Ausgabe Oktober 2021

Von Tbc bis Corona: Afrika, das ewige Pandemie-Opfer

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Zu Beginn der Pandemie beschworen auch im globalen Norden Staats- und Regierungschefs die Solidarität, die sie im weltweiten Kampf gegen das Coronavirus walten lassen wollten. Heute aber ist davon kaum noch etwas zu spüren. Wie es um die globale Impfgerechtigkeit steht, lässt sich auch in Zahlen ausdrücken. Im Juni 2021 schickte das globale Impfprogramm Covax, dessen erklärtes Ziel die gerechte Versorgung der Welt mit Impfstoffen gegen Covid-19 ist, 530 000 Dosen dieser Vakzine ins Vereinigte Königreich. Das Land ist eine der sieben reichsten Industrienationen mit eigener Impfstoff-Produktion, und zum Zeitpunkt der Lieferung war mehr als die Hälfte der 66,6 Millionen Britinnen und Briten bereits doppelt geimpft. Afrika hingegen, ein Kontinent mit 55 Staaten und mehr als 1,2 Milliarden Bewohnern, von denen im Juni gerade einmal knapp zwei Prozent gegen Covid-19 geimpft waren, erhielt im gleichen Zeitraum nicht einmal halb so viele Dosen. Kein Wunder also, dass der Chef der unter anderem von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ins Leben gerufenen Anti-Covid-Allianz ACT-Accelerator, Bruce Alyward, eine zynische Bilanz zieht: „Wenn wir absichtlich versucht hätten, Teile der Welt von Impfstoffen auszuschließen: Hätten wir es schlimmer machen können als es heute ist?“[1] Die ehrliche Antwort lautet: Wohl kaum.

Und so sind die ärmsten Länder der Welt, von denen 33 in Afrika liegen, wieder einmal Opfer einer Pandemie. Die Mittel, mit denen sie sich von Covid-19 befreien könnten, werden ihnen verwehrt. Die Rollen scheinen dabei global unumstößlich verteilt: Während die reichen Länder sich von einer weiteren Geißel befreien, müssen die Armen – voraussichtlich auf Dauer – mit ihr leben.

So war es bei Tuberkulose (Tbc), bei HIV/AIDS und bei Malaria, und so ist es auch bei Covid-19. Die Summe der Epidemien von gestern und heute schafft in vielen afrikanischen Ländern eine Lebensrealität, die sich durch eine hohe Prävalenz epidemischer Krankheiten, hohe Sterberaten, eine hohe Kindersterblichkeit und eine niedrige Lebenserwartung auszeichnet. Eine neue Pandemie wie Covid-19 verschlimmert die Lage in armen Ländern auch deshalb so dramatisch, weil die alten Epidemien nie besiegt worden sind. Und weil medizinische Einrichtungen in armen Ländern ganz überwiegend durch ausländische Hilfsgelder finanziert werden, deren Höhe nicht mit der Anzahl der Epidemien steigt, hat die Konzentration auf den Kampf gegen eine Krankheit – wie aktuell Covid-19 – immer auch die Vernachlässigung früherer, aber nach wie vor virulenter Pandemien zur Folge.

Und so hat die Covid-19-Pandemie den Kampf gegen andere, schwere Krankheiten weltweit stark beeinträchtigt. Schätzungen von WHO und UNAIDS zufolge werden wegen der Pandemie jährlich einige hunderttausend Menschen mehr an HIV/AIDS, Tuberkulose und Malaria sterben – zusätzlich zu den 2,4 Millionen Opfern dieser Krankheiten, die schon zu Vor-Corona-Zeiten zu beklagen waren.[2] Genaue Zahlen gibt es nicht – das ist einer der Unterschiede zwischen dem Umgang mit Covid-19 und dem mit den anderen drei Pandemien, die nicht die Industrieländer betreffen. Zumindest für diese sind realitätsnahe Covid-19-Zahlen tagesaktuell für jedermann verfügbar. Tuberkulose-, AIDS- oder Malaria-Erkrankte im globalen Süden werden dagegen erst später lediglich geschätzt und diese Schätzungen im Regelfall mit ein bis zwei Jahren Verzögerung veröffentlicht. Peter Sands, der Direktor des Globalen Fonds zur Bekämpfung von AIDS, Tuberkulose und Malaria, ist überzeugt, dass die indirekt durch Covid-19 verursachten Todesfälle in den ärmsten Ländern am Ende deutlich über denen der direkt an Covid-19 Gestorbenen liegen werden.

