Ausgabe Mai 2023

Das unlösbare Dilemma

75 Jahre Israel und die Zukunft der ethnischen Demokratie

Protest gegen die Justizreform des israelischen Premierministers Benjamin Netanjahu, Tel Aviv, Israel, 1.4.2023 (IMAGO / ZUMA Wire / Eyal Warshavsky)

Bild: Protest gegen die Justizreform des israelischen Premierministers Benjamin Netanjahu, Tel Aviv, Israel, 1.4.2023 (IMAGO / ZUMA Wire / Eyal Warshavsky)

Am 14. Mai dieses Jahres jährt sich die Gründung des Staates Israel zum 75. Mal – und angesichts der radikalen Reformvorhaben der Regierung Netanjahu wird im In- und Ausland nur noch vom möglichen Ende der israelischen Demokratie gesprochen. Hunderttausende Israelis demonstrieren seit Bekanntwerden der Pläne gegen die Regierung. Und die Liste derjenigen, die vor den Folgen dieser Reform warnen, die fürchten, dass Israel bald ein Staat werden könnte wie Ungarn, Polen oder die Türkei, diese Liste wird lang und länger.

Tatsächlich aber stellt sich eigentlich eine noch fundamentalere Frage: Was macht eine Demokratie überhaupt aus? Und wie begreift, wie definiert sich die israelische Demokratie?

Jeder weiß, dass Demokratien in jedem Land anders aussehen und anders funktionieren. Bereits zwischen Frankreich und Deutschland gibt es entscheidende Unterschiede. Frankreich ist eine Präsidialdemokratie, Deutschland nicht. Frankreich ist laizistisch, Deutschland säkular. Frankreich ist zentralistisch, Deutschland föderalistisch. In Frankreich galt seit jeher das Ius soli, auch Geburtsortprinzip genannt, das heißt, wer in Frankreich geboren wird, ist automatisch französischer Staatsbürger; in Deutschland galt bis Anfang der 2000er Jahre das Ius sanguinis oder Abstammungsprinzip, man musste also „vom Blute“ her bereits Deutscher sein, um direkt bei der Geburt die deutsche Staatsbürgerschaft zu bekommen.

Die Unterschiede ließen sich beliebig fortsetzen. Doch letztendlich einen die meisten Demokratien westlicher Prägung einige wichtige Prinzipien. Politische Gleichheit ist ein konstitutives Element der Staatsbürgerschaft in einer liberalen Demokratie. Der Nationalismus ist hier eine Art bürgerlicher Nationalismus jenseits ethnischer Identitäten. Vor allem behauptet diese Demokratieform, dass alle Bürger zur dominanten Kultur des Staates gehören. Dass diesen Idealen inzwischen selbst westeuropäische Staaten in der Praxis nicht mehr unbedingt entsprechen, ist Ausdruck einer Krise, die Fragen aufwirft, ob dieses Ideal in der Realpolitik auf Dauer funktionieren kann. Manche Staaten entwickeln sich daher zu multikulturellen Demokratien, die wiederum andere Regelungen für das Zusammenleben unterschiedlicher Ethnien entwickelt haben, beispielsweise Kanada, das ein grundlegend anderes Einwanderungs- und damit auch Staatsbürgerschaftsrecht hat als viele andere liberale Demokratien.

Was bedeutet Demokratie in Israel?

Die Definition Israels als „ethnische Demokratie“ beschreibt die Realität ziemlich gut. Das Englische „The Jewish nation state“ ist dabei präziser als das deutsche „der jüdische Staat“.

