
Bild: Deutschlandticket, 25.2.2023 (IMAGO / aal.photo)
Deutschlandticket“ – so heißt nach langen Verhandlungen nun der Nachfolger des beliebten Neun-Euro-Tickets. Mit einer Verspätung von fünf Monaten tritt zum 1. Mai die neue Regelung in Kraft: Für 49 Euro können Kund:innen dann das neue Ticket im monatlichen Abo erwerben und dafür in ganz Deutschland mit dem Nahverkehr fahren.[1] Ein Vorteil des Neun-Euro-Tickets bleibt damit erhalten: Das Bahnreisen wird einfacher. Vor allem da, wo Passagiere Grenzen von Verkehrsverbünden überschreiten, reicht nun ein einziger Fahrschein aus. Den wichtigsten Erfolgsfaktor des Neun-Euro-Tickets setzt Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) jedoch außer Kraft – den aus sozialen wie ökologischen Gründen unschlagbaren Preis.
Dabei war das Neun-Euro-Ticket eine beispiellose Erfolgsgeschichte. Über 52 Millionen Mal verkauften die Verkehrsverbünde und die Bahn das Ticket im Aktionszeitraum von Juni bis August 2022. 70 Prozent der Menschen in Deutschland fanden das Angebot „sehr attraktiv”.[2] Und in einer Nachbefragung gab knapp die Hälfte der armutsgefährdeten Menschen in Deutschland an, das Ticket habe sie finanziell stark entlastet.[3] Besonders für alleinerziehende oder chronisch kranke Menschen vereinfachte das Ticket den Alltag. Fahrten zum Arzt oder das Abholen der Tochter von der Schule waren keine Fragen des Geldes mehr, sondern selbstverständlich möglich. Gerade in Zeiten der Inflation, in denen die finanziellen Mittel in den unteren Einkommensgruppen und bei Menschen im ALG- oder Sozialhilfe-Leistungsbezug schon für Lebensmittel knapp werden, reduziert günstige Mobilität die Alltagssorgen und ermöglicht gesellschaftliche Teilhabe. Denn Fahrten zum Arzt, zur Arbeit oder Ausbildung sind auch für Menschen in prekären Lagen existenziell.
Durch das Deutschlandticket ist damit Schluss: Der Preis von 49 Euro ist für Menschen, die an der Armutsgrenze leben, schlicht nicht bezahlbar. Er ist darüber hinaus an die Inflation gekoppelt und wird folglich in den nächsten Jahren weiter steigen. Im Bürgergeld-Satz für 2023 sind für „Verkehr“ 45,02 Euro veranschlagt. Ein Preis von 49 Euro für ein Monatsticket ist daher offensichtlich zu hoch, da er die anderen Ausgabeposten verringert – insbesondere, wenn man weitere Fahrten oder zusätzliche Kosten durch andere Verkehrsmittel wie Fahrradreparaturen oder eine Autofahrt einbezieht. Die Regelsätze sind zudem insgesamt so knapp bemessen, dass man schon jetzt nicht davon ausgehen kann, dass die 45 Euro vollständig für Mobilität eingesetzt werden können. Gerade in Zeiten der Inflation, in denen Preise für Grundnahrungsmittel stark steigen, müssen diese aus anderen Bereichen des Regelsatzes querfinanziert werden.
Ein bundesweit vergünstigtes Sozialticket ist jedoch bisher nicht geplant. Stattdessen beginnt jetzt die Kleinstaaterei von Neuem: Berlin, Hessen, Bayern und NRW planen bereits ihre eigenen Sozialtarife. Dabei würde sich ein günstigeres Ticket sogar für die Verkehrsverbünde rechnen: Laut einer von Greenpeace in Auftrag gegebenen Studie würde mit einem 29-Euro-Ticket deutlich mehr Geld eingenommen. Denn bei einem geringeren Preis kaufen sich mehr Menschen das Abo – zum Teil sogar, ohne das Angebot regelmäßig zu nutzen.[4]
Das 49-Euro-Ticket beendet aber nicht „nur“ die wirksame Entlastung für armutsbetroffene Menschen, sondern auch eine der erfolgreichsten Klimaschutzsofortmaßnahmen der Ampel-Regierung. 17 Prozent der Neun-Euro-Ticket-Nutzer:innen gaben in Befragungen an, dass sie von anderen Verkehrsmitteln auf den ÖPNV umgestiegen seien. Ein Zehntel der Nutzer:innen meinte sogar, dass sie auf mindestens eine tägliche Autofahrt verzichtet hätten. Im Ergebnis sparte das Neun-Euro-Ticket so in drei Monaten 1,8 Mio. Tonnen CO2 ein – soviel wie ein Tempolimit in einem ganzen Jahr.[5]
Auch diese Klimawirkung geht mit dem Deutschlandticket laut Umfragen verloren.[6] Denn der Effekt war maßgeblich auf die breite Nutzung des Tickets in allen Einkommensgruppen zurückzuführen. Wer nun aber nicht regelmäßig mit dem ÖPNV pendelt, für den lohnt sich das 49-Euro-Ticket schlicht nicht. Die finanziellen Anreize für wohlhabende Menschen, öfter den ÖPNV zu nutzen, fallen damit weg – doch genau darin bestand der Beitrag zum Klimaschutz.