Das liegt vor allem daran, dass in der Pandemie viele Erkrankte ihre Behandlungen unterbrochen haben, sich nicht mehr in Kliniken trauten oder wegen teils monatelanger Ausgangssperren gar nicht mehr dorthin durften. Eine Erhebung, die der Fonds im zweiten Halbjahr 2020 in 500 Gesundheitszentren auf der Südhalbkugel durchgeführt hat,[3] konstatiert einen Rückgang der HIV-Tests um 41 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Die Zahl der Malaria-Diagnosen ist um ein Drittel, die der Tuberkulose-Behandlungen um 59 Prozent eingebrochen. Jeder nicht diagnostizierte, nicht behandelte Fall hat aber weitere Ansteckungen zur Folge – ein Teufelskreis. Doch er könnte durchbrochen werden, denn alle drei Krankheiten sind behandelbar, wie die Lage in den Industrieländern beweist. Weder HIV/AIDS noch Tuberkulose oder Malaria gelten in Europa als öffentliche Gesundheitsgefahr. Dass das in armen Ländern anders ist, hat laut Sands rein politische Ursachen. Nachdem die Krankheiten bei ihnen besiegt waren, haben sich die Industrieländer schlicht nicht mehr um sie gekümmert. Gerade in armen Ländern werden die ohnehin schon knappen Ressourcen aktuell in die Bekämpfung von Covid-19 gesteckt. Carol Nawina, die in ihrer Heimat Sambia für die Bekämpfung von Tuberkulose kämpft, wirft afrikanischen Regierungen und Geberstaaten vor, eine Krankheit gegen die andere auszuspielen. Ressourcen, medizinisches Personal, Ausrüstung und Experten seien von den Tuberkulose-Programmen zur Covid-19-Bekämpfung abgezogen worden. Die Gründe sind für Nawina offensichtlich: Tuberkulose sei eine „Krankheit der Armen“, die in den armen Ländern wiederum die Ärmsten trifft, die in beengten Verhältnissen leben, unterernährt und deshalb anfällig für das Bakterium sind.

Der zähe Kampf gegen Tuberkulose

Natürlich könnte Tuberkulose auch in Afrika schon längst besiegt sein. Am effektivsten wäre das wie bei Covid-19 mit einem Impfstoff möglich. Doch der einzige Impfstoff gegen Tuberkulose ist bereits 100 Jahre alt. Am 18. Juli 1921 verabreichten die französischen Ärzte Albert Calmette und Camille Guérin die erste Dosis des nach ihnen benannten Impfstoffs BCG. Seit Jahrzehnten ist bekannt, dass der Impfstoff nur vor den schwersten Formen der Tuberkulose schützt, vor allem bei Säuglingen und Kindern. Gegen Infektionen bei Jugendlichen und Erwachsenen hilft er kaum, ebensowenig gegen neue Tbc-Varianten. Auch die Übertragung der Tuberkulose verhindert der Impfstoff nicht. Die Folge: Bis zum Auftreten von Covid-19 war Tuberkulose die tödlichste Infektionskrankheit weltweit. In den vergangenen 200 Jahren hat sie geschätzt mehr als eine Milliarde Menschen getötet. Bis heute infizieren sich jedes Jahr 10 Millionen Menschen an der schweren und oftmals tödlich verlaufenden Lungenkrankheit. Täglich fallen ihr 4000 Menschen zum Opfer, darunter 700 Kinder. Zugleich wirken Medikamente gegen die bakterielle Infektion immer seltener. Wer heute an einer multiresistenten Tuberkulose erkrankt, kann schlicht nicht mehr behandelt werden. Doch während ein Covid-19-Impfstoff innerhalb weniger Monate entwickelt wurde, stockt die Entwicklung eines neuen Vakzins gegen Tuberkulose seit Jahrzehnten.