Vor 75 Jahren wurde ein jüdischer Staat gegründet, von Menschen, die als Schicksals- und Glaubensgemeinschaft in der ganzen Welt verstreut und durch eine gemeinsame Hoffnung, ein gemeinsames Ziel verbunden gewesen waren. Die Gründung des jüdischen Staates ist einzigartig in der Geschichte der Menschheit, weil sie von einer metaphysischen Idee getragen war, der Rückkehr nach Zion nach 2000 Jahren. Es war nicht die Selbstermächtigung einer Bevölkerung, die auf ein und demselben Fleckchen Erde lebte und sich jetzt unabhängig machte. Es war nicht die Veränderung eines bereits existierenden Staates, beispielsweise von einer Monarchie zu einer Demokratie, es war nicht der freiwillige oder unfreiwillige Zusammenschluss eines Staatenverbundes. Die Gründung Israels, die in der Unabhängigkeitserklärung ein klares Bekenntnis zu einer freiheitlich-liberalen und demokratischen Gesellschaftsordnung formulierte, war nicht weniger als die „Fleischwerdung“ eines Traums, vergleichbar vielleicht nur noch mit der Gründung der USA, die ja ebenfalls von einer Idee ausging.

Für die nichtjüdische Welt, insbesondere in Europa, war das Entstehen Israels vor 75 Jahren eine Provokation. Denn es kippte nicht zuletzt ein Jahrhunderte altes Bild „des Juden“ auf den Müllhaufen der Geschichte und hielt der nichtjüdischen, antisemitischen Welt einen Spiegel vor. „Der Jude“ hatte plötzlich Muskeln, Waffen, war aggressiv, wehrte sich und beging, ja, auch das, Verbrechen. „Der Jude“ war in die Geschichte zurückgekehrt. Als Akteur. Nicht mehr als Opfer, nicht mehr als bleiches Wesen, das sich als „Geldwechsler“ oder „Talmudgelehrter“ in den kruden, von Vorurteilen bestimmten Köpfen einer intoleranten, feindlich gesinnten Mehrheitsgesellschaft festgesetzt hatte. Als Opfer der Massenabschlachtung seines Volkes, noch drei Jahre vor der Gründung des jüdischen Staates, als „der Jude“ längst nur noch zu Zahlen oder „Ratten“ mutiert war.

„Solange noch im Herzen eine jüdische Seele wohnt und nach Osten hin, vorwärts, ein Auge nach Zion blickt, solange ist unsere Hoffnung nicht verloren, die Hoffnung, zweitausend Jahre alt, zu sein ein freies Volk, in unserem Land, im Lande Zion und in Jerusalem!“, so lautet der Anfang des Textes der Nationalhymne Israels. Was in Israel geschieht, ist die klare Propagierung des zionistischen Ideals von vor der Staatsgründung und damit eines jüdischen und nicht israelischen Nationalismus, der alle Bevölkerungsgruppen beinhalten würde. Selbst wenn Araber in Israel über eigene Institutionen in Sachen Religion, Medien, Kultur, Erziehung und sogar in der Kommunalpolitik verfügen, so werden diese dennoch vom Staat kontrolliert. Die ethnische Mehrheit setzt ihre nationalen Ideologien um, die schon vor der Staatsgründung existierten. Die „israelischen Araber“ machen zwanzig Prozent der Bevölkerung des jüdischen Staates aus. Damit steht ein Fünftel der Staatsbürger unter Dauerverdacht, gegen den Staat zu agitieren, möglicherweise sogar mit Waffengewalt und Terror. Das geschieht auch immer wieder, wenngleich sehr viel seltener, als Rechtsnationale dies darstellen.

Das Misstrauen gegenüber den arabischen Israelis wird geschürt und wächst, und zwar reziprok zu einer anderen Entwicklung: Mehr und mehr israelische Araber werden Teil der israelischen Kultur, ob sie wollen oder nicht, ob die jüdischen Israelis das wollen oder nicht.

1948 oder: Fünf arabische Armeen gegen den israelischen Staat

In der Folge des Unabhängigkeitskrieges von 1948 standen die rund 150 000 Araber, die damals in Israel geblieben waren, bis 1966 unter Militärrecht. Mit den Idealen einer Demokratie, gar einer Demokratie aller seiner Bürger, hatte das natürlich nichts zu tun. Aber die Situation war einzigartig.

