
Bild: Junge Männer auf Schutthaufen nach dem schweren Erdbeben in Kahramanmaraş in der Türkei, 18.2.2023 (IMAGO / NurPhoto / Celestino Arce)
Das Jahrhundertbeben vom 6. Februar 2023 im Süden der Türkei und im Norden Syriens kannte weder Grenzen noch Nationalitäten. Es machte keinen Unterschied zwischen türkischen und syrischen Staatsbürgern, zwischen Einheimischen, Geflüchteten und Binnenvertriebenen, zwischen Türken, Arabern und Kurden. Die Unterschiede, die bei der Bewältigung der Katastrophe und im Umgang mit den Betroffenen zutage treten, sind menschengemacht. Zunächst schienen Opfer und Helfer zusammenzurücken. Rettungsteams aus Dutzenden Ländern strömten in die Türkei, syrische Vereine in Europa sammelten Geld- und Sachspenden. Die internationale Solidarität half, politische Gräben zu überwinden. Nach Monaten der Feindseligkeiten empfing der türkische Außenminister seinen griechischen Amtskollegen im Erdbebengebiet, aller territorialen Streitigkeiten zum Trotz. Die seit mehr als dreißig Jahren geschlossene türkische Grenze nach Armenien wurde für die Erdbebenhilfe des Nachbarlandes geöffnet, obwohl beide Länder nicht einmal diplomatische Beziehungen unterhalten. Ägyptens Präsident Abdel Fattah al-Sisi telefonierte zum ersten Mal überhaupt mit Syriens Machthaber Bashar al-Assad, Jordanien schickte erstmals seit 2011 seinen Außenminister nach Damaskus.
Aber kann das Erdbeben auch die in der Südtürkei und in Nordsyrien verlaufenden Konfliktlinien aufbrechen? Kann es die verhärteten Fronten zwischen den Kriegsparteien im Syrienkonflikt aufweichen? Und wird es die humanitäre Not in den Vordergrund rücken – egal, wer die Bedürftigen sind und wo sie leben? Es sieht nicht danach aus. Immer wieder werden Hilfskonvois, die innerhalb Syriens von einem Einflussgebiet in ein anderes fahren wollen, blockiert. Nach zwölf Jahren Kriegswirtschaft steht an jedem Checkpoint eine Miliz oder Armeeeinheit, die sich bereichert und einen Teil der Lieferung für ihre eigenen Leute beansprucht. Mal fordert das Regime 40 von 100 Diesellastwagen für sich, mal verlangen extremistische Gruppen 40 Prozent der Güter, mal müssen sämtliche Hinweise auf die kurdische Herkunft der Ladung entfernt werden.
Hilfe über innersyrische Konfliktlinien hinweg gestaltet sich deshalb mühsam, sinnvoller ist die Unterstützung über die Türkei – auch aus geographischen Gründen, schließlich liegen die am schwersten vom Erdbeben betroffenen Gebiete direkt an der syrisch-türkischen Grenze.
Die Führungen in Ankara und Damaskus versuchen jedoch, die Krise für sich zu nutzen. Recep Tayyip Erdoğan will wiedergewählt, Assad rehabilitiert werden – der türkische Präsident kämpft im Inneren, Syriens Machthaber nach außen. Ihr Krisenmanagement zielt deshalb darauf ab, die eigene Position zu stärken, was am besten auf Kosten des jeweils anderen geht. Kein Schulterschluss in der Not, sondern Machterhalt um jeden Preis.
Die Rolle der westlichen Sanktionen
Während Erdoğan die interne Kritik an seiner Führung rechtzeitig vor den anstehenden türkischen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen mit der Verhängung des Ausnahmezustands zum Schweigen bringen möchte, bemüht sich Assad um Normalisierung. Ausführlich berichten syrische Staatsmedien über Solidaritätsbekundungen und Hilfslieferungen aus dem Ausland – stets verbunden mit dem Hinweis, dass westliche Sanktionen die Versorgung der Erdbebenopfer behindern würden. Die Botschaft an die Syrerinnen und Syrer ist klar: Seht her, wir sind nicht allein, nur die Amerikaner und Europäer wollen uns zerstören.