Gerade einmal 117 Mio. US-Dollar wurden 2019 in die Entwicklung eines Tbc-Impfstoffs investiert, bilanziert „Stop TB Partnership“,[4] eine weltweite Allianz aus Hilfsorganisationen. 550 Mio. Dollar pro Jahr wären jedoch mindestens nötig, um die Krankheit bis 2030 auszurotten, so wie es ein von den UN-Mitgliedstaaten 2016 beschlossenes Ziel vorsieht. Im Vergleich dazu sind in die Erforschung von Covid-19-Impfstoffen allein im vergangenen Jahr mehr als 100 Mrd. Dollar geflossen. Ein in den späten 1990er Jahren entdeckter, vielversprechender Impfstoff gegen Tuberkulose wurde 2018 erstmals getestet. Wann er zugelassen wird, ist derzeit völlig offen, so wie bei den 14 anderen Kandidaten, die es gibt. Der Prozess, der beim Tbc-Impfstoff schon jetzt mehr als 20 Jahre dauert, war beim Covid-19-Impfstoff nur knapp 100 Tage lang.

Natürlich kann man hoffen, dass aus den Erfahrungen der Corona-Bekämpfung Konsequenzen gezogen werden, die letztlich eine schnellere Impfstoffentwicklung auch gegen andere Krankheiten ermöglicht. Zu den entscheidenden Faktoren der Beschleunigung gehört Epidemiologen zufolge die Entwicklung von Impfstoffen in öffentlich-privaten Partnerschaften, bei denen Staaten bereits Kaufzusagen für Impfstoffe machen, die noch nicht auf dem Markt sind. Auch rollende klinische Tests, bei denen die Zulassungsbehörden laufend erneuerte Teilergebnisse prüfen, sind dem langwierigen, linearen Verlauf der bisherigen Impfstoffentwicklung klar überlegen. Biontech, einer der Entwickler des mRNA-Impfstoffs gegen Covid-19, hat bereits angekündigt, mit Unterstützung der Bill-Gates-Stiftung einen neuen Tuberkulose-Impfstoff und HIV-Therapien auf dieser Basis zu entwickeln, auch ein Malaria-Impfstoff ist geplant, der in Ruanda und im Senegal produziert werden soll. All diese frohen Botschaften lösen aber noch nicht das eigentliche Problem, nämlich das der globalen Gesundheitsungerechtigkeit. Nicht nur Impfstoff, auch Masken, Beatmungsgeräte, Diagnostik-Kits und praktisch alle anderen knappen Waren, die zur Corona-Bekämpfung gebraucht werden, sicherten sich zunächst die reichen Länder. Erst als sie versorgt und für Jahre im Voraus bevorratet waren, konnten die oft besonders schwer betroffenen armen Länder auf dem globalen Markt zugreifen.

Ohne eine eigenständige Produktion von Medizin und Impfstoffen für den eigenen Markt wird es Ländern etwa in Afrika also kaum gelingen, den Bedarf ihrer Bürger zu decken. Das zeigt die Erfahrung mit Covid-19: Die globale Verteilung des knappen Impfstoffs wird derzeit eben nicht vom öffentlichen Gesundheitswesen kontrolliert, auch wenn die WHO mit Covax ein entsprechendes Instrumentarium entwickelt hat. Die Kontrolle haben faktisch wenige Konzernchefs, die ihren Impfstoff lieber zu höheren Gewinnen nach Europa und Nordamerika als zu solidarischen Niedrigpreisen nach Afrika verkaufen. Anders lässt es sich jedenfalls kaum erklären, dass Johnson & Johnson zuletzt Millionen Impfdosen aus einer südafrikanischen Fabrik nach Europa exportierte.[5]

Grundlage des Milliardengeschäfts mit dem Corona-Impfstoff ist dessen Knappheit. Das Vakzin wird behandelt wie jede andere Ware auch – ungeachtet der Tatsache, dass Milliardenbeträge aus öffentlichen Kassen ihre Entwicklung überhaupt erst ermöglicht haben, im Fall von Astra-Zeneca gar zu 97 Prozent.[6] Zwar gibt es auch in Afrika durchaus Pharmabetriebe (wenn auch nicht viele), die in der Lage sind, Impfstoffe herzustellen, und die damit die globale Knappheit lindern könnten. Doch um das zu tun, bräuchten sie die Patente – und die werden ihnen mitten in der Pandemie verweigert. Mehr als 100 Staaten kämpfen innerhalb der Welthandelsorganisation WTO für die zeitweise Aussetzung des Patentschutzes während der Pandemie. Doch das verhindern gegenwärtig vor allem die europäischen Staaten, obwohl die USA einer vorübergehenden Aufhebung im Rahmen des in der WTO geschlossenen TRIPS-Abkommens im Mai bereits prinzipiell zugestimmt haben.