Fünf arabische Armeen hatten sich 1948 gegen Israel verbündet und versucht, den jüdischen Staat zu zerstören, noch ehe er so richtig existierte. Im Verlauf dieses Krieges flohen rund 750 000 Araber aus dem Gebiet, das heute als Kernland Israels bezeichnet wird. Sie wurden von den Israelis vertrieben, es gab aber auch Aufrufe zur Flucht von arabischen Staaten, damit die arabische Armee durchmarschieren könnte, um die Zionisten zu vernichten.

Doch nicht alle Araber flohen oder wurden vertrieben. Einige blieben, manche kehrten nach dem Krieg zurück. Auch wenn sie noch viele Jahre dem Militärrecht unterstanden, weil man nicht so recht wusste, ob man ihnen trauen kann, und man sie auf diese Weise besser kontrollieren konnte, so gewährte Israel von den 150 000 Arabern nach dem Waffenstillstand 60 000 sofort die Staatsbürgerschaft. Andere bekamen sie etwas später, sie mussten erst bestimmten Kriterien entsprechen. Wenn es nach David Ben Gurion, dem Staatsgründer und ersten Premier Israels, gegangen wäre, dann hätten diese 150 000 Menschen die Staatsbürgerschaft nie bekommen: „Diese Araber sollten hier nicht leben. Jeder, der glaubt, dass die Araber ein Anrecht auf die Staatsbürgerschaft im jüdischen Staat haben, meint damit, dass wir de facto unsere Koffer packen und gehen sollten.“ Das war derselbe Ben Gurion, der noch 1937 auf dem 20. Zionistenkongress von „einem Gesetz für den Fremden und den Staatsbürger“ gesprochen hatte, der erklärte, dass der „jüdische Staat ein Vorbild für die Welt im Umgang mit Minoritäten und Ausländern“ sein werde. Ben Gurion wurde bei der Frage, ob man den in Israel verbliebenen Arabern die Staatsbürgerschaft geben solle oder nicht, von seiner eigenen Partei, der Mapai, überstimmt. Das liberal-demokratische Prinzip hatte die ethno-nationale Überzeugung niedergerungen, eine Auseinandersetzung, die sich durch die gesamte Geschichte Israels ziehen wird.

Theodor Herzl hatte dazu in seinen Texten eine viel klarere und eindeutigere Haltung. Er träumte von der absoluten Gleichberechtigung der arabischen Bürger im jüdischen Staat, die sich am Aufbau des Gemeinwesens genauso beteiligen sollten wie die Juden. In seinem Roman „Altneuland“ betont Herzl, dass auch Nichtjuden völlig gleichberechtigt in diesem Staat leben sollen und dürfen. Religion sollte in seinem Staat keine große Rolle spielen und wenn, dann ebenfalls mit den gleichen Rechten, parallel nebeneinander. Bei dem Sedermahl, dem ersten Abend des jüdischen Pessachfestes, das im Hause von David Littwak stattfindet, einem der jüdischen Protagonisten des Romans, sitzen Christen und auch dessen Freund, der Türke Reschid Bey, selbstverständlich mit am Tisch.

Doch Ben Gurion lebte 1948 und nicht wie Herzl vor der Staatsgründung. Er ahnte möglicherweise schon damals, welche Konsequenzen sich aus diesem Schritt – der Staatsbürgerschaft für die Araber – für die Zukunft ergeben könnten, ergeben würden. Ihm ging es um den Erhalt der jüdischen Identität des Staates, um das Überleben des jüdischen Volkes. Nach der Shoah, die zwar nichts mit der Entstehungsgeschichte des Zionismus zu tun hatte, die der Gründung Israels jedoch unmittelbar vorausging und den Willen der internationalen Staatengemeinschaft, den Juden einen Staat zu gewähren, sozusagen „intensiviert“ hat, wurde dies zur höchsten Priorität der israelischen Politiker in Palästina, die nun wussten, dass das europäische Judentum so gut wie ausgerottet worden war.

