
Bild: AfD-Demo in Berlin, 8.10.2022 (IMAGO/IPON)
„Energiesicherheit und Schutz vor Inflation – Unser Land zuerst!“ Das war das Motto, unter dem die AfD am 8. Oktober mehr als 10 000 Menschen aus dem gesamten Bundesgebiet zu einer Demonstration vor das Berliner Reichstagsgebäude mobilisierte. Damit dominiert die AfD derzeit die Proteste angesichts der steigenden Energiepreise und der Inflation. Sie setzt auf einen „heißen Herbst“ des Protestes – und mit ihrem rechtsextremen Vordenker Björn Höcke auf einen Zusammenbruch der Gesellschaft, um triumphierend daraus hervorzugehen.
Tatsächlich nimmt die Zahl der Kundgebungen wie der Demonstrierenden seit September zu, doch von einem exponentiellen Wachstum des Protests, von einem „Wutwinter“ gar, den der „Spiegel“[1] ins Haus stehen sah, kann derzeit noch keine Rede sein. Im Oktober war sogar eine gewisse Stagnation der Proteste zu beobachten.
Das eigentliche Zentrum des Protestgeschehens bilden nach wie vor die ostdeutschen Kleinstädte von der Größe bis 100 000 Einwohner, mit der AfD als erstem Ansprechpartner. Unter den Demonstrierenden finden sich nicht wenige, die bereits in den zurückliegenden Monaten als Kern des Querdenkerprotests gegen die Coronamaßnahmen auf die Straße gegangen sind. Deren Motive speisten sich aus Elementen der Reichsbürgerideologie, der Esoterik und Alternativmedizin, aber auch aus Verschwörungserzählungen über Verlauf und Charakter der Pandemie. Sie artikulieren seit Monaten ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber Politik und Medien auf Basis einer autoritär geprägten Elitenkritik. Doch während früher vor allem die Pandemie im Mittelpunkt stand, verschiebt sich der thematische Fokus seit den letzten Wochen in Richtung Energiekrise und Inflation. Inzwischen ist die Auffassung weit verbreitet, dass es sich auch dabei um ein planvolles Vorgehen der Eliten handele, zum Nachteil der Mehrheit der Bevölkerung.
Demgegenüber tun sich Sozialverbände, Gewerkschaften und Linkspartei schwer, eigene inhaltliche Akzente zu setzen, die auch nur annähernd an die Reichweite und Mobilisierungsfähigkeit des skizzierten rechten Milieus herankämen. Insbesondere jenseits der Metropolen sind sie in der öffentlichen Wahrnehmung bislang viel zu schwach aufgestellt, wenn es darum geht, konkrete sozialpolitische Forderungen stark zu machen.
Und dennoch wird seit dem Beginn der aus dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine erwachsenden Krisen über eine angeblich im Entstehen begriffene politische Querfront zwischen der politischen Linken und der extremen Rechten diskutiert, die – so der Vorwurf – bisweilen wortgleich auf die derzeitigen Krisen reagiere. Dabei ist eine bewusste politische Kooperation zwischen Akteuren der extremen Rechten und linken politischen Initiativen die absolute Ausnahme.[2]Dafür spricht, dass auch seitens der extremen Rechten eine Querfront in ihrem historisch-politischen Sinne gar nicht gewünscht ist, nämlich als ein inhaltliches Zusammengehen zuvor unvereinbarer politischer Positionen.[3] Vielmehr zielt die oberflächliche linke Rhetorik, derer sich etwa „Compact“-Chefredakteur Jürgen Elsässer bedient, darauf, eine linke Anhängerschaft für rechte Positionen zu gewinnen und somit auf Seiten der Rechten einzubinden. Dagegen hat sich die Linkspartei bei ihrer Demonstration in Leipzig klar von extrem rechten Akteuren distanziert. Allerdings stellen die inhaltlichen Positionen der vormaligen Co-Vorsitzenden der Bundestagsfraktion der Linkspartei, Sahra Wagenknecht, eine offene Flanke nach rechts dar. Wagenknechts Rhetorik adressiert auch rechte Milieus und stößt dort auf ein sehr positives Echo. Rechtsextremen Strategen steht jedoch weniger eine Querfront als vielmehr der Aufbau einer „Mosaik-Rechten“[4] vor Augen, die eine plurale extreme Rechte im sozialen Feld verankern will. Dabei handelt es sich erkennbar um einen Fall von Diskurspiraterie des Ansatzes von „Blätter“-Mitherausgeber Hans-Jürgen Urban, der 2009 das Konzept einer „Mosaik-Linken“ entwickelt hatte.[5]