Die Realität ist jedoch eine andere. Anders als im Irak in den 1990er Jahren gibt es im Falle Syriens keine umfassenden UN-Sanktionen, sondern nur Beschränkungen seitens der EU und der USA. Das Regime kann also mit Dutzenden anderen Ländern handeln, die Rohstoff- und Warenimporte aus Russland, Iran und China sicherten Assad in den vergangenen Jahren das Überleben. Für Europäer und Amerikaner ging es 2011 darum, ein Zeichen gegen die brutale Niederschlagung der Proteste zu setzen. Sie verhängten zwei Arten von Sanktionen – gegen Individuen und gegen Sektoren. Die einen zielen gegen mehrere Hundert Einzelpersonen, Unternehmen und Organisationen, die Assads Machtzirkel und dem Sicherheitsapparat nahestehen und für dessen Menschenrechtsverletzungen mitverantwortlich sind oder davon profitieren. Sie schränken den Handlungsspielraum der herrschenden Elite durchaus ein, auch wenn sie das Verhalten des Regimes insgesamt kaum beeinflussen können.
Die sektoralen Sanktionen betreffen bestimmte Wirtschaftsbereiche wie die Öl- und Gasindustrie, das Bankensystem, den Kraftwerksbau, Informationstechnologie zur Internet- und Telefonüberwachung sowie Militär- und Luxusgüter. Sie haben durchaus unbeabsichtigte negative Auswirkungen auf die Bevölkerung, vor allem im Zahlungsverkehr und bei der Energieversorgung. Deshalb sollten sie in Absprache mit der syrischen Zivilgesellschaft regelmäßig angepasst werden. Landwirtschaftliche Produkte, humanitäre Hilfe sowie Medikamente und medizinische Ausrüstung unterliegen dagegen keinen Sanktionen.
Experten verschiedener Institutionen fordern eine effektivere Umsetzung der gezielten Sanktionen, um die sektoralen Beschränkungen zum Teil aufheben zu können.[1] Denn während das Regime die Sanktionen umgeht, indem es Briefkastenfirmen mit komplexen Eigentumsverhältnissen schafft und Frachtschiffe umbenennt, leiden kleine bis mittlere Unternehmen sowie die Zivilbevölkerung unter den pauschalen Einfuhrverboten. Smart sanctions müssten Assads Schlupflöcher und Umgehungsinstrumente ins Visier nehmen, statt ganze Sektoren lahmzulegen, heißt es in den Berichten. Ein Beispiel ist der Finanzmarkt: Aus Angst vor westlichen Strafmaßnahmen lassen Banken häufig keinerlei Transaktionen mit Syrienbezug zu, selbst Spenden für die Erdbebenopfer verzögerten sich, wenn bei Überweisungen das Stichwort „Syrien“ angegeben werde, melden Hilfsvereine. Diese „Übererfüllung“ von Sanktionen schadet vor allem der notleidenden Bevölkerung und Nichtregierungsorganisationen.
Die darüber hinaus gehenden amerikanischen Bestimmungen im Rahmen des sogenannten Caesar Syria Civilian Protection Act, die seit 2020 in Kraft sind und sich gegen Dritte richten, die mit regimenahen Unternehmen oder Institutionen Geschäfte machen oder in Regimegebieten investieren wollen, wurden kurz nach dem Erdbeben für sechs Monate aufgehoben. Eine Geste des guten Willens seitens des US-Finanzministeriums, die Banken, Speditionen, Versicherungsgesellschaften sowie Fracht- und Logistikfirmen die Sicherheit gibt, für ihre Dienstleistungen im Zusammenhang mit der Erdbebenkatastrophe nicht bestraft zu werden.
Hilfsmaßnahmen für die syrischen Opfer werden folglich nicht von westlichen Sanktionen verhindert, sondern vom Regime erschwert. Seit Jahren leiden die Menschen unter der Misswirtschaft und den mafiösen Strukturen des Assad-Regimes sowie den Folgen der jahrelangen Zerstörung durch die syrische und russische Luftwaffe. Transparency International erklärte Syrien Anfang des Jahres zum korruptesten Land des Nahen Ostens. Eine generelle Aufhebung der Sanktionen würde deshalb keineswegs zu einer besseren Versorgung der Menschen führen, sondern die klientelistischen Strukturen des Regimes stärken.
Endet Assads diplomatische Isolation?