Das Scheitern aller Friedensbemühungen

Was Ben Gurion möglicherweise schon damals voraussah, waren die komplexen Folgen dieses schwierigen Zusammenlebens zwischen Juden und Arabern. Die Versuche, zwischen Palästinensern und Israelis Frieden zu schaffen, sind inzwischen komplett gescheitert, trotz des berühmten Handschlags zwischen Yassir Arafat und Yitzhak Rabin 1993 im Rosengarten des Weißen Hauses in Washington, als das Oslo-Abkommen unterschrieben wurde und die Hoffnung aufkeimte, es könne eine Zwei-Staaten-Lösung geben. Seitdem hat sich die Situation ständig verschlechtert und beide Seiten wurden immer unbeweglicher und starrer, und mehr und mehr Israelis sagen, die Palästinenser wollten in Wirklichkeit eine Anderthalb-zu-einer-halben-Staaten-Lösung: Es war Palästinenserpräsident Mahmud Abbas, der vor einigen Jahren öffentlich verkündete, dass in einem palästinensischen Staat niemals Juden leben dürften. Aha, sagte man sich in Israel, aber die Palästinenser dürfen in Israel leben? Und wollen noch totale Gleichberechtigung haben? Für die Palästinenser also anderthalb Staaten, für die Juden nur noch ein halber, und schließlich gar kein Staat mehr, weil sie demografisch untergehen würden? Immer mehr Israelis sind inzwischen davon überzeugt, dass es den Palästinensern, selbst den sogenannten moderaten, nicht um 1967, sondern um 1948 geht, mit anderen Worten: um ganz Israel. Der gesamte jüdische Staat soll verschwinden, egal, welche Grenzen er hat.

Seit Benjamin Netanjahu zum ersten Mal zum Premier gewählt wurde, hat er an der Spaltung des Landes gearbeitet, hat er einen tiefen Graben zwischen seinen Anhängern und dem Rest des Volkes gerissen. Linke wurden als „Antizionisten“ verunglimpft, man war für oder gegen ihn, der politische Gegner wurde zum Feind, nicht zum Mitbewerber innerhalb eines demokratischen Systems. Entsprechend rüsteten Netanjahu und die Seinen, von denen viele noch sehr viel weiter rechts stehen als er selbst, auf. Verbal sowieso, aber auch ganz real mit Fäusten und Waffen. Tätliche Angriffe auf tatsächliche oder vermeintliche Linke waren bald keine Seltenheit mehr.

Araber wurden von diesen extremen Rechten sowieso gehasst. Nach jedem Terroranschlag oder während eines Krieges liefen sie sogar durch die Straßen des liberalen Tel Aviv und brüllten „Maved le Aravim“, Tod den Arabern. Sie konnten das ungehindert tun, die Polizei griff nur ein, wenn sie jemanden attackierten, vor allem, wenn sie einen Juden angriffen. Wenn ein Araber Opfer eines solchen Angriffes wurde und die Polizei gerade nicht anwesend war, ließ diese sich auch schon mal ein wenig Zeit, bis sie am Tatort erschien. Das berichteten mir viele meiner arabischen Nachbarn in Yafo (so der jüdische Name für Jaffa), als es während des Gaza-Krieges 2021 zu schwersten Auseinandersetzungen zwischen Juden und Arabern kam. In der Straße, in der ich lebte, wurden damals alle Autos angezündet, von arabischen Jugendlichen. (Mein eigenes Auto stand zum Glück in der Garage, es blieb verschont.) Die Situation war schrecklich.