Weg mit Sanktionen, her mit dem Gas
Konkrete soziale Forderungen sind allerdings bei den Kundgebungen der AfD und ihren offen rechtsextremen Kooperationspartnern wie den „Freien Sachsen“ unterrepräsentiert. Es dominieren vielmehr Parolen, die die Aufhebung der Sanktionen gegen Russland und die Inbetriebnahme der Gaspipeline Nord Stream 2 fordern. Diese Akzentsetzung ist in Ostdeutschland quer durch die politischen Lager zustimmungsfähig. Dies offenbart die Distanz vieler Ostdeutscher zur hegemonialen, transatlantisch geprägten politischen Kultur der alten Bundesrepublik. Die Auffassung, dass die Nato ein Garant für Frieden, Sicherheit und Wohlstand sei, spiegelt schlicht nicht die zeitgeschichtliche Erfahrung der Ostdeutschen im Kalten Krieg wider. Diese haben „die Russen“ zwar als ungeliebte Besatzungsmacht in der DDR erlebt, rechnen ihr aber zugleich bis heute hoch an, dass sie im Herbst 1989 keine Panzer in Marsch setzte und 1994 friedlich abzog. Zudem fördert insbesondere die große Abhängigkeit ostdeutscher Firmen vom Russlandgeschäft die Ablehnung der Sanktionen gegen Moskau, da diese den Betrieben die Existenzgrundlage nehmen – entweder durch den Wegfall von Märkten oder den Verlust von Energielieferungen. Nicht wenige ostdeutsche Firmen verdanken ihren bescheidenen Wiederaufstieg nach den Jahren der ökonomischen Transformation ihren traditionellen Kontakten nach Russland. Die für manche der Protestierenden von Wladimir Putin ausgehende Faszination beruht auch darauf, dass dieser jenem Westen die Stirn bietet, von dem sich viele noch immer biografisch zurückgesetzt und gedemütigt fühlen.
Diese, im Kontext der aktuellen Proteste zu beobachtende Affinität zu Russland trat bereits bei den Pegida-Demonstrationen und bei den Aktionen des sogenannten „Friedenswinters“ des Jahres 2014 zutage. Ganz in dieser Tradition brach im September dieses Jahres eine Delegation von AfD-Landtagsabgeordneten aus NRW und Sachsen-Anhalt auf, um sich von der Lage in den von Russland besetzten ukrainischen Gebieten „selbst ein Bild zu machen“.[6] Die Landtagsabgeordneten Christian Blex (NRW), Daniel Wald und Hans Thomas Tillschneider (beide aus Sachsen-Anhalt) beendeten ihre Reise in die Ostukraine jedoch, als nach deren Bekanntwerden öffentlicher Druck entstand. Der Umgang in der AfD mit der Russlandreise ihrer Abgeordneten hätte allerdings unterschiedlicher nicht ausfallen können: Während der AfD-Bundesvorstand die Reise missbilligte und der NRW-Abgeordnete Blex aus der AfD-Fraktion des nordrhein-westfälischen Landtags ausgeschlossen wurde, stellte sich die AfD-Fraktion Sachsen-Anhalt vollumfänglich hinter die Reise ihrer Abgeordneten.[7] Die innerparteiliche Reaktion auf die Reise verweist auf die gravierende Ost-West-Differenz in der Beurteilung Russlands auch innerhalb der AfD: Während im Landesverband NRW offenbar die Westbindung nach wie vor Konsens ist, liegt der Partei in Sachsen-Anhalt politisch nichts ferner als dies. Um transatlantische Loyalitäten schert sich in der AfD Sachsen-Anhalt niemand, weshalb die Fraktion auch keinen Grund sah, die Reise ihrer Abgeordneten zu missbilligen.