In Wirklichkeit sind es die USA und die EU – allen voran Deutschland –, die die Menschen in den Regimegebieten seit zwölf Jahren über die Hilfsprogramme der Vereinten Nationen versorgen. Diese von Assad zum eigenen Machterhalt instrumentalisierte milliardenschwere humanitäre Hilfe will das Regime nun um weitere Millionen für die Erdbebenopfer aufstocken. Es besteht darauf, dass internationale Unterstützungsangebote mit Damaskus koordiniert werden, was bedeutet, dass nicht nach Bedürftigkeit, sondern nach Loyalität verteilt wird. „Was ihr nach Damaskus schickt, ist für uns verloren“, warnte ein Helfer im Norden per Videobotschaft.
Dennoch unterstützen viele Länder das Assad-Regime direkt – nicht nur enge Verbündete wie Russland, Iran, die Hisbollah und China oder arabische Nachbarn auf Versöhnungskurs wie Irak, Libanon, Oman, Algerien und, allen voran, die Vereinigten Arabischen Emirate, die Assad bereits im März 2022 zum Staatsbesuch empfingen. Auch bislang zögerliche Staaten wie Ägypten, Saudi-Arabien und Katar schickten Hilfe, sogar Italien flog humanitäre Güter über Beirut ein. Manche Regierung scheint die Erdbebenkatastrophe als Feigenblatt nutzen zu wollen, um den Gesprächsfaden mit dem syrischen Regime nach Jahren der Funkstille wieder aufzunehmen. Wer seine Beziehungen mit Damaskus ohnehin normalisieren wollte, hat jetzt eine günstige Gelegenheit.
Auch die Tatsache, dass die UN selbst bei einer Tragödie dieses Ausmaßes darauf bestehen, alles mit dem syrischen Regime zu regeln, hat Assads Position international gestärkt. Statt Nothilfe – etwa in Form von Baggern, Bergungsgerät, Generatoren, Treibstoff, Zelten und Wasseraufbereitung – von Anfang an großzügig und ohne das übliche bürokratische Prozedere über den zunächst einzigen Grenzüberhang Bab al-Hawa nach Nordsyrien zu lassen, dauerte es vier Tage, bis der erste UN-Konvoi mit regulärer humanitärer Hilfe die Menschen erreichte. Weitere Übergänge in Bab al-Salam und al-Rai passierten die UN-Lastwagen erst, als Assad eine Woche nach dem Beben ihrer dreimonatigen Nutzung zustimmte. Dabei kontrolliert nicht das Regime diese Grenzposten, sondern die oppositionelle Syrische Nationale Armee (SNA), Erdoğans islamistische Söldner, die in dem türkisch besetzten Gebiet zwischen Afrin und Jarablus als verlängerter Arm Ankaras fungieren. Aber weil das Assad-Regime formal der offizielle Vertreter Syriens bei den Vereinten Nationen ist, sprechen UN-Funktionäre stets in Damaskus vor – auch wenn es um humanitäre Hilfe für oppositionelle Regionen geht.
So erschien Assad mit seiner Zustimmung auf einmal als großzügiger Retter in der Not – und das, obwohl er nichts von „seiner“ Hilfe abgeben musste, sondern nur erlaubt hatte, die vom Westen finanzierte UN-Unterstützung auch seinen Landsleuten in Nord-Aleppo zugute kommen zu lassen. Für das Regime offenbar ein lohnendes Zugeständnis: ein wenig mehr UN-Hilfe für die „Terroristen“ in Nordsyrien, dafür aber die internationale Erkenntnis, dass es sich lohnt, mit Assad zu reden. Nach tagelanger Kritik an ihrer Arbeit fühlten sich die Vereinten Nationen in ihrer Strategie der Einbindung bestätigt.
Entscheidend für die Zukunft der Erdbebengebiete in Syrien wird sein, wie sich das Verhältnis zwischen Ankara und Damaskus entwickelt. Hält Erdoğan an der Besatzung Nordsyriens fest? Oder zieht er seine Truppen aus den zum Teil schwer zerstörten Gebieten ab und überlässt seine oppositionellen Statthalter ihrem Schicksal bzw. Assad? Wird er das Gebiet der Autonomen Verwaltung Nord- und Ostsyrien (AANES) – vereinfachend als kurdische Selbstverwaltung oder Rojava bezeichnet – weiter mit Drohnen und Artillerie angreifen lassen, um das PKK-nahe kurdische Autonomieprojekt zu zerstören? Oder einigt er sich lieber mit Assad auf eine schleichende Übernahme der Region durch das Regime? Und was wird aus den Millionen syrischen Geflüchteten in der Türkei? Wohin sollte die Regierung in Ankara sie zurückschicken, wenn auf der syrischen Seite der Grenze schon jetzt Millionen Menschen kein festes Dach über dem Kopf haben? Erdoğans Plan, in den türkisch besetzten Gebieten entlang der Grenze Unterkünfte für zurückkehrende Syrerinnen und Syrer zu bauen, hat sich durch das Erdbeben erledigt – die türkische Baubranche wird in nächster Zeit mit dem Wiederaufbau in der Südtürkei beschäftigt sein.
