Ausgabe November 2023

Gefährdete Demokratie oder: Die langen Linien des Thüringer Faschismus

Thüringens AfD-Landeschef Björn Höcke am Abend während einer Kundgebung auf dem Theaterplatz in Weimar, 8.5.2023 (IMAGO / Funke Foto Services / Sascha Fromm)

Bild: Thüringens AfD-Landeschef Björn Höcke am Abend während einer Kundgebung auf dem Theaterplatz in Weimar, 8.5.2023 (IMAGO / Funke Foto Services / Sascha Fromm)

Die Nationalsozialisten setzten sich in Apolda und Sonneberg durch, weil sie nicht auf das überkommene bürgerliche Lager beschränkt blieben, sondern außergewöhnlich viele Erst- und frühere Nichtwähler für sich mobilisieren und dazu noch ehemalige Anhänger des sozialistischen Lagers zu sich hinüberziehen konnten. [...] In Apolda und Sonneberg war die NSDAP 1932/33 nicht mehr nur Repräsentantin des nationalen Lagers, sie war hier tatsächlich so etwas wie eine klassenübergreifende Sammelpartei des Protests.“

So analysierte der Göttinger Politikwissenschaftler Franz Walter in seiner historischen Wahlanalyse die Entwicklung Thüringens in der Weimarer Republik „Von der roten zur braunen Hochburg“.[1] Franz Walter beschreibt darin, auch am Beispiel Sonneberg, wie es der NSDAP gelingen konnte, in unterschiedlichen sozialen und politischen Milieus Fuß zu fassen und Anziehungskraft zu entfalten. In der Konsequenz führten diese Prozesse der Faschisierung in Thüringen bereits 1930 zur ersten Beteiligung der NSDAP an einer völkischen Koalitionsregierung und schon 1932 zur Regierungsübernahme der NSDAP, nach deren klarem Wahlsieg mit über 42 Prozent der Stimmen. Gestützt und vorbereitet wurde diese Entwicklung durch ein völkisches Netzwerk.

Gewiss, man sollte mit historischen Analogien vorsichtig sein, aber man muss die langen mentalitätsgeschichtlichen Prägungen einer Region kennen, um die Entwicklung der AfD in Thüringen zu begreifen. Denn solche Prägungen vergehen nicht, sie werden gewissermaßen in der politischen Kultur als Möglichkeit abgespeichert.[2] Angesichts der enormen Stärke der AfD stellt sich die Frage, ob Thüringen erneut zum Exerzierfeld und Vorreiter der Rechtsentwicklung der deutschen Gesellschaft wird.

Auf die Bedeutung der Mentalitätsgeschichte hat vor allem die Annales-Schule immer wieder hingewiesen und damit den Blick auf die langen Tiefenströmungen einer Gesellschaft gerichtet. Schaut man speziell auf Thüringen, zeigt sich, dass Faschismus, bürgerliche Steigbügelhalter und eine schwache Linke zu dieser Tradition gehören, gewissermaßen eine thüringische longue durée.

Auf dieses Erbe ist nach dem „Tabubruch“ vom 5. Februar 2020 wiederholt hingewiesen worden, als CDU, FDP und AfD gemeinsam Thomas Kemmerich zum Kurzzeit-Ministerpräsidenten von Thüringen wählten und einen Sturm der Entrüstung in der Bundespolitik auslösten. Im September dieses Jahres erfolgte die Durchsetzung einer haushaltsrelevanten Absenkung der Grunderwerbssteuer in der gleichen Stimmenkoalition, eine Abstimmung, die von der AfD als Anfang vom Ende der Merzschen Brandmauer gefeiert werden konnte.[3] Nun liegt ein weiterer Gesetzentwurf der Thüringer CDU-Fraktion vor, der gendergerechte Schreibweisen in Schulen und Verwaltung für unzulässig erklären soll. Selbstverständlich wird auch hier wieder auf die Zustimmung der AfD spekuliert. Mit jeder gemeinsamen Abstimmung wird ein Loch in die ohnehin instabile Brandmauer gegen rechts geschlagen und das politische Framing der AfD gestärkt.[4]

Im alltagskulturellen Vorraum des Politischen hat es in Thüringen ohnehin nie eine „Brandmauer gegen rechts“ gegeben, sondern rechte Vergemeinschaftungsräume, die CDU, FDP, AfD und auch viele freie Wähler umfassen. Auch nachdem sich ein Teil dieses Milieus radikalisiert und als AfD politisch verselbstständigt hat, blieben diese Vergemeinschaftungsräume, vom Karnevalsverein bis zum Handwerkerstammtisch, intakt. Das schafft wechselseitiges Vertrauen und lässt mediale Skandalisierungen ins Leere laufen.

Gleicher Name, anderer Inhalt: Die bürgerlichen Parteien im Osten

In den vermeintlich bürgerlichen Parteien FDP und CDU wird kein liberalkonservatives Bildungsbürgertum repräsentiert, weil ein solches in