Das Neun-Euro-Ticket machte für Millionen Menschen greifbar, dass klimagerechte Politik nicht in erster Linie ein Weniger oder Teurer bedeuten muss und Wohlstand in einer Gesellschaft, die das Klima schützt, kollektiv – und nicht individuell – organisiert werden kann. Es ist möglich, gleichzeitig ein Mehr an Mobilität zu ermöglichen und den klimaschädlichen PKW-Verkehr zurückzudrängen. In dieser Hinsicht war es ein riesiger sozial-ökologischer Erfolg und ein wichtiger Beitrag zur Verkehrswende.
Wie gewonnen so zerronnen
Mit der Einführung des Deutschlandtickets gehen diese Errungenschaften nun – zumindest vorerst – wieder verloren. Obwohl sich knapp 80 Prozent der Deutschen im Juli vergangenen Jahres eine Fortsetzung des Neun-Euro-Tickets wünschten,[7] gelang es den progressiven Akteur:innen in Regierung und Zivilgesellschaft nicht, genug Druck aufzubauen, um das Ticket dauerhaft zu verlängern. Dieses Scheitern hat mehrere Gründe.
Als die Parteien der Ampelkoalition vor einem Jahr über Entlastungsmaßnahmen für die Bevölkerung beratschlagten, befand sich das Land im Krisenmodus. Niemand konnte sicher einschätzen, wie sich die gestiegenen Energiepreise auswirken würden. Verschiedene Angstszenarien kursierten – von frierenden Bürger:innen im Winter über eine drohende ökonomische Rezession bis hin zu rechtspopulistischen Hochkonjunkturen unter den Stichworten „heißer Herbst” und „Wutwinter”. Unter diesem Druck verhandelten die Parteien jeweils für ihre Klientel: Die FDP wollte den Tankrabatt, die SPD ein pauschales Energiegeld und die Grünen vor allem den Tankrabatt verhindern. Die Idee zur Einigung zwischen FDP und Grünen kam schließlich aus dem Verkehrsministerium: ein zeitlich begrenztes, günstiges Ticket für den Nahverkehr, das Einstiegshürden senkt und die Bürger:innen entlastet.[8]
Aufgrund dieser speziellen, quasi aus der Angst geborenen Einführungsgeschichte gab es nach Ende des vereinbarten Aktionszeitraums weder für die Grünen noch für die FDP große Anreize, das Ticket fortzuführen. Der FDP war es in der öffentlichen Wahrnehmung entglitten. Der Erfolg wurde den Grünen zugeschrieben und sogar gegen FDP-Finanzminister Christian Lindners Herzensmaßnahme, den Tankrabatt, ausgespielt. Innerhalb der Grünen Partei wiederum lag der Schwerpunkt in der Verkehrspolitik schon immer eher auf dem Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs. Forderungen nach einem ticketfreien Nahverkehr oder einem sehr geringen Preis blieben auf Modellprojekte beschränkt und damit zumeist unter der Wahrnehmungsgrenze. Infolgedessen gab es bei den Grünen neben wenigen Verfechter:innen des Tickets viele Skeptiker:innen. Sie wollten das Geld lieber in den Ausbau des Schienennetzes stecken und sahen die Bahn mit dem Neun-Euro-Ticket überfordert. Schlussendlich machten deshalb weder die FDP noch die Grünen die Verstetigung des Tickets zu ihrem Kernanliegen.