Annäherung zwischen Ankara und Damaskus
Wie also geht es weiter zwischen Erdoğan und Assad? Vor dem Erdbeben hatte der türkische Präsident sich um Annäherung bemüht – nach zwölf Jahren Eiszeit, in denen Erdoğan seinen ehemaligen Urlaubspartner Assad als „Massenmörder“ bezeichnete und vor allem islamistische Aufständische wie Oppositionelle unterstützte. Ende Dezember 2022 hatten sich die Verteidigungsminister und Sicherheitschefs beider Länder mit ihren russischen Amtskollegen in Moskau getroffen, Mitte Februar sollten die drei Außenminister zusammenkommen, und noch vor den türkischen Wahlen im Frühsommer wollte Erdoğan Assad die Hand schütteln.
Hinter dieser Kehrtwende steckt allerdings weniger der Wunsch nach Frieden und Aussöhnung als vielmehr das Machtkalkül zweier Autokraten, die im Syrienkonflikt seit Jahren erfolgreich ihre Interessen durchsetzen und dabei einen extrem pragmatischen Umgang miteinander pflegen: Russlands Staatschef Wladimir Putin und Präsident Erdoğan. Moskau und Ankara stehen in Syrien auf gegnerischen Seiten: Putin sichert Assad politisch und militärisch die Macht, gemeinsam mit dem Iran, dessen Bodentruppen weite Teile des Landes für Assad zurückerobert haben. Erdoğan hingegen bewaffnet und trainiert die islamistischen Kämpfer der SNA und beherbergt in der Türkei mit der Nationalen Koalition das größte Bündnis der Assad-Gegner. Beide Seiten – Assad-Regime und Exil-Opposition – wären ohne ihre ausländischen Schutzpatrone nicht mehr da.
Alle drei Interventionsmächte – Russland, Iran und die Türkei, die sich seit 2017 im sogenannten Astana-Format absprechen – stehen aktuell unter großem Druck. Moskau kämpft mit unerwartetem Widerstand in der Ukraine, Teheran mit anhaltenden Protesten, Ankara mit den Folgen des Erdbebens und einer schweren Wirtschaftskrise. Diese Bedrohungslage führt zu taktischen Verschiebungen, die die Lage in der Region nachhaltig verändern könnte – ganz im Sinne der drei Regime.
Bisher waren die Rollen in Syrien klar verteilt. Während der Iran sich darauf konzentriert, eigene Militärstrukturen in Zentral- und Südsyrien aufzubauen, um die Nachschubwege zur libanesischen Hisbollah zu sichern und Israel entgegenzutreten, managen Putin und Erdoğan den Norden des Landes. Dort befinden sich noch immer große Gebiete außerhalb der Kontrolle des Regimes. Im Nordwesten herrscht in der vom Erdbeben besonders betroffenen Provinz Idlib die Extremistengruppe Hayat Tahrir al-Sham (HTS). Millionen Zivilisten haben hier Zuflucht gefunden, als ihre Heimatorte zwischen 2016 und 2020 wieder unter die Kontrolle von Assads Schergen fielen. Eigentlich will das syrische Regime Idlib mit russischer Luftunterstützung zurückerobern, doch aus Angst vor einer erneuten Fluchtbewegung in Richtung Türkei hat die Regierung in Ankara eigene Soldaten stationiert und mit der Führung in Moskau Anfang 2020 einen Waffenstillstand verabredet. Dieser ist zwar brüchig, hat aber eine Offensive Assads bislang abgewendet.
