und Uneinigkeit außer Geld für den Wiederaufbau nichts anzubieten und verfügt über entsprechend wenig Einfluss in dem Konflikt. Und wer in Syrien nichts bewirken kann, konzentriert sich auf die Auslandssyrer*innen – das ist angesichts von mehr als einer Million Syrer*innen in Europa naheliegend und dient nebenbei innenpolitischen Zielen wie Integration und Sicherheit. Hinzu kommt die Bedeutung der Diaspora für eine zukünftige Neuordnung des Landes. Diese ist zwar nicht absehbar, aber keine Diktatur, auch nicht die des Assad-Clans, währt ewig.
Tatsächlich könnte die syrische Diaspora und speziell ihr politisch aktiver Teil mittelfristig eine wichtige Rolle für einen demokratischen Umbau der syrischen Gesellschaft spielen. Denn sie hat Gewicht – intellektuell, finanziell und demographisch. Inzwischen leben mehr Syrer*innen im Exil als innerhalb des Landes. Etwa 18 Millionen haben ihre Heimat im Laufe des 20. Jahrhunderts verlassen, schätzt die Arab Reform Initiative, ein unabhängiges Netzwerk von arabischen Forschungsinstituten mit Sitz in Paris. Hinzu kommen die sechs Millionen, die seit 2011 geflohen sind. Es leben also 24 Millionen Syrer*innen im Ausland gegenüber einer Inlandsbevölkerung von 16 Millionen.
Die Wissenschaft unterscheidet dabei zwischen alter und neuer Diaspora. Während sich die neue aus Syrer*innen entwickelt, die vor dem anhaltenden Krieg geflüchtet sind, besteht die alte Diaspora überwiegend aus Akademiker*innen und Geschäftsleuten, die sich überall auf der Welt etabliert haben. Vor allem in Nord- und Südamerika sowie in Europa sind große syrische Gemeinden entstanden, deren Mitglieder meist gut ausgebildet, wirtschaftlich erfolgreich und eng vernetzt sind.
Die Revolution und der darauffolgende Krieg waren für diese Auslandssyrer*innen Anlass, politisch Position zu ergreifen und Hilfe zu organisieren. Bis heute leisten Exilverbände einen wichtigen Beitrag zur humanitären Versorgung ihrer Landsleute in Syrien und den Nachbarländern – vor allem im Gesundheits- und Bildungsbereich. Persönliche Verbindungen und Kontakte vor Ort ermöglichen eine Unterstützung auch dann, wenn ausländische Hilfsorganisationen keinen Zugang mehr finden. Auf diese Weise avancierten syrische Nichtregierungsorganisationen zu wichtigen Partnern der internationalen Gebergemeinschaft. Dutzende NGOs decken sämtliche Aspekte des zivilen Engagements ab – von der medizinischen Versorgung bis zum Aufbau von Schulen, von der Lebensmittelhilfe und der Einrichtung von Notunterkünften bis zu gesellschaftspolitischer Arbeit im Bereich Menschenrechte, Frauenförderung, Demokratie und Medien. Kein Konflikt zuvor hat eine so große und professionelle NGO-Szene hervorgebracht wie der syrische.
Deutschland als Chance
Aber wer genau sind diese aktiven Syrer*innen? Was treibt sie an, womit kämpfen sie und welches Selbstverständnis haben sie? Wollen sie die Lage in Syrien beeinflussen oder in ihren Aufnahmeländern wirken? Und vor allem: Welche politische Relevanz können sie entfalten?