Diese trifft auch auf breite Zustimmung in der Bevölkerung: Eine Schlüsselrolle für den Fortgang der Debatte über die Energiekrise könnte daher in den kommenden Monaten den „Handwerkern für den Frieden“ zukommen. Im September organisierte der Obermeister der Handwerkerinnung Dessau-Rosslau, Karl Krökel, eine Demonstration in der Dessauer Innenstadt, an der aus dem Stand 1500 Personen teilnahmen. Da die Organisatoren vordergründig keine parteipolitische Agenda verfolgen, sondern mit ihren Existenzsorgen argumentieren, genießen sie große Glaubwürdigkeit. Zuvor hatten sich bereits Handwerker und Gewerbetreibende mit Briefen und Erklärungen an die Bundes- und Landesregierungen gewandt, in denen sie nach massiver Unterstützung riefen, da sie andernfalls die finanziellen Belastungen der steigenden Energiepreise nicht mehr tragen könnten. Die Briefe erinnern an die früheren Eingaben von DDR-Bürgern an die Regierung, in denen diese die Erwartung äußern, die Regierung müsse einen wirtschaftlichen Missstand administrativ beseitigen.
Zusammenbruch als Ziel der AfD
Der größte Profiteur der multiplen Krisen im Lande ist aktuell zweifelsohne die AfD, die auch die Handwerkerproteste begeistert aufgegriffen hat. Nachdem sie in den letzten Jahren bei zahlreichen Landtagswahlen – vor allem im Westen – massive Stimmenverluste zu verbuchen hatte, gelang ihr bei der Wahl in Niedersachsen am 9. Oktober ein erstaunlicher Höhenflug, nämlich fast die Verdopplung ihres Stimmenanteils von 6,2 auf 10,9 Prozent. Und im Osten des Landes sieht die Lage noch weit dramatischer aus: In Sachsen liegt die AfD in Umfragen mittlerweile bei 30, im ostdeutschen Durchschnitt bei 27 Prozent. Ihr starkes Abschneiden in Niedersachsen zeigt zudem, dass die Partei inzwischen auch im Westen bürgerliche Wähler an sich zu binden vermag. Auch bislang „statussichere Arbeitsmarktinsider“ werden durch die Krise massiv verunsichert. Dadurch gelingt es der AfD, deren bislang nicht zum Tragen kommende, aber latent vorhandene Zustimmungsbereitschaft zu rechten Positionen zu mobilisieren.[8] Dass die AfD in Niedersachsen in der vergangenen Legislaturperiode eine desolate politische Performance zeigte, war dagegen für die Wahlentscheidung offensichtlich völlig irrelevant.
Den rechtsextremen Strategen innerhalb der AfD kommt die derzeitige Entwicklung gerade recht: Getragen vom Hochgefühl guter Umfragewerte hielt der thüringische AfD-Partei- und Fraktionschef Björn Höcke am 3. Oktober, dem Tag der Deutschen Einheit, in Gera eine programmatische Grundsatzrede.[9] Vor rund 7000 Teilnehmenden einer AfD-Kundgebung entfaltete er eine Fundamentalkritik des Westens. Dabei folgten Rhetorik und inhaltliche Dramaturgie seiner Rede in einer fast schon gespenstischen Weise jenen Mustern, die Leo Löwenthal einst für die Charakterisierung faschistischer Agitation herausgearbeitet hatte.[10]
Höcke im Geiste Carl Schmitts
Zunächst beschwor Höcke ein Untergangsszenario, in dem auf den Abstieg der Mittelschicht in Deutschland „Hunger und Chaos“ folgen. Für den prognostizierten Kollaps von Wirtschaft und Staat machte Höcke die Politik der USA verantwortlich. „Die US-amerikanische Regierung hat der deutschen Bundesregierung den wirtschaftlichen Selbstmord befohlen, und Scholz & Co führen diesen Befehl aus.