»Fill and Finish« statt Gerechtigkeit

Die Europäer und die Pharmariesen propagieren stattdessen eine scheinbare Alternative. Ende Juli verkündete Pfizer-Biontech ein sogenanntes „Fill and Finish“-Abkommen mit dem südafrikanischen Pharmaunternehmen Biovac, das in Zukunft 100 Mio. Dosen Covid-Impfstoff herstellen, abfüllen und innerhalb von Afrika vermarkten soll. Pfizer-CEO Albert Bourla feiert das Abkommen als Beleg dafür, dass man den Impfstoff gerecht verteilen will. Doch Gewerkschafter wie Susana Barria vom globalen Gewerkschaftsverbund Public Services International (PSI) kritisieren, dass in diesem Modell nach wie vor Pfizer entscheidet, wieviel Impfstoff in Südafrika produziert wird. Die Technologie bleibe in den Händen einiger weniger, und autonome Entscheidungen im globalen Süden blieben weiter ein Ding der Unmöglichkeit. Gebraucht werde dagegen Unterstützung, um eigene Forschung und Herstellung von Impfstoffen in Afrika für Afrika zu ermöglichen. Doch die gibt es nicht. Afrikas Impfstoffe kommen deshalb aus den Industrienationen, und allen Abschlägen und Rabatten zum Trotz wird damit Geld verdient. Das räumt selbst die globale Impfallianz GAVI ein, die jährlich Millionen Impfdosen für afrikanische Länder einkauft. Der Bevölkerung der ärmsten Länder, die sich nicht selbst helfen dürfen, bleibt nur die Opferrolle. Fill and Finish, das bedeutet letztlich: Der Status quo muss reichen.

Dass das nicht alle akzeptieren wollen, zeigten zuletzt afrikanische Wissenschaftler wie der Mikrobiologe Christian Happi, der am Exzellenzzentrum für die Genetik von Infektionskrankheiten im nigerianischen Ede forscht. Dem Magazin „Nature“ erklärte Happi[7], er sei nicht bereit, die in seinem Labor entschlüsselten Gensequenzen von möglichen neuen Covid-Varianten in globalen Datenbanken, wie sie etwa das US-Gesundheitsinstitut NIH betreibt, ohne Auflagen frei zur Verfügung zu stellen. Die Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung ruft ihre Stipendiaten dazu auf, genau das zu tun, um damit die Impfstoffentwicklung gegen Covid-Varianten zu beschleunigen. Doch warum solle er dazu beitragen, wenn sein Land am Ende von den neuen Impfstoffen gar nicht profitiere, fragt Happi rhetorisch. Den Status quo in der Impfstoffproduktion hält er für „demoralisierend“. Man könnte auch sagen: Happi will kein Opfer der Verhältnisse mehr sein, sondern zur Tat schreiten. Ermöglichen kann das nur ein Paradigmenwechsel, zu dem eine Aufhebung der Patente auf Covid-19-Impfstoffe gehören muss.

[1] Auf der Pressekonferenz am 14.8.2021.

[2] The cost of inaction, www.who.int, 11.5.2020.

[3] New Global Fund Report Shows Massive Disruption to Health Care Caused by COVID-19 in Africa and Asia, www.theglobalfund.org, 13.4.2021.

[4] Stop TB and experts sound the alarm on urgent investments needed for new TB vaccines, www.stoptb.org, 15.7.2021.

[5] Covid Vaccines Produced in Africa Are Being Exported to Europe, www.nytimes.com, 16.8.2021.

[6] Oxford/AstraZeneca Covid vaccine research ‘was 97% publicly funded’, www.theguardian.com, 15.4.2021.

[7] Why some researchers oppose unrestricted sharing of coronavirus genome data, www.nature.com, 5.5.2021.

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