Diesen Fragen nachzugehen lohnt sich besonders in Deutschland, denn hier hat sich innerhalb Europas die größte syrische Exilgemeinde herausgebildet. Den Zahlen des Ausländerzentralregisters und des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zufolge leben mehr als 832 000 Syrer*innen in der Bundesrepublik. Sie stellen nach Menschen aus der Türkei (1,4 Millionen) und Polen (863 000) die drittgrößte Migrantengruppe – Tendenz steigend, denn noch immer stammen die meisten Asylantragsteller*innen aus Syrien, im Februar waren es 3085 Personen. Hinzu kommen die Deutsch-Syrer*innen, also Deutsche mit syrischer Migrationsgeschichte. Da man die syrische Staatsangehörigkeit nicht abgeben kann – einmal Syrer*in, immer Syrer*in – sind eingebürgerte Syrer*innen oder in Deutschland geborene Kinder syrischer Väter, die bei syrischen Behörden registriert wurden, stets Doppelstaatler*innen. In Deutschland gelten sie als Deutsche, in Syrien als Syrer*innen.
Vor zehn Jahren lebten nur 30 000 Syrer*innen in der Bundesrepublik – keine Minderheit wuchs in so kurzer Zeit so stark an. Dadurch ist die Gruppe sehr divers geworden. Waren es früher vor allem Studierende und Intellektuelle, die seit den 1970er Jahren aus Assads Syrien geflohen waren und sich hier als Ärzte und Ingenieure einen guten Ruf erarbeiteten, kamen im Zuge des Krieges auch viele Bewohner*innen ländlicher Gebiete, die meist weniger gebildet sind und traditioneller denken. Während die meisten von ihnen damit beschäftigt sind, hier Fuß zu fassen – Deutsch zu lernen, sich weiterzubilden, Arbeit und Wohnung zu finden –, ist eine bemerkenswerte Minderheit von Syrer*innen auch gesellschaftlich und politisch aktiv.
Die syrische Diaspora in Deutschland ist folglich kein einheitlicher Block, sondern besteht aus verschiedenen Gruppen und Initiativen, die vor allem sich selbst und unterschiedliche Interessen vertreten, bestimmte Ziele und Prinzipien aber teilen.
Seit 2011 haben Syrer*innen und Deutsch-Syrer*innen Dutzende Vereine und Initiativen gegründet. Einige bekämpfen das Regime, andere wollen mit Politik nichts zu tun haben und ihren Landsleuten nur humanitär helfen, wieder andere konzentrieren sich auf die Integration der Syrer*innen in Deutschland. Allen gemeinsam ist, dass sie Deutschland als Chance begreifen – als Ort, an dem sie nach fünfzig Jahren Diktatur lernen können, wie eine freie, demokratische Gesellschaft funktioniert und welche Möglichkeiten und Verpflichtungen damit für die Einzelnen einhergehen.
Generell sind die Syrer*innen der ersten und zweiten Generation, die seit langem in Deutschland leben und einen sicheren Aufenthalt oder die deutsche Staatsbürgerschaft haben, weniger politisch, sondern eher humanitär und gesellschaftlich engagiert. Vor 2011 waren sie kaum aktiv, erst durch die Revolution und den darauffolgenden Krieg entwickelten sie den Impuls, etwas für ihre Heimat und Landsleute tun zu wollen, und konzentrierten sich zunächst auf humanitäre Hilfe in Syrien und den Nachbarländern. Seit 2014 wirken sie auch in Deutschland, indem sie geflüchtete Syrer*innen beim Ankommen und bei der Integration unterstützen.
Die Aktivist*innen, die seit 2011 gekommen sind und bereits in Syrien zivilgesellschaftlich gearbeitet haben, erscheinen dagegen politisierter. Sie klären die deutsche Öffentlichkeit über den Konflikt, seine Ursachen und Folgen sowie die in Syrien begangenen Verbrechen auf, und sie starten politische Kampagnen zu Themen, die Deutschland und die hier lebenden Syrer*innen betreffen – etwa drohende Abschiebungen durch eine Neubewertung der Sicherheitslage in Syrien, Fragen zum rechtlichen Aufenthaltsstatus, Schwierigkeiten bei der Familienzusammenführung oder die Pflicht zur Passbesorgung bei der syrischen Botschaft. Viele dieser 25- bis 40jährigen Syrer*innen sind durch ihre Erfahrungen mit Verfolgung, Verhaftung, Folter und Flucht traumatisiert und leiden unter psychischen Problemen. Sie sind als Flüchtlinge nach der Genfer Konvention oder Asylberechtigte anerkannt. Wer ab 2016 gekommen ist, erhält allerdings oft nur subsidiären Schutz und hat dadurch einen ungesicherten Aufenthaltsstatus.
