
Bild: Bundesfinanzminister Christian Lindner und Robert Habeck, Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz, 1.6.2022 (Fotostand/Reuhl)
Mitten in diesen unübersichtlichen Zeiten, in denen Krieg in Europa herrscht und die Weltordnung zerbröselt, stellt sich die Frage: Haben wir in den ersten Monaten des Jahres ein Momentum erlebt, in dem die sozial-ökologische Transformation unseres Landes eine entscheidende Wendung hätte nehmen können? Sind wir dabei, dieses Momentum zu verpassen?
Der Überfall Russlands auf die Ukraine bedeutet für Öl und Gas das, was die Kernschmelze in Fukushima für die Atomkraft bedeutet hat. Nach dem Tsunami in Japan war auch den Letzten klar, dass die Risiken von Kernkraftwerken auch für technologisch weit entwickelte Industriegesellschaften nicht kalkulierbar sind. Nun beendet der Krieg in Europa die Erzählung vom beständig verfügbaren, billigen Gas und Öl, deren Herkunft keine Rolle spielt. Technologie, die auf ungestörter Versorgung durch Erdgas- und Ölpipelines beruht, hat keine Zukunft mehr. Während der Industrie schon länger mehr oder weniger klar war, dass sie auf Erdöl als Energierohstoff zumindest langfristig würde verzichten müssen, galt ihr Erdgas mit seiner vermeintlich besseren Klimabilanz als unbedenkliche Alternative. Gas zu substituieren, das war ein Projekt höchstens in einer ganz, ganz fernen Perspektive.
Das hat sich nun geändert. Auch wenn jetzt rasch Kapazitäten für Flüssiggaslieferungen aufgebaut werden und die Versorgung somit gesichert bleiben sollte, wird Gas auf jeden Fall teurer werden. Unternehmen und Privatpersonen werden ihren Energiebedarf für Industrieprozesse oder zur Strom- und Wärmeerzeugung mittelfristig nicht mehr mit Erdgas decken können und wollen – weil es zu teuer ist und der Schock, die Heizungen könnten kalt bleiben, weil ein ferner Diktator es so will, bei vielen tief sitzt.
Das ist gut, denn auch Erdgas ist nicht klimaneutral. Einmal mehr erweist sich eine Brückentechnologie als Sackgasse. Flugs entdeckte der Porsche-Fan und Finanzminister Christian Lindner (FDP) erneuerbare Energien denn auch als „Freiheitsenergien“, und Hausbesitzer*innen rennen den Heizungsinstallateuren die Türen nach Wärmepumpen ein.
Zugleich schreibt die Fridays-for-Future-Aktivistin Luisa Neubauer in der Wochenzeitung „Die Zeit“, nur weil die Richtigen regierten, werde nicht unbedingt auch richtig regiert, und rechnet tief enttäuscht mit der Energie- und Klimapolitik der Bundesregierung ab.[1] Sie ist die prominenteste Stimme in einem größeren Chor. Der Vorwurf: Die Bundesregierung verheddert sich in populistischen, kurzatmigen Aktionen wie dem von Finanzminister Lindner durchgesetzten Tankrabatt, mit dem sie dringend für anderes benötigte Steuermilliarden auf die Konten der Mineralölkonzerne umlenkt, oder dem Neun-Euro-Ticket, das zu überfüllten Zügen, aber keinem zusätzlichen Angebot im Öffentlichen Nahverkehr führt.
Und tatsächlich: Eine wahre Liste des Grauens hat Klimaminister Robert Habeck inzwischen aufgestellt: Er lässt Kohlekraftwerke länger laufen und schafft mit neu geplanten LNG-Terminals fossile Infrastruktur für einen Rohstoff, der doch eigentlich der Vergangenheit angehören soll, ja mehr noch: Es werden auch neue Abhängigkeiten von Autokratien geschaffen. Wetten darüber, ob der grüne Minister auch aus dem Atomausstieg wieder aussteigt, werden Mitte Juni noch entgegen genommen. Gibt es aber zugleich auch irgendwelche lautstarken Initiativen für den Einstieg in eine ökologische Kreislaufwirtschaft? Wenige.