Entlang der Grenze, zwischen der kurdisch geprägten und jetzt schwer zerstörten Region um Afrin und dem Ort Ras al-Ain (auf Kurdisch Serê Kaniyê), besetzt Erdoğan mit Hilfe seiner syrischen Söldnermilizen und oppositionellen Statthalter Gebiete, die er in drei Militärinterventionen 2016, 2018 und 2019 völkerrechtswidrig eingenommen hat. Diese gehörten größtenteils zum Einflussbereich der kurdisch dominierten AANES, die im Nordosten fast ein Drittel des syrischen Staatsgebietes kontrolliert. Ihre bewaffneten Truppen, die Volksverteidigungseinheiten (YPG), sind Verbündete des Westens im Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat (IS). Erdoğan betrachtet die YPG wegen ihrer ideologischen und organisatorischen Verbindungen zur PKK jedoch als Terroristen und will die AANES zerschlagen. Seit Sommer letzten Jahres führt Ankara einen Drohnenkrieg gegen Vertreter der Selbstverwaltung, bei dem regelmäßig Zivilisten sterben. Während einer dreiwöchigen Militäroffensive Ende November und Anfang Dezember 2022 zerstörten türkische Kampfjets und Raketen auch Infrastruktur, darunter ein Krankenhaus, ein Elektrizitätswerk, ein Getreidesilo und ein Gasverteilungszentrum.
Einzige Lebensversicherung der Kurden ist eine bescheidene US-Präsenz in Nordostsyrien, die bei der Einhegung des IS hilft. Aus Sicht Washingtons ein lohnendes Engagement, weil es mit wenig Mitteln – 800 Soldaten – einen der wenigen außenpolitischen Erfolge der vergangenen Jahre zementiert: den Sieg über den IS.
In diese Gemengelage kam zuletzt Bewegung. Angesichts westlicher Sanktionen infolge seines Angriffs auf die Ukraine ist Putin auf Verbündete angewiesen, die Türkei nimmt dabei eine Schlüsselrolle ein. Sie ist Mitglied der Nato, kontrolliert am Bosporus den Zugang zum Schwarzen Meer, vermittelt im Ukrainekrieg und hat einen machtbewussten Präsidenten, mit dem Moskau seit Jahren pragmatische Deals schließt. Wie krisenfest das russisch-türkische Verhältnis ist, zeigt sich in Syrien. Selbst bei militärischen Zusammenstößen bleiben Putin und Erdoğan im Gespräch, etwa Ende Februar 2020, als 36 türkische Soldaten durch russische Luftangriffe sterben und keine drei Wochen später die Militärs beider Länder gemeinsam auf Patrouille gehen. Ende 2015 schießt die Türkei einen russischen Kampfjet ab, auf scharfe Rhetorik und ein russisches Import- und Reiseverbot folgt Monate später Schulterklopfen, zwei Jahre später kauft Ankara das russische Luftabwehrsystem S-400. So flexibel sind Autokraten, die sich in einer multipolaren Weltordnung nicht zwischen Nato und Russland, zwischen Amerikanern und Chinesen entscheiden wollen, sondern durch Austarieren ihrer Kontakte außenpolitische Unabhängigkeit generieren. Putin weiß das zu schätzen und möchte Erdoğan zur Wiederwahl verhelfen.
Erdoğans Kalkül
Der türkische Präsident ist nach außen mächtig wie nie, weil alle ihn brauchen, im Inneren war er jedoch schon vor dem Erdbeben angeschlagen, seine Wiederwahl erscheint keineswegs sicher. Neben dem schlechten Krisenmanagement während der Erdbebenkatastrophe, den Versäumnissen bei der Einhaltung von Bauvorschriften und der Frage, wo die Einnahmen aus der Erdbebensteuer hingeflossen sind, dominieren drei Themen den Wahlkampf – die miserable wirtschaftliche Lage, die fast vier Millionen syrischen Geflüchteten, die dafür verantwortlich gemacht und zunehmend angefeindet werden, und die als existenzielle Bedrohung hochstilisierte kurdisch geprägte Autonomieregion in Nordostsyrien. Zwei der Themen haben also mit Syrien zu tun und ließen sich laut Putin zusammen mit Machthaber Assad lösen. Würde Ankara seine Beziehung zu Damaskus normalisieren, könnten sowohl die Rückführung von Geflüchteten als auch die Zerschlagung der AANES ausgehandelt und gemeinsam betrieben werden, so das russische Argument.
In seinem unbedingten Willen, die Wahlen zu gewinnen, war Erdoğan deshalb bereit, über seinen Schatten zu springen und Assad die Hand zu reichen. Kein überraschendes, sondern ein für Autokraten typisches Verhalten, da es ihnen nicht um Ideologie, Werte oder strategische Bündnisse geht, sondern stets um den eigenen Machterhalt. Den Wählern konnte sich Erdoğan als pragmatischer Führer präsentieren, dem das Wohl des türkischen Staates wichtiger ist als eigene Befindlichkeiten und der deshalb sogar bereit war, sich mit einem „Massenmörder“ auszusöhnen.