Dieses vielfältige Engagement findet zumeist getrennt voneinander statt. Die Gruppen haben untereinander kaum Kontakt, es gibt lokale Initiativen und Vereine, die zum Teil Ähnliches machen, aber wenig voneinander wissen und sich deshalb selten austauschen. Manche meiden sich sogar bewusst oder treten offen in Konflikt. In Dresden etwa gibt es mehrere syrische Vereine, die aufgrund ihrer politischen Haltung – die älteren unterhalten Kontakte zur syrischen Botschaft, die neuen werden von Regimegegner*innen angeführt – nicht kooperieren können.
Zersplitterte Diaspora – ein Spiegel der syrischen Realität
Die syrische Diaspora hat also keine einheitliche Identität, sondern ist zersplittert in viele Gruppen mit unterschiedlichem Selbstverständnis. Dieses speist sich aus drei Faktoren: der Position zum Assad-Regime, der ethnischen Zugehörigkeit und der Wahrnehmung und Beziehung zu den ausländischen Interventionsstaaten Türkei, Russland und Iran. Sunnitische Araber*innen zum Beispiel betrachten die Türkei tendenziell als Verbündeten und Unterstützer, während sie für Syriens Kurd*innen aufgrund ihrer Militärinterventionen in Nordsyrien ein Aggressor und eine anhaltende Bedrohung ist.
Die Gründe für diese Zersplitterung liegen im Falle der Syrer*innen auf der Hand: Seit der Staatsgründung 1930 ist es nicht gelungen, eine syrische Identität zu entwickeln, die sämtliche Bevölkerungsgruppen als gleichberechtigte Bürger*innen miteinschließen würde. Der Panarabismus der seit 1963 regierenden Baath-Partei und die Herrschaft der Assads seit 1970 haben jeden offenen Diskurs über ein gemeinsames Selbstverständnis verhindert. Was Syrer*innen bis heute zusammenhält, ist deshalb entweder ihr Nationalismus oder die eigene Konfession.
Je nachdem, ob ein Syrer Araber oder Kurde ist, ob er Sunnit, Christ, Alawit oder Druse ist, entstammt er einer bestimmten Lebensrealität, die von seiner Gemeinschaft geprägt ist. Andere Syrer*innen trifft er in der Schule, bei der Arbeit oder im Studium, aber das Miteinander bleibt oberflächlich, solange keine ehrliche Debatte über Vorurteile, Ängste und Erwartungen stattfindet. Unter dem Assad-Regime ist eine solche Diskussion unvorstellbar. Seit Jahrzehnten darf man in Syrien weder frei denken noch grundlegende Kritik äußern, gesellschaftliche Diskurse finden nicht statt. Ein politisches Bewusstsein ist wenig ausgeprägt, sich unabhängig vom Regime zu engagieren und zu organisieren, ist nicht vorgesehen, das Misstrauen gegenüber den anderen sitzt tief. Generationen von Syrer*innen sind zu Untertanen herangewachsen – von Angst gelähmt, zum Gehorsam gezwungen.
Dabei ist der Autoritarismus in Syrien nicht auf das politische System beschränkt, sondern durchdringt die gesamte Gesellschaft und bestimmt das Denken des Einzelnen. Es gilt das Recht des Stärkeren, wer Schwäche zeigt, hat verloren – das lernt jeder Syrer und jede Syrerin schon als Kind. Gleichberechtigte Beziehungen gibt es kaum, nicht unter Geschwistern, nicht zwischen Männern und Frauen, nicht in der Schule, nicht unter Kolleg*innen und schon gar nicht über Hierarchien hinweg. Darunter leidet auch die Arbeit im Exil. Sie ist oft von fehlender Kooperations- und Kompromissbereitschaft, von Eitelkeit, autoritären Sichtweisen und einer unprofessionellen Personifizierung geprägt; Einzelne dominieren das Engagement, personenunabhängige Strukturen entstehen nur langsam.