Die überrumpelte Bewegung
Hinzu kommt ein zweiter wichtiger Punkt: Anders als viele progressive Erfolge der letzten Jahre – vom Atom- bis zum Kohleausstieg – war das Neun-Euro-Ticket nicht die gesetzgeberische Konsequenz eines langfristigen gesellschaftspolitischen Prozesses, sondern die eiligst zusammengeschnürte Maßnahme der Regierung im Angesicht massiv steigender Energiepreise. Die Verkehrswendebewegung wurde von der Einführung völlig überrascht. Niemand hatte bisher ein solches Ticket gefordert. Entsprechend uneinig waren sich die Aktivist:innen, wie das Neun-Euro-Ticket zu bewerten sei.
Der Thinktank AGORA Verkehrswende befürchtete einen Rebound-Effekt: Bahnfahren wird billiger, führt damit zu mehr Mobilität statt zum massenhaften Umsteigen vom Auto auf den ÖPNV und hätte dadurch sogar eine negative Klimabilanz.[9] Andere Akteure fürchteten fast den Erfolg des Tickets und argumentierten, dass Nah- und Regionalverkehr nicht zum Fernverkehr werden dürften. Die Bahn und ihre Beschäftigten würden den Massen an Reisenden nicht standhalten und überfüllte Züge die Menschen abschrecken. Das Image des öffentlichen Nahverkehrs könnte so nachhaltig Schaden nehmen.[10] Auch Ad-hoc-Kampagnen, wie „9-Euro-Ticket weiterfahren”[11] gelang es nicht, eine breit geteilte Kernforderung aufzubauen und so einer zaudernden Ampelkoalition eine große gesellschaftliche Mobilisierung entgegenzustellen.
Hinzu kam auch noch die Skepsis der Gewerkschaften. Hatten sich Verdi und die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG anfangs noch hinter das Ticket gestellt, wuchs ihre Kritik mit der Belastung der Beschäftigten. Weder das marode Schienennetz noch die eher dünn besetzten Schichtpläne der Betreiber waren auf den Ansturm der Reisenden gut vorbereitet. Insbesondere die EVG wurde mit der Zeit immer unzufriedener und kritisierte, dass es an den nötigen Rahmenbedingungen fehle und „Personal verschlissen” werde. Gegen Ende des Angebots positionierte sie sich sogar explizit gegen eine Verlängerung.[12] Auch Verdi sprach sich gegen eine „Billiglösung zulasten der ÖPNV-Betriebe“ aus, forderte aber zugleich eine Anschlusslösung und Weiterentwicklung des Neun-Euro-Tickets.[13]
Am Ende standen sich Klima- und Sozialpolitik in der öffentlichen Wahrnehmung antagonistisch gegenüber – eine fatale Konstellation, die weder im Interesse der Beschäftigten noch der Klimabewegung ist, welche einer breiten Unterstützung in allen Gesellschaftsschichten bedarf.
Das neue Deutschlandticket trägt nun wieder ganz die Handschrift der FDP: den „Tarif-Dschungel“ vereinfachen, Bürokratie abbauen und das Ticket digitalisieren. Gewiss, das sind Fortschritte. Doch die entscheidenden Klimaschutz- und Gerechtigkeitseffekte fehlen. Was jedoch vom Neun-Euro-Ticket bleibt – als quasi ungewolltes Erbe der FDP-Einführung –, ist ein Paradebeispiel dafür, wie der ökologische Umbau sozial gerecht gelingen kann.
Klimaschutz wird dann zum Mehrheitsprojekt, wenn er nicht in erster Linie höhere Preise und weniger Lebensqualität bedeutet, sondern wenn relevante Teile der Bevölkerung erleben, wie sich ihr Alltag durch Klimaschutz merklich verbessert: Mobilität wurde durch das Neun-Euro-Ticket für viele Menschen einfach, günstig und kollektiv.
Und fast nebenbei hatte es eine positive Klimawirkung. Sogar defekte Toiletten und volle Züge nahmen die Menschen im Aktionszeitraum gelassen hin. Hier zeigt sich, dass die Bereitschaft, vom Individualverkehr auf den öffentlichen Nahverkehr umzusteigen, in der Bevölkerung groß ist, wenn Bus und Bahn günstig sind und es das Gefühl von gesellschaftlichem Aufbruch gibt.