Durch das Erdbeben ist die schrittweise Annäherung jedoch ins Stocken geraten. Erdoğan kann es sich politisch nicht leisten, Solidarität mit den Menschen in Syrien zu zeigen, schließlich gelingt ihm nicht einmal die Versorgung der eigenen Bevölkerung. Zugleich sieht Assad, dass seine Rehabilitierung auch ohne den türkischen Staatschef voranschreitet und wie angeschlagen dieser intern ist. Er könnte es deshalb vorziehen, das Ergebnis der Wahlen in der Türkei abzuwarten – zumal die mehrheitlich nationalistische Opposition im Falle eines Wahlsiegs eine schnelle Einigung mit dem Regime in Damaskus angekündigt hat.
Im Zuge eines solchen Abkommens wird Assad auf einen Abzug der türkischen Truppen aus Nordsyrien bestehen – eine Forderung, der die Regierung in Ankara womöglich nachkommen könnte. Denn die türkisch besetzten Gebiete entlang der Grenze sind vom Erdbeben schwer zerstört und so zu einer weiteren Belastung für die Türkei geworden. Das syrische Regime müsste umgekehrt zusagen, den Nordosten wieder komplett unter seine Kontrolle zu bringen, das kurdisch dominierte Autonomieprojekt aufzulösen und die YPG in die syrische Armee einzugliedern.
Bleibt das Problem der Geflüchteten. Wohin sollen die in der Türkei lebenden Syrerinnen und Syrer zurückkehren, wenn Assad ganz Nordsyrien kontrolliert?
Vertriebene ohne Zuflucht
Die meisten von ihnen sind vor der Gewalt des Regimes geflohen. Sobald entlang der Grenze wieder dessen Geheimdienste das Sagen haben, droht Rückkehrenden Verfolgung, Erpressung, Zwangsrekrutierung, Gefangennahme, Folter und Tod. Die anvisierte Lösung könnte ausgerechnet im Erdbebengebiet Nordwestsyriens liegen. Idlib könnte zum Sammelbecken für Syrien-Heimkehrer werden – in Schach gehalten von den HTS-Extremisten, humanitär notdürftig versorgt durch die Vereinten Nationen.
Schon jetzt kehren Tausende Syrer in ihrer Verzweiflung nach Idlib zurück. Sie haben durch das Beben alles verloren und wissen im Gegensatz zu den Einheimischen nicht, wohin; bei der Vergabe von Zelten und Hilfsgütern würden türkische Staatsbürger bevorzugt, erzählen sie. Manche haben Angst, dass die verbalen Anfeindungen zunehmend in offene Aggression umschlagen, nachdem einzelne Syrer als Plünderer beschuldigt und von rassistischen Paramilitärs bedroht und verprügelt wurden. Auf der syrischen Seite erwartet sie zwar nicht mehr Hilfe von außen, dafür können sie auf die Unterstützung von Familie und Freunden sowie die Solidarität der eigenen Landsleute zählen.
Die türkische Regierung hat zugesagt, vorübergehend heimkehrende Syrerinnen und Syrer innerhalb eines Zeitraumes von drei bis sechs Monaten wieder zurück in die Türkei zu lassen. Ob sie dieses Versprechen einhält, hängt in Wahlkampfzeiten auch vom Druck der Öffentlichkeit ab. Viele türkische Menschen fordern angesichts der eigenen Krise eine Rückkehr der Geflüchteten nach Syrien. Von den vier Millionen Syrerinnen und Syrern in der Türkei leben mehr als 1,7 Millionen in den vom Erdbeben zerstörten Gebieten – am 6. Februar ist aus ihrem Zufluchtsort ein Schauplatz der Apokalypse geworden, mal wieder.
[1] Karam Shaar und Said Dimashqi, US sanctions on Syria aren’t working. It’s time for a new sanctions approach that minimizes humanitarian suffering and increases leverage, www.atlanticcouncil.org, 13.1.2023; The Effectiveness of Sanctions as a Tool for Accountability and Behavioural Change Among Syrian Businesspersons in The Syrian Context, www.sldp.ngo, Oktober 2021; Wael Alalwani und Karam Shaar, A Comprehensive Review of the Effectiveness of US and EU Sanctions on Syria, www.mei.edu, 6.8.2021.