Experiment Ampel
Seit ihrem ersten Regierungstag ist die Ampel ein Experiment. Als solches war und ist sie ja besonders deswegen interessant, weil ihre Versuchsanordnung in Bezug auf die sozial-ökologische Transformation in etwa die Positionen der Gesellschaft spiegelt: Die Grünen stehen für die ökologische Avantgarde der akademischen Mittelschichten, die mehrheitlich, obgleich sie zum Teil einen Lebensstil mit einem vergleichsweise hohen Ressourcenverbrauch pflegen, zumindest einer Transformation hin zu weniger Mobilität, weniger Konsum sowie neuen Wohnformen nicht im Weg stehen wollen und entsprechende Gesetze und Preise tolerieren würden (und größtenteils auch bezahlen könnten). Die Klientel der SPD verhält sich, wie die Partei, abwartend. Man darf davon ausgehen, dass Partei und Wähler*innen überwiegend verstanden haben, dass die fossile Industriegesellschaft angesichts des Klimawandels mittelfristig ein Ende finden muss, doch scheinen die Konsequenzen zu hart. Was auch nicht verwundert, weil das Klientel der Arbeiter und Angestellten der unteren Mittelschichten mit ihrem global hohen Konsumniveau der große Verlierer in einer postfossilen Gesellschaft werden könnte. Insofern spielt etwa SPD-Arbeitsminister Hubertus Heil eine wichtige Rolle, weil er die Schwächen der post-industriellen Arbeitswelt – Stichwort Plattform-Ökonomie – erkennt und an Lösungen arbeitet. Über konkretes klima- oder umweltpolitisches Know-how verfügt die Partei allerdings noch immer kaum. Das grüne Milieu erwartet endlich und schnell Gesetze, die den Schutz von Klima und Natur gewährleisten. Das sozialdemokratische Milieu gilt es mitzunehmen und zu überzeugen.
Das Klientel, zu dem die FDP spricht, dürfte Klimawandel und Artensterben hingegen nicht als fundamentale Krisen auffassen. Falls es den Begriff „sozial-ökologische Transformation“ schon einmal gehört hat, hält es ihn wohl für esoterischen Blödsinn oder gleich für einen gefährlichen Einstieg in die Planwirtschaft. Dieses Milieu ist mit Argumenten kaum zu erreichen und zu Verhaltensänderungen – weniger Fliegen, weniger Fleisch konsumieren, weniger Autofahren – nur über den Preis oder über das Ordnungsrecht zu bewegen.
Das Problem dabei: Mit der FDP sitzt dieses Milieu in der Regierung und entscheidet über das Ordnungsrecht mit. Sie müsste Instrumente, wie beispielsweise ein Tempolimit, ein schnelles Verbot von Verbrennungsmotoren oder CO2-Budgets für private Flugreisen verabschieden; genau wie Vorschriften, in den nächsten Jahren Gasheizungen in Wohngebäuden auszutauschen oder Häuser energetisch zu sanieren. Laut dem Weltklimarat IPCC müssen die globalen Treibhausgasemissionen im Jahr 2025 ihren Höhepunkt erreichen und danach sinken, um das 1,5-Grad-Ziel überhaupt noch zu erreichen. Die Jahre bis 2030 sind entscheidend wichtig, um das Klima auf der Erde stabil zu halten. Für die Bundesregierung heißt das: Wenn sie die Ziele des deutschen Klimaschutzgesetzes einhalten will, müssen die Grünen das Kunststück vollbringen, sowohl die SPD zu überzeugen, ehrgeizige Gesetzesprojekte mitzutragen, als auch die FDP in der Regierung zu halten und sie dabei notwendigerweise inhaltlich so weit wie möglich zu neutralisieren.