“[11] Im Anschluss an Carl Schmitt bezeichnete Höcke die USA als „raumfremde Macht“, die „Keile zwischen Völker und zwischen Nationen“ treibe, um „ihr primitives Sendungsbewusstsein“ in Europa durchzusetzen. In geschichtsrevisionistischer Diktion führte Höcke sodann aus, „zum dritten Mal seit Beginn des letzten Jahrhunderts“ stünden „auf dem europäischen Kontinent Nationen und Völker gegeneinander, obwohl nichts näher läge, als zusammenzuarbeiten, und […] der USA zu verbieten, sich als außereuropäische Macht in europäische Angelegenheiten hineinzumischen“. Im Klartext insinuiert Höcke hier die rechtsextreme These, beide Weltkriege in Europa seien von den USA verursacht worden. Und weiter heißt es: „Wir werden von einer raumfremden Macht in einen Krieg hineingetrieben, über eine fremdbestimmte Bundesregierung, der nicht der unsere ist.“ Er wisse zwischen den USA und den Amerikanern zu unterscheiden, so Höcke: „Die USA sind […] auch ein fremdbestimmtes Land.“
In seiner für eine Kundgebung ungewöhnlich ausführlichen Rede legt Höcke hier nicht nur eine antisemitische und antiamerikanische Spur. Vielmehr entwickelt er vor dem Hintergrund der von ihm aufgerufenen Ängste und Unsicherheit, die an zeitgeschichtliche Erfahrungen im Osten anknüpfen, nichts weniger als einen, genauer gesagt: seinen politischen Weg zur Macht. Seine Ankündigung, 2024 die Machtfrage stellen zu wollen, mag sich formal auf die Landtagswahl in Thüringen beziehen. Doch in seiner Zuhörerschaft weckt Höcke zugleich weitreichendere Erwartungen nach einem grundsätzlichen politischen Umbruch, dessen Notwendigkeit der AfD-Führer wiederholt betonte.
Multiple politische Krisen sind seit jeher das von der extremen Rechten bevorzugte Biotop, in dem ihre Rhetorik des Ernstfalls und Ausnahmezustands auf fruchtbaren Boden fällt und sie ihren Einfluss ausdehnen und letztlich zur Macht bringen wollen. Ostdeutschland ist nicht zum ersten Mal das Experimentierfeld für die AfD, auf dem sie testet, mit welchen Politikkonzepten sie Erfolg hat. Alle genannten Punkte – die realen Abstiegsängste der Mittelschicht, die stabilen Umfragewerte der AfD und ihre, die Legislaturperioden überspannende, außerparlamentarische Bewegungsstrategie – werden in der aktuellen politischen Wahrnehmung gefährlich unterschätzt. Höckes Rede in Gera endete mit der Aufforderung, „als Volksopposition diesen Kampf“ jetzt „durchzukämpfen“, „friedlich, aber mit einem starken, unbändigen Willen“. Dies sollte nicht länger als tagespolitische Zufallseinlassung verstanden werden, sondern endlich als ernstzunehmende Warnung.
[1] Vgl. Ann-Kathrin Müller u.a., Wie Rechtsextremisten ihre Anhänger für einen deutschen Wutwinter mobilisieren, in: „Der Spiegel“, 30/2022.
[2] Vgl. dazu das Beispiel Hamburg: Andreas Speit, Wie sich eine Querfront bildet in: „die tageszeitung“, 6.10.2022.
[3] Vgl. Benedikt Kaiser, Die Partei und ihr Vorfeld, Schnellroda 2022.
[4] Vgl. ders., Querfront, Schnellroda 2017.
[5] Vgl. Hans-Jürgen Urban, Die Mosaik-Linke. Vom Aufbruch der Gewerkschaften zur Erneuerung der Bewegung, in: „Blätter“, 5/2009, S. 71-78.
[6] Vgl. www.afdfraktion-lsa.de. Die Kosten der Reise trägt übrigens laut „Mitteldeutschem Rundfunk“ der Steuerzahler.
[7] Vgl. Thomas Vorreyer, Trotz Kritik: Russland-Reise bleibt für AfD-Abgeordnete in Sachsen-Anhalt ohne Konsequenzen, www.mdr.de, 11.10.2022.
[8] Vgl. auch: Phillip Manow, Eine differenzierte Erklärung für den Erfolg der AfD in West- und Ostdeutschland, in: Heinz-Ulrich Brinkmann und Karl-Heinz Reuband, Rechtspopulismus in Deutschland: Wahlverhalten in Zeiten politischer Polarisierung, Heidelberg 2022.
[9] Björn Höcke, Tag der deutschen Freiheit: Meine Rede am 3.10.2022 in Gera, www.youtube.com.
[10] Leo Löwenthal, Falsche Propheten: Studien zur faschistischen Agitation, Berlin 2021.
[11] Vgl Höcke, a.a.O., Minute 10:28 ff.