Und natürlich kamen jüdische Extremisten nach Yafo und provozierten. Es herrschten bürgerkriegsähnliche Verhältnisse, nicht nur in unserer Stadt, sondern auch in Ramle und Lod, in Akko und anderswo, es gab sogar Tote. Für die islamistische Hamas, die in Gaza das Sagen hatte, war dies ein riesiger Erfolg. Sie hatte den vierten Gaza-Krieg seit 2008 eigentlich aus innerpalästinensischen Gründen initiiert. Denn Palästinenserpräsident Mahmud Abbas, der seit 2005 im Amt ist, aber nur für vier Jahre gewählt war, hatte seitdem immer wieder Wahlen angekündigt, doch noch jedes Mal im letzten Moment abgesagt, weil er wusste, seine Fatah-Organisation würde gegen die Hamas verlieren. So auch im Frühjahr 2021. Erneut hatte er freie Wahlen versprochen, erneut hatte er abgesagt. Die Hamas war wütend. Und suchte einen Weg, um Abbas und seiner korrupten Regierung, der Palästinensischen Autonomiebehörde, einen Denkzettel zu verpassen. Die Israelis lieferten ihr dazu die Möglichkeit.

Im Mai 2021 kam es in Jerusalem zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Palästinensern und israelischen Sicherheitskräften rund um die Al-Aksa-Moschee auf dem Tempelberg, den die Muslime Haram al-Sharif nennen, das edle Heiligtum. Die Hamas erklärte sich zum Hüter aller Palästinenser und aller muslimischen Heiligtümer unter israelischer Herrschaft. Sie suchte schon lange einen Weg, das Westjordanland, wo noch Präsident Abbas das Sagen hat, mindestens ideologisch zu übernehmen. Um zu zeigen, dass sie, die Hamas, die wahre Verteidigerin palästinensischer und muslimischer Interessen ist, feuerte sie mehrere Raketen in Richtung Jerusalem ab. Israel reagierte umgehend.

Da der jüdische Staat ganz Jerusalem als seine ewige Hauptstadt ansieht und sich daher im Recht sieht, auch mit Waffengewalt überall für Ruhe und Ordnung zu sorgen, sah er sich „gezwungen“ zu reagieren. Niemand sollte Israel vorschreiben können, was es in seiner Hauptstadt macht, schon gar nicht die Hamas. Es kam zum Krieg, der dem damaligen Noch-Premier Netanjahu nicht ganz unwillkommen war, da er Mühe hatte, sich in seinem Amt zu halten. So ein Krieg aber versammelt die ganze Nation hinter ihrem Regierungschef. So hoffte Netanjahu – wenngleich vergeblich, Naftali Bennett wurde schließlich neuer Premier.

Ein Ergebnis dieses Krieges waren die schlimmsten arabischen Unruhen innerhalb des Kernlandes Israels seit Jahrzehnten. Unter den Augen der israelischen Sicherheitskräfte und des Inlandsgeheimdienstes war es der Hamas und den Imamen, die ihr nahestehen, gelungen, eine neue Generation arabischer Israelis ideologisch auf die Seite der Hamas zu ziehen, und vor allem, sie davon zu überzeugen, dass sie sich einmischen müssen, wenn das palästinensische Volk in Gaza oder im Westjordanland unter Druck gerät oder gar angegriffen wird. Für viele Israelis waren die Straßenschlachten in den arabischen Städten des eigenen Landes eine Bestätigung, dass die arabischen Bürger eine „Fünfte Kolonne“ sind, dass man ihnen nicht trauen könne.

In der Praxis der gemischten Städte sah dies allerdings ganz anders aus. Ali, der Besitzer eines kleinen Supermarktes gleich bei mir um die Ecke, kontaktierte mich beispielsweise sofort via WhatsApp. Alle Nachbarn in meiner Straße gründeten diese Chat-Gruppe, um sich gegenseitig zu unterstützen und zu helfen, Juden, Christen, Muslime. „Wenn du irgendwo nach Ajami musst, ruf mich an, ich bringe dich hin“, bot mir Ali an. Ajami ist ein Stadtteil Yafos, der immer schon besonders gefährlich war wegen der Drogenbandenkriege, in diesen Tagen aber für Juden noch viel mehr. „Und wenn du irgendwohin musst, nach Bat Yam oder auf ein Amt, gib mir Bescheid, ich gehe gern mit dir mit“, entgegnete ich ihm. In diesen Tagen waren die Zusammenkünfte auf der Straße unter den Nachbarn besonders herzlich. Wer hier wohnte, wollte nichts als Ruhe und eine gute Nachbarschaft. So war es auch in vielen anderen gemischten Städten.

