Ausgabe Oktober 2021

Texas oder der Sieg der radikalen Rechten

Demonstrierende auf dem Gelände des US-Kapitols, 5.9.2021 (IMAGO / NurPhoto)

Bild: Demonstrierende auf dem Gelände des US-Kapitols, 5.9.2021 (IMAGO / NurPhoto)

Die amerikanische Rechte ist trunken, weil sie von zwei Arten Hemmungen befreit worden ist, seit Donald Trump erschien, um sie ins gelobte Land ihres entfesselten Es zu führen: die Hemmung zu lügen und die Hemmung, Gewalt anzuwenden. Beide dienen den Mitgliedern der Zivilgesellschaft normalerweise dazu, ihre Handlungen aus Respekt vor den Rechten anderer und dem Allgemeinwohl zu beschränken. Diese ohnehin brüchigen Grenzen sind bei führenden Vertretern der Republikaner, von Tucker Carlson bei „Fox News“ bis zu Ted Cruz im Senat, und bei ihren Anhängern gefallen.

Wir können beobachten, wie diese Anhänger Wahnvorstellungen geradezu verschlingen, vom „Pizzagate“ über QAnon und die Covid-Leugnung bis zu Trumps Wahllügen. Und wie sie Journalisten aufmischen, wie sie Waffen auf Black-Lives-Matter- und andere antirassistische Demonstranten richten und seit Charlottesville sogar Autos in Demonstrationen krachen lassen, wie sie Drohungen gegen die Parlamente der Bundesstaaten sowie gegen Ärzte und Schulbehörden ausstoßen, die sich zur öffentlichen Gesundheit äußern, und wie sie sich verschworen haben, um Gretchen Whitmer zu entführen, weil die demokratische Gouverneurin von Michigan Covid-Vorsorgemaßnahmen verhängt hatte.

Im texanischen Abtreibungsgesetz – das dem nach rechts gerückten Obersten Gerichtshof bloß ein Lächeln ins Gesicht zauberte, obwohl es gegen Präzedenzfälle verstößt – wimmelt von Gewalt wie von Lügen. Schon die Sprache des Gesetzes enthält bekannte Lügen: Da wird ein Embryo von sechs Wochen als Fötus bezeichnet und einem Zellhaufen, der noch nicht über Herz und Blutkreislauf verfügt, ein Herzschlag angedichtet. Dahinter steht eine andere Lüge, wonach Frauen deswegen abtreiben, weil sie leichtsinnig, schamlos und herzlos sind. Tatsächlich jedoch tun sie dies in den meisten Fällen, weil die Empfängnisverhütung versagt hat oder der Sex erzwungen war oder sie medizinische Probleme haben – darunter Gefährdungen für die Gesundheit der Mutter oder ein nicht lebensfähiger Fötus – oder sie in finanziellen Schwierigkeiten stecken, einschließlich der Verantwortung für bereits vorhandene Kinder.

Neu am texanischen Gesetz ist jedoch, dass es Bürger dazu einlädt, selbst ernannte Ordnungshüter, Kopfgeldjäger und Spitzel zu werden. Das dürfte jede Frau, die vermutet, dass sie schwanger ist, in einen grässlichen Zustand furchtsamer Heimlichkeit versetzen. Denn absolut jeder kann ihre Situation ausnutzen, und jeder, der ihr bei einem Abbruch hilft, kann haftbar gemacht werden, selbst wenn er sie nur zum Arzt gefahren hat. Das Gesetz macht Schwangerschaft zum Verbrechen, da es wohl zur Kriminalisierung selbst der nicht seltenen Fehlgeburten führen wird. Es wird dafür sorgen, dass Frauen – insbesondere jene ohne Papiere, die armen, jungen und jene, die unter der Fuchtel von gewalttätigen Gatten oder Familien stehen – an lebensbedrohlichen Schwangerschaften oder illegalen Abtreibungen sterben oder aus Verzweiflung Selbstmord begehen. Ein selbst ernannter Ordnungshüter, der einer Frau nachstellt, ist bereit, sie sterben zu sehen.

Die rechte Haltung zu Abtreibung wird oft als widersprüchlich betrachtet. Schließlich preist gerade dieses politische Lager die uneingeschränkte Freiheit, zu tun, was man möchte – darunter das öffentliche Tragen halbautomatischer Waffen und die Verbreitung eines zuweilen tödlichen Virus. Aber nicht zufällig vollziehen sich in Texas die Angriffe auf das Wahlrecht zeitgleich mit jenen auf reproduktive Rechte. Es geht dabei natürlich darum, die Freiheit für einige zu erweitern und sie für andere verkümmern zu lassen. Die Angriffe auf reproduktive Rechte sollen Frauen unfrei und ungleich machen; die Angriffe auf das Wahlrecht sollen People of Color unfrei und ungleich machen; Frauen of Color bekommen die doppelte Dosis.