Eine Wärmewende ist nötig
Die Reaktion des grünen Klima- und Wirtschaftsministers auf mögliche Lieferstopps von Gas und Öl in der ersten Jahreshälfte lässt diese Herausforderung in einem neuen Licht erscheinen. Robert Habeck hat sich vor allem als klassischer Wirtschafts- und Energieminister verhalten, der einen drohenden Energieengpass managt. Die Interessen der Industrie und ihrer Arbeiter*innen und Angestellten fest im Blick, hat er auf diese Weise moralisches und politisches Kapital angehäuft, das sich in hohen Sympathiewerten in der Bevölkerung äußert. In den politischen Debatten, die in den nächsten Monaten anstehen, wird er das dringend brauchen. Konkret geht es darum, Mehrheiten für eine grundlegend neue Gebäude-, Verkehrs- und Energiepolitik zu organisieren.
Beispiel Gebäudepolitik: Deutschland verfügt über einen Gebäudebestand von knapp 20 Mio. Wohn- und schätzungsweise zwei Mio. beheizten oder gekühlten Nicht-Wohngebäuden. Der Gebäudesektor hat sich, neben dem Verkehr, zu einem Sorgenkind der Klimapolitik entwickelt. Die im Klimaschutzgesetz der vormaligen großen Koalition festgesetzten (wenig ambitionierten) Klimaziele für Gebäude von 113 Mio. Tonnen CO2-Äquivalenten für das Jahr 2021 wurden mit einem Ausstoß von 115 Mio. Tonnen verfehlt. Das ist besorgniserregend, weil die Tendenz nicht stimmt. Der Sektor muss, wie alle anderen auch, seinen Ausstoß an Treibhausgasemissionen jährlich senken, um im Jahr 2030 – also in lediglich acht Jahren (!) – bei nur noch 67 Mio. Tonnen CO2 zu landen.
Ein Sofortprogramm, das das von der Sozialdemokratin Klara Geywitz geführte Bundesbauministerium in diesem Sommer vorlegen muss, müsste dafür zahlreiche Härten enthalten: Rund 60 Prozent der 20 Mio. Wohngebäude gelten als ineffizient und müssen dringend energetisch saniert werden, benötigen also neue Fenster, eine Dämmung an Dächern, Außenwänden und Kellern.
Auch bei den Energieträgern hapert es in Sachen Klimaschutz: Nur neun Prozent der Gebäude sind an ein Fernwärmenetz angeschlossen, nur knapp zehn Prozent werden mit erneuerbaren Energien geheizt, die Hälfte davon mit Biomasseheizungen, die nicht als nachhaltige Lösung gelten. In über 70 Prozent der Gebäude erfolgt die Wärmeerzeugung mit fossiler Energie, nämlich Erdgas oder Erdöl. Das Wuppertal-Institut für Klima, Umwelt, Energie schätzt in einer Studie zur Wärmewende für die Umweltorganisation Greenpeace die zusätzlichen Kosten für die energetische Sanierung des Gebäudebestands in den nächsten 13 Jahren auf 50 Mrd. Euro.[2]
Während die Bundesregierung derzeit das Gebäudeenergiegesetz novelliert, das Neubauten deutlich effizienter machen soll, hat sie sich an den Bestand bislang noch nicht herangetraut. Hier steht eine Gesetzgebungsinitiative also noch immer aus – aller Dringlichkeit zum Trotz. Das Thema birgt massiven Sprengstoff: Industrie und Handwerk, die die Sanierung stemmen müssen, sind auf die Aufgabe nicht vorbereitet. Die Hersteller von Wärmepumpen leiden unter den gestörten Lieferketten, Heizungs- und Sanitärfirmen mangelt es an entsprechend ausgebildeten Fachkräften. Die Kommunen müssten über sich hinauswachsen und ihre Genehmigungs- und Planungsverfahren für den Ausbau der Wärmenetze enorm beschleunigen. Und alle gemeinsam müssten die Frage beantworten, wer diesen massiven Umbau bezahlen soll; wie die enormen Kosten zwischen Bund, Ländern und Kommunen, zwischen Hauseigentümern und Mietern aufgeteilt werden sollen.