Die Komplexität der Situation in Israel lässt sich an diesem Beispiel ganz gut aufzeigen. Denn der Konflikt ist nicht einfach der Konflikt. Es ist immer die Frage, auf welcher Ebene man ihn betrachtet. Es gibt so viele Ebenen, auf jeder stellt sich „HaMatzav“ anders dar. Auf der persönlichen: Freundschaft, gute Nachbarschaft. Im Kulturellen: eine gewisse Angleichung. Shisha-Bars werden längst nicht nur von Arabern besucht, sondern auch von jüdischen Israelis, deren Familien aus dem Orient stammen, wenngleich man unterschiedliche Bars aufsucht, wo man sich nicht begegnet. Sogar junge Ashkenasim lieben inzwischen die Wasserpfeife. Im Religiösen: Man lässt sich überwiegend in Ruhe, man kennt und versteht die Gepflogenheiten des anderen. Judentum und Islam sind sich in vielen Traditionen und Regeln ähnlicher als Judentum und Christentum.

Und auf der politischen Ebene? Da herrschte lange Zeit Pragmatismus. Etwa als Mansour Abbas sich im Mai 2022 gezwungen sah, für eine Zeit die Koalitionsbeteiligung „ruhen“ zu lassen, um nicht mittragen zu müssen, wie die Sicherheitskräfte auf dem Tempelberg während der palästinensischen Unruhen gewaltsam einschritten. Dieser Schritt war mit Premier Naftali Bennett abgesprochen und von den religiösen Führern der Ra’am-Partei genehmigt worden. Abbas und die Seinen gehören zwar zu den Muslimbrüdern, aber zu jenen im südlichen Teil von Israel, die sehr viel friedfertiger und pragmatischer sind als die Muslimbruderschaft im Norden des Landes mit der Stadt Umm al-Fahm als Zentrum. Kaum waren die Unruhen vorbei, „trat“ die Ra’am der Koalition wieder „bei“. Man muss nur kreativ sein, dann findet man im komplexen Kuddelmuddel des palästinensisch-israelischen Konflikts Lösungen.

Der Blick »von oben« und das fatale »Nationalstaatsgesetz«

Doch dann ist da schließlich der Blick „von oben“, das Makro. Die Frage, wie diese „ethnische Demokratie“ mit ihrer Minderheit umgeht, welche Rolle die palästinensischen Bürger des jüdischen Staates spielen, spielen dürfen. Ja, dem Gesetz nach haben sie alle Individualrechte wie jüdische Bürger auch, aber jeder in Israel weiß, dass sie de facto benachteiligt werden. Dass sie strukturell schlechter gestellt sind als die jüdische Bevölkerung. Dass Staatsgelder mehr in jüdische Initiativen gesteckt werden als in arabische. Dass jüdische Dörfer eher neue Straßen und eine bessere Infrastruktur zugesprochen bekommen als die arabischen Dörfer. Die Rede ist hier von arabischen Dörfern innerhalb der Grenzen von 1967, wohlgemerkt.