Das Neun-Euro-Ticket machte nicht zuletzt erfahrbar, wie in Zeiten wachsender Ungleichheit klimagerechte Mobilität für alle gewährleistet werden kann. Doch der politische Prozess rund um das Neun-Euro-Ticket zeigt auch, dass langfristige Verbesserungen nur mit gesellschaftspolitischer Unterstützung und dem Zusammenspiel aus Zivilgesellschaft, Gewerkschaften und Parteien gelingen können. Ist dies nicht gegeben, drohen einzelne progressive Akteure gegeneinander ausgespielt zu werden.
Wie ein derartiger Bündnisprozess aussehen könnte, zeigen die aktuellen gemeinsamen Streiks von Fridays for Future und Verdi im Rahmen der Tarifverhandlungen der Bus- und Bahnfahrer:innen im ÖPNV. Wichtig für eine sozial-ökologische Umsetzung der Verkehrswende wird auch sein, ob Initiativen und Verbände armutsbetroffener Menschen an den Bündnissen beteiligt sind. Denn die Verkehrswende kann nur gelingen, wenn weder günstiger ÖPNV mit positiver Klimawirkung auf Kosten der Beschäftigten noch Klimaschutz und gute Arbeitsbedingungen zulasten armer Menschen durchgesetzt werden.
Mit dem Neun-Euro-Ticket hat die FDP unfreiwillig ein Lehrstück für die sozial-ökologische Transformation geschaffen. Denn das Ticket räumt mit zwei Vorurteilen auf: erstens, dass die ökologische Transformation nur etwas für Reiche sei, und zweitens, dass Umverteilung zu mehr Individualkonsum führe und deshalb im Ergebnis dem Klima schade. Das Neun-Euro-Ticket zeigt stattdessen, wie kollektiver Reichtum beschaffen sein kann: als gute Infrastruktur, die alle gemeinsam nutzen können – und die deshalb überproportional die Lebensqualität derer verbessert, die normalerweise von einem „guten Leben“ ausgeschlossen sind. Gesellschaftliche Bündnisse zu schließen, die eine solche kollektive und klimagerechte Mobilität erkämpfen – genau darum muss es in Zukunft gehen.
[1] Deutsche Bahn, www.bahn.de/angebot/regio/deutschland-ticket, 2023.
[2] DB, Die Verkehrsverbünde (VDV), Deutschland steigt ein. Abschlussbericht zur bundesweiten Marktforschung, 16.12.2022, S. 12; VDV, Bilanz zum 9-Euro-Ticket, www.vdv.de, 29.8.2022.
[3] DB, Die Verkehrsverbünde (VDV), a.a.O., S. 12.
[4] Greenpeace, Billiger ist besser. Warum ein Klimaticket für 29 Euro den Staat nicht mehr als ein 49-Euro-Ticket kostet, aber Haushalte viel mehr entlastet, www.greenpeace.de, Oktober 2022.
[5] DB, Die Verkehrsverbünde (VDV), a.a.O., S. 182; VDV, a.a.O.
[6] Katja Gelinsky, Deutschlandticket: Das 49-Euro-Ticket ist vielen wohl zu teuer, www.faz.de, 5.2.2023.
[7] 9-Euro-Ticket. Knapp 80 Prozent der Deutschen wollen eine Fortsetzung, www.stuttgarter-nachrichten.de, 22.7.2022.
[8] Valerie Höhne, Wer hat’s erfunden? Verwirrung um Urheber des 9-Euro-Tickets, www.tagesspiegel.de, 4.11.2022.
[9] Öffentlicher Nahverkehr. Interessenverband: Keine Verkehrswende durch 9-Euro-Ticket, www.mdr.de, 8.8.2022.
[10] Retrospektiv zeigte sich das Gegenteil: Das Image des ÖPNV verbesserte sich im Aktionszeitraum sogar. Vgl. DB, Die Verkehrsverbünde (VDV), a.a.O., S. 12.
[11] 9-Euro-Ticket weiter fahren, www.9-euro-ticket-weiterfahren.de.
[12] EVG, Zentrale Fachgruppe Nahverkehr: Personal verschlissen – 9-Euro-Tickets nicht verlängern!, www.evg-online.org, 11.8.2022.
[13] Ver.di, Breites Bündnis fordert Anschlusslösung zum 9-Euro-Ticket, www.tk-it.verdi.de.