Feindschaft gegenüber der Demokratie

Das ist das logische Resultat aus Sicht einer Partei, die vor einigen Jahrzehnten auf ein zunehmend nicht-weißes Land blickte und beschloss, die Stimmen von People of Color zu unterdrücken, statt zu versuchen, sie für sich zu gewinnen. Ihr Feind ist nicht bloß die Demokratische Partei, sondern die Demokratie. In diesem System, in dem einige Tiere gleicher sind als andere, haben einige mehr Recht, die Wahrheit zu bestimmen als andere. Und Fakten, Wissenschaft oder Geschichte sind gleichermaßen Fesseln, die man im Dienst genau seiner bevorzugten Version der Realität abschütteln muss, die man mit Dominanz, einschließlich offener Gewalt, durchsetzt.

Was war der Putschversuch vom 6. Januar anderes als diese Praxis in Reinkultur? Ein Berg von Lügen über den Wahlausgang wurde genutzt, um einen Mob zu einer Attacke aufzupeitschen, die nicht nur dem Kongress, sondern auch der Ratifizierung des Wahlergebnisses galt und mit Todesdrohungen gegen Vizepräsident Mike Pence und die Vorsitzende des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, einher ging. Außergewöhnlich daran war die schiere berserkerhafte Gewalt: Zumeist mittelalte, weiße Männer versuchten, Augäpfel auszureißen, trampelten schreiend ihre eigenen Leute nieder und sprühten Bärenspray in die Gesichter jener, die das Gebäude, die gewählten Abgeordneten und die Wahl selbst beschützten.

Ihre Anführer verbreiteten Lügen, um die Gewalt anzuzetteln, um diese Gewalt zu rechtfertigen, um abzustreiten, dass es diese Gewalt gegeben hat und schließlich, um zu weiterer Gewalt anzustacheln. Der Minderheitsführer des Repräsentantenhauses, Kevin McCarthy, flehte nach eigener Darstellung am 6. Januar Trump heftig an, die Angreifer zurückzupfeifen. Seither jedoch versucht er, die Untersuchung der Ereignisse zu sabotieren. Wie die „New York Times“ berichtet, hat McCarthy jedem Unternehmen mit Vergeltung gedroht, das mit dem Kongressausschuss zur Untersuchung der Krawalle vom 6. Januar zusammenarbeitet. Zuvor hatte der Ausschuss dutzende Firmen ersucht, die Telefon- und Social-Media-Daten von elf rechtsradikalen Kongressabgeordneten aufzubewahren, die darauf gedrängt hatten, das Ergebnis der Präsidentschaftswahl zu kippen. Der republikanische Politiker versucht damit, dem Kongress und der Öffentlichkeit vorzuenthalten, was geschehen ist. Das könnte man auch das Vertuschen einer Straftat nennen – das auch noch öffentlich geschieht –, und seine Drohungen an die Unternehmen könnten selbst Straftaten sein.

Der Republikaner Madison Cawthorn, der erstmals North Carolina als Abgeordneter vertritt und am 6. Januar von der Bühne aus die Menge aufpeitschte, bezeichnet die inhaftierten Aufrührer als „politische Gefangene“. Er lügt weiterhin über das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen und erklärt: „Wenn unsere Wahlsysteme weiter gezinkt bleiben und die Wahlen weiter gestohlen werden, wird das nur zu einer Sache führen, und zwar zu Blutvergießen.“ Cawthorn wird sexueller Missbrauch vorgeworfen, ebenso wie dem Abgeordneten aus Florida, Matt Gaetz, und ebenso wie den Obersten Richtern Clarence Thomas und Brett Kavanaugh, deren Stimmen das texanische Abtreibungsgesetz endgültig in Kraft treten ließen.

Ähnliche Vorwürfe gibt es zwar gegen Männer aus dem ganzen politischen Spektrum – das Verhalten des Demokraten Andrew Cuomo und sein folgender Rücktritt bescherten dem Bundesstaat New York jüngst seine erste Gouverneurin. Doch im republikanischen Fall handelt es sich nicht um eine ideologische Widersprüchlichkeit. Ihre ideologische Prämisse lautet vielmehr: Die eigenen Rechte zählen derart viel, dass die Rechte der anderen überhaupt nicht zählen. Und das reicht von Vergewaltigung über Masken- und Impfpolitik bis zur Verbreitung von Schusswaffen und den daraus resultierenden Toten in jüngster Zeit.

Es ist schwer zu sagen, ob die Rechte nun ermutigt ist, weil sie in den vergangenen fünf Jahren mit so viel davongekommen ist, oder zunehmend verzweifelt, weil sie sich auf ein wildes Glücksspiel eingelassen hat. Es scheint so, als wäre sie beides zugleich. Wenn die Vereinigten Staaten ihre Demokratie, so wie sie nun einmal ist, verteidigen und das Wahlrecht aller berechtigten Erwachsenen schützen, dann bleibt die Rechte eine schrumpfende Minderheit. Ihre einzige Chance, das abzuwenden, besteht darin, die Demokratie zu stürzen. Für dieses Ziel ist sie bereit, Gewalt anzuwenden und sich nicht länger an Lügen zu stören.

© Guardian News & Media Ltd 2021, Übersetzung: Steffen Vogel 

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