Um das, was sowieso offensichtlich ist, noch einmal gesetzlich festzuschreiben, hatte sich die Regierung Netanjahu 2018 für die Verabschiedung des sogenannten „Nationalstaatsgesetzes“ entschieden. Das Gesetz ist im Grunde überflüssig, denn es wiederholt Dinge, die längst in Stein gemeißelt sind, etwa die Tatsache, dass der Staat Israel einen jüdischen Charakter hat, dass er die „nationale Heimstätte des jüdischen Volkes“ und Jerusalem die vereinte Hauptstadt ist. Dies wurde in diesem Gesetz noch einmal festgehalten, weil Islamisten zu jenem Zeitpunkt immer häufiger die Legitimation des jüdischen Staates in Zweifel zogen. Doch nicht nur sie. Die Boykottbewegung BDS, die auch viele europäische und amerikanische Intellektuelle anzieht, stellt ebenfalls die Frage nach der Legitimität Israels. Dieses Gesetz wollte dem etwas entgegensetzen. War bis dato Arabisch neben Hebräisch die zweite offizielle Sprache des Landes, so erhielt sie nun nur noch einen Sonderstatus, der im Gesetz nicht weiter definiert wird. Es erklärt außerdem, dass die Förderung jüdischer Siedlungen von nationalem Interesse sei. Die Betonung liegt auf jüdisch, nicht israelisch. Das Gesetz unterstützt den Bau und die Erweiterung jüdischer Siedlungen, die gefördert werden sollen. Mit anderen Worten: Arabische Siedlungen sind nicht von nationalem Interesse und damit, zumindest diesem Gesetz nach, auch nicht, sie zu fördern.

Das Gesetz war zugleich eine Reaktion auf ein Papier, das palästinensisch-israelische Rechtsanwälte, Intellektuelle und Politiker einige Jahre zuvor geschrieben hatten und das in arabischen Kreisen großen Zuspruch gewann: „The Future Vision of the Palestinian Arabs in Israel“. Dieses Dokument verlangte nicht nur eine Verbesserung und Gleichstellung der palästinensischen Bevölkerung bei der Verteilung von Rechten, Ressourcen, Fördermitteln, Sozialleistungen und vielem mehr. Es forderte die Anerkennung der palästinensischen Bürger als „homeland minority“. Der Staat sollte seine Verantwortung für die „Nakba“, die Vertreibung und Flucht der Palästinenser während des israelischen Unabhängigkeitskrieges 1948, zugeben und eine angemessene Restitution zahlen.

Die Wiederholung des Ewigselben

Was diese „Future Vision“ aber letztendlich fordert, ist die faktische Gleichstellung von palästinensischen und jüdischen Bürgern. Israel solle endlich der „Staat aller seiner Bürger“ werden, also ein klar liberal-demokratisches Prinzip. Auffällig an dem Papier ist, dass darin nicht einmal der Hauch einer Anerkennung des Staates Israel durch die arabische Bevölkerung vorkommt. Seine Existenz wird de facto hingenommen, aber anerkannt? Nein, das nicht.

Aus jüdischer Sicht ist diese „Future Vision“ also lediglich die Wiederholung des Ewigselben. Den jüdischen Staat gibt es, aber die Palästinenser wollen ihn nicht akzeptieren. Und wenn es ihn schon gibt, dann muss er seinen jüdischen Charakter aufgeben, er muss sich selbst aufgeben und damit seinen ethno-demokratischen Charakter, der allein seine Existenz als jüdischer Staat garantiert. Hier beißt sich die Katze in den Schwanz. Warum sollen jüdische Israelis palästinensische Israelis zu hundert Prozent gleich behandeln, wenn diese dem Staat gegenüber nicht loyal sind?

Demgegenüber steht: Warum sollen palästinensische Israelis dem Staat gegenüber loyal sein, wenn dieser es nicht zu hundert Prozent ihnen gegenüber ist? Dieses Dilemma scheint unauflösbar. Liberaldemokratisches Denken steht auch heute noch ethno-demokratischem Denken gegenüber. Der Gesellschaftsvertrag muss ständig neu verhandelt, der Ist-Zustand immer wieder neu justiert werden, um ein Zusammenleben irgendwie zu ermöglichen. Oder um es endgültig zu zerstören.