Hinzu kommt, dass der anhaltende Konflikt in der Heimat das Zusammenleben hier vergiftet, denn die Verbrechen gehen weiter und können nicht aufgearbeitet werden. Ohne ein Gefühl von Gerechtigkeit gibt es jedoch kaum Bereitschaft zur Aussöhnung. Bei vielen existiert ein Hass gegen Teile der syrischen Gesellschaft, die pauschal als feindlich wahrgenommen werden, vor allem im Internet. Mitunter nicht ohne Grund: Denn nach Deutschland sind Opfer und Täter gekommen – islamistische Kämpfer treffen auf Armeeangehörige, Oppositionelle auf Regimeanhänger*innen und frühere IS-Mitglieder. Ehemalige Geheimdienstmitarbeiter, die je nach Rang und Funktion die systematische Staatsfolter des Regimes billigten oder beförderten, begegnen früheren Gefangenen und Angehörigen von Verschwundenen – im besten Fall vor Gericht. So beim Al-Khatib-Prozess vor dem Oberlandesgericht Koblenz, wo einer der beiden Angeklagten, Eyad A., jüngst wegen Beihilfe zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt wurde und gegen den zweiten Angeklagten Anwar R. wegen Tötung von 58 Menschen und Folter in mindestens 4000 Fällen weiterverhandelt wird.
Eine gesellschaftliche Revolution als Voraussetzung für politischen Wandel
Die Realität in Syrien bringt also verschiedene syrische Netzwerke im Ausland hervor, die parallel existieren und kaum kooperieren. Deshalb lässt sich die Arbeit der syrischen Diaspora nicht ohne Berücksichtigung des anhaltenden Konflikts in und um Syrien denken und gestalten. Viele der seit langem in Europa lebenden Syrer*innen kommen inzwischen zu dem Schluss, dass eine gesellschaftliche Revolution die Voraussetzung für einen politischen Wandel in Syrien ist, weil sonst das Assad-Regime nur durch eine andere Diktatur ersetzt würde. Und Syrer*innen, die in den vergangenen Jahren die Kraft der Zivilgesellschaft erlebt haben, sind überzeugt, dass jede Veränderung auf der individuellen Ebene beginnen muss.
Entsprechend bemühen sich syrische Initiativen und Vereine darum, Fähigkeiten zu vermitteln, die für den Aufbau einer funktionierenden Zivilgesellschaft und das demokratische Miteinander grundlegend sind. In Workshops und politischen Salons wird geübt, sachlich und differenziert zu diskutieren, den anderen als gleichwertig zu betrachten und Konflikte gewaltfrei zu lösen. In Seminaren und bei Bildungsfahrten geht es darum, wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Deutschland funktionieren, wie föderale Strukturen auf Kommunal-, Landes- und Bundesebene aufgebaut sind und welche Möglichkeiten der Mitarbeit und Interessenvertretung es gibt. Und um die Selbstorganisation zu verbessern, finden Trainings und Coachings statt, die dabei helfen, gemeinsame Ziele zu definieren, effektiv zusammenzuarbeiten und Netzwerke zu bilden.
Zwei Akteure leisten dabei einen entscheidenden Beitrag: die unabhängige Initiative Adopt a Revolution und der Verband deutsch-syrischer Hilfsorganisationen (VDSH).
Über verschiedene Programme von Adopt a Revolution – „Talking about the Revolution“ und „Vernetzung im Exil“ – lernen sich seit Jahren Aktivist*innen aus ganz Deutschland kennen. Sie organisieren Veranstaltungen, planen gemeinsame Kampagnen – etwa die Kampagne #SyriaNotSafe, die im Zuge der innenpolitisch motivierten Abschiebedebatten darauf hinweist, dass Syrien nicht sicher ist – und gründen neue Gruppen. So haben sich junge Syrer*innen zu der Initiative Visions4Syria zusammengeschlossen, um voneinander zu lernen, neue Interessent*innen zu aktivieren und sich besser zu vernetzen. Sie wollen aus dem Exil daran arbeiten, die Zukunft eines freien, demokratischen Syriens mitzugestalten.