Es bedeutet eine enorme Kraftanstrengung für alle Beteiligten, die Wärmewende in dem kurzen Zeitraum bis 2030 auf den Weg zu bringen, um die Klimaziele zu erreichen. Bislang hat der Sektor das nicht erkannt: Noch im vergangenen Jahr wurden hierzulande über 650 000 Gasheizungen eingebaut, so viele, wie seit einem Vierteljahrhundert nicht mehr. Weil Heizungen im Schnitt 15 bis 20 Jahre laufen, werden diese Gasbrenner also bis in die 2040er Jahre Treibhausgase ausstoßen. Dass sie dann mit sauberem, grünem Wasserstoff betrieben werden, halten Fachleute für unrealistisch, weil dieser teure Energieträger auch in 15 Jahren noch nicht in solchen Massen zur Verfügung stehen wird, dass er sowohl industrielle Prozesse, besondere Mobilitätsbereiche – etwa die Schifffahrt – und Heizungen zugleich versorgen kann. Um wenigstens die Chance zu haben, die Klimaziele zu erreichen, müsste es also schleunigst eine Gesetzesinitiative geben, die die Wärmewende im Gebäudesektor mit verfügbaren Technologien sofort voranbringt.
Wer macht mit?
Auch im Bereich Verkehr stehen enorme Umwälzungen bevor, wenn wir die Klimaziele ernst nehmen, die ihm das Klimaschutzgesetz der großen Koalition – das immerhin auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts zurückgeht – gesetzt hat. Der Sektor hat die zulässigen Mengen an CO2-Äquivalenten von 145 Mio. Tonnen um drei Mio. Tonnen überschritten. Auch Verkehrsminister Volker Wissing muss also laut Gesetz nun ein Sofortprogramm vorlegen, in dem er Maßnahmen vorschlägt, wie die Klimaziele gehalten werden können. Die kurzatmigen Maßnahmen wie der Tankrabatt und das Neun-Euro-Ticket für den Nahverkehr skizzieren die Agenda: Der öffentliche Verkehr braucht neue Schienen, neue Wagen, neues Personal; Autofahrer*innen brauchen alternative Angebote zum Verbrennungsmotor. Der damit verbundene weitgreifende Umbau der Infrastruktur erfordert deutlich schnellere Genehmigungsverfahren und hohe öffentliche und private Investitionen. Auch hierfür benötigt die Bundesregierung Mehrheiten in der Bevölkerung.
Es wird in den nächsten ein, zwei Jahren darauf ankommen, wie viele Wähler*innen jener 85 Prozent, die die Grünen bei der vergangenen Bundestagswahl nicht gewählt haben, sich von der Notwendigkeit von Gebäude- oder Mobilitätsgesetzen und entsprechenden Investitionen überzeugen lassen – trotz der damit verbundenen tiefgreifenden Änderungen des Alltags und steigender Kosten.
Das Zeitfenster, um auf die derzeitige Krise mit dem Einstieg in die sozial-ökologische Transformation zu reagieren, ist noch nicht geschlossen. Es kommt in der Ampelregierung jetzt auf den Mut und die Entschlossenheit des Bundeskanzlers an, seine Richtlinienkompetenz zu nutzen und zu dem zu werden, was er laut seinen Wahlplakaten im vergangenen Sommer sein wollte: ein Klimakanzler. Dazu müsste der Zauderer Scholz über sich hinauswachsen – aber gar nicht allzu sehr. Denn gegenwärtig trifft nicht das krawallige „Weiter-so“ der FDP den Nerv des Publikums – das zeigt sich in den jüngsten Wahlergebnissen in den Bundesländern, aber auch in Umfragen wie dem ZDF-Politbarometer. Auch der versemmelte Tankrabatt ist kein Ruhmesblatt für die FDP. Wer, wie die SPD, möchte, dass in diesem Land vieles so bleiben kann, wie es ist, der kann jetzt energisch Veränderungen in die Wege leiten und das Land modernisieren. Noch ist die Zeit dafür nicht vorbei – aber viel bleibt nicht mehr.
[1] Luisa Neubauer, Nur weil die Richtigen regieren, wird nicht gleich richtig regiert, www.zeit.de, 8.6.2022.
[2] Wuppertal Institut, Heizen ohne Öl und Gas bis 2035: Ein Sofortprogramm für erneuerbare Wärme und effiziente Gebäude, Studie im Auftrag von Greenpeace, https://epub.wupperinst.org, März 2022.