Viele liberale Israelis kritisierten das Nationalstaatsgesetz. Sie halten es für überflüssig und rassistisch. Doch nur eine Minderheit jüdischer Israelis würde die Forderungen der „Future Vision“ unterstützen und dafür plädieren, Israel nicht mehr als jüdischen Staat zu definieren, sondern als „Ein Staat für zwei Völker“. Die Mehrheit, selbst wenn sie antirassistisch ist, wäre nicht bereit, Israel als jüdischen Staat aufzugeben. Oder, wie mein Freund Moshe es einmal formulierte: „Ich habe keine Lust, eines Tages nicht mehr am Kikar Rabin, am Rabinplatz, sondern am Kikar Arafat, am Arafatplatz, zu demonstrieren.“

Der Kikar Rabin ist jener riesige Platz vor dem Rathaus mitten in Tel Aviv, wo 1995 der israelische Premier Yitzhak Rabin von einem jüdischen Fanatiker erschossen wurde. Ausgerechnet auf der größten Friedensdemonstration, die in Israel jemals stattgefunden hat. Das Oslo-Abkommen mit den Palästinensern war damals gerade zwei Jahre alt, Israel hatte begonnen, sich aus Teilen der besetzten Gebiete zurückzuziehen. Das passte der israelischen Rechten nicht. Morddrohungen gegen Rabin gehörten zum Alltag. In Jerusalem war es zu einer Gegendemonstration gekommen, auf der Plakate von Rabin in SS-Uniform gezeigt wurden. Einer, der auf dieser Demo gegen Rabin und das Abkommen wetterte: Benjamin Netanjahu. Ihm wurde lange vorgeworfen, dass er mitverantwortlich sei für die Ermordung des sozialdemokratischen Premiers. Netanjahu weist bis heute jede Verantwortung zurück und erklärt immer wieder, er habe die Plakate auf der Demo angeblich nicht gesehen.

Wo ist die Grenze? Und wo ist sie überschritten?

1995 hieß der Rabinplatz in Tel Aviv noch „Platz der Könige Israels“. Doch nach der Ermordung wurde er zu Ehren des Premiers umbenannt. Dort kommen seit Jahrzehnten alle zusammen, die gegen oder für die Politik der jeweiligen Regierung demonstrieren wollen. Rechte und Linke, religiöse Orthodoxe und Atheisten, messianische Siedler und Kommunisten. Moshe, der politisch irgendwo links der Mitte zu finden ist und lange Jahre in der Armee einen Job machte, über den er nie reden durfte, spricht aus, was viele denken. Wo ist die Grenze? Und wo ist sie überschritten? Wie viel kann, darf, soll man den palästinensischen Bürgern geben, ohne dass sie Israel komplett übernehmen?

Kikar Arafat mitten in Tel Aviv? Das ist eine Metapher für ein tiefsitzendes Problem. Doch man muss unterscheiden: zwischen dem Rechtsruck und wachsendem Rassismus, der die Demokratie weltweit – und keineswegs nur in Israel – bedroht, und der klaren Notwendigkeit Israels, eine ethnische Demokratie bleiben zu müssen, wenn der jüdische Charakter des Staates erhalten bleiben soll. Eine vollständig pluralistische Gesellschaftsform mit totaler Gleichstellung aller gesellschaftlicher Gruppen wird es in Israel nie geben, es wäre das Ende als Staat, wie er jetzt existiert. Das wird die jüdische Mehrheit nicht akzeptieren, selbst, wenn die Progressiven und Woken im In- und vor allem im Ausland das anders haben wollen.

Aber wie schon gesagt, das Jüdische ist eine partikularistische Identität. Seit mehr als 3000 Jahren. Nur so hat das Judentum bis heute überlebt. Warum also sollte man ein derartiges Erfolgskonzept aufgeben, werden sich die meisten jüdischen Israelis fragen – jetzt und auch in Zukunft.

Der Beitrag basiert auf „Die Sache mit Israel: Fünf Fragen zu einem komplizierten Land“, dem jüngsten Buch des Autors, das soeben in der Deutschen Verlags-Anstalt erschienen ist.

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