Der Verband deutsch-syrischer Hilfsorganisationen ist ein Zusammenschluss von zurzeit bundesweit 23 Vereinen. Ursprünglich engagierten sich im VDSH vor allem syrische Akademiker*innen der ersten und zweiten Generation, die humanitäre Hilfe in und um Syrien leisteten. Inzwischen ist der Verband vielfältiger, da jüngere Vereine, Frauenorganisationen und Jugendgruppen hinzugekommen sind, die sich auch mit politischer Arbeit in Deutschland sowie Themen der Integration beschäftigen.
Auf der Suche nach Ansprechpartner*innen in der syrischen Migrantengemeinde wenden sich Ministerien und politische Verantwortliche gerne an den VDSH. Allerdings ist es fraglich und innerhalb der syrischen Gemeinde umstritten, ob der VDSH die Funktion als (in)offizielle Vertretung der Exil-Syrer*innen in Deutschland einnehmen kann und sollte. Denn die syrische Gemeinschaft ist vielfältig, und der Verband selbst ist uneins in der Frage, wie man sich zur Lage in Syrien und zur Situation der Syrer*innen in Deutschland äußern sollte – „politisch klar Stellung beziehen“ oder „so neutral wie möglich“. Doch auch ohne eine übergeordnete Repräsentanz haben die Syrer*innen in den vergangenen Jahren immer besseren Zugang zu deutschen Institutionen, Behörden und Organisationen gefunden. Für die medizinische Grundversorgung innerhalb Syriens oder die Ausbildung von Psycholog*innen im syrisch-türkischen Grenzgebiet bekommen die Vereine Unterstützung vom Auswärtigen Amt und von der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ). Bildungsreisen nach Berlin oder Seminare zu europäischen Geschichtsthemen wie Aufklärung und Reformation werden von der Bundeszentrale für politische Bildung oder von Parteistiftungen gefördert. Und während Selbstorganisation, juristische Beratung und die Stärkung geflüchteter Frauen von Wohlfahrtsverbänden wie der Arbeiterwohlfahrt, der Caritas und der Diakonie begleitet werden, finanziert das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Bildungspatenschaften für Jugendliche ab 14 Jahren.
Staatliche Stellen haben ein grundsätzliches Interesse daran, syrische Organisationen als Partner zu gewinnen – schließlich erhalten sie dadurch einen direkten Draht in die Community. Allerdings geht es ihnen dabei nur um die Bereiche Integration und humanitäre Hilfe vor Ort. Stehen hingegen spezifische eigene Anliegen der syrischen Gemeinschaft im Vordergrund – der innersyrische Dialog, Fragen der Identität, politische Kampagnen –, finden Aktivist*innen kaum Unterstützung und stoßen oft auf wenig Interesse, auch in der deutschen Zivilgesellschaft. Genau dieses Engagement aber ist enorm wichtig, denn es stärkt die demokratische Teilhabe der Syrer*innen in Deutschland und damit mittelfristig auch jene Kräfte, die zu einem politischen Wandel in Syrien beitragen könnten.
Um dies zu ändern, müssten sich Behörden und Organisationen strukturell verändern – sie sollten sich noch stärker als bisher für Menschen mit Migrationserfahrung öffnen, diese gezielt anwerben und einstellen, um mehr Verständnis für die Belange von Diaspora-Gruppen zu generieren.[1]
Das demokratische Potential der Diaspora-Gruppen
Auch wenn es nur eine kleine Gruppe von Syrer*innen ist, die sich engagiert, spielt ihre Arbeit eine wichtige Rolle, denn sie beeinflusst – direkt oder indirekt – die syrische Gemeinschaft in Deutschland insgesamt. Welche Wirkung die einzelnen Vereine und Initiativen erzielen, hängt dabei auch von der Frage ab, wen sie mit welchem Anliegen erreichen wollen. Wendet man sich an alle Syrer*innen, also auch an jene, die gedanklich noch in Syrien leben und versuchen, ihre Traditionen und Werte möglichst vollständig hier weiter zu pflegen, und wenig Bereitschaft zeigen, eigene Überzeugungen zu hinterfragen? Oder will man sich eher auf eine Elite von gebildeten und schnell integrierten Syrer*innen sowie nachfolgende Generationen als Motoren von Veränderung konzentrieren?
Beide Ansätze sind vertreten, und zwischen den beiden Extremen finden sich hunderttausende Syrer*innen, die mit sich und ihrer Vergangenheit ringen und sich um eine bessere Zukunft bemühen – in welcher Form auch immer. Bei Themen, die den Alltag in Deutschland betreffen – Behördengänge, Deutschkurse, Schule, Ausbildung, Arbeitsmarkt, Rolle der Frau oder Pluralismus – versuchen Vereine, möglichst jede und jeden anzusprechen. Mit Projekten zur politischen Bildung und Debatten über die Ausgestaltung eines zukünftigen Syriens erreichen syrische Organisationen dagegen nur jene, die sich dafür interessieren. Dies sind zahlenmäßig nur wenige Geflüchtete, wie Aktivist*innen immer wieder frustriert feststellen.
Viele von ihnen beschäftigt daher die Frage, wie man mehr syrische Menschen zu gesellschaftlichem Engagement bewegen oder wie man wenigstens ihr Interesse für grundlegende Themen, die sie betreffen, wecken kann. Zentral ist dabei der Einstieg über Inhalte, die Syrer*innen am Herzen liegen – etwa die Bildung ihrer Kinder oder das Schicksal inhaftierter Verwandter. Manch ein Verein, der am Wochenende Arabischunterricht für Schüler*innen anbietet, organisiert gleichzeitig Workshops zu Erziehungsfragen für die Eltern und weckt so mit der Zeit ihr Interesse für andere Themen.
Fest steht: Durch das Engagement, mit dem Vereine und Initiativen hier lebenden Syrer*innen die Funktionsweisen einer parlamentarischen Demokratie, einer unabhängigen Justiz und einer föderalen Ordnung nahebringen sowie Partizipationsmöglichkeiten aufzeigen, entsteht auf Dauer der notwendige Zusammenhalt innerhalb der extrem zersplitterten Diaspora und das Gefühl, langfristig auch für Syrien etwas zu bewirken.
Es sind die Syrer*innen selbst, die Brücken bauen. Zwischen der deutschen Gesellschaft und den neu Hinzugezogenen, zwischen offiziellen Stellen und der syrischen Gemeinschaft, zögerlich und unter großen Schwierigkeiten auch untereinander. Sie dabei zu unterstützen, lohnt sich in zweifacher Hinsicht: zum einen mit Blick auf Syrien, da in Deutschland aktive Syrer*innen irgendwann zu gesellschaftlichen Veränderungen in ihrer Heimat und zu einem demokratischen Umbau des syrischen Staates beitragen könnten. Zum anderen für Deutschland, weil die drittgrößte Gruppe Zugezogener dadurch schneller ein Gefühl von Zugehörigkeit entwickelt. In den nächsten acht bis zehn Jahren könnten mehrere hunderttausend Syrer*innen deutsche Staatsbürger*innen werden, je schneller sie am politischen und gesellschaftlichen Leben teilhaben, desto besser. Es ist deshalb höchste Zeit, die Syrer*innen nicht mehr als hilfsbedürftige Opfer, integrationsunwillige Geflüchtete oder bedrohliche Täter zu sehen, sondern ihr Potential als aktive Bewohner*innen dieses Landes freizusetzen.
[1] Vgl. dazu auch Mark Terkessidis, Mit Interkultur gegen Rassismus, in: „Blätter“, 2/2012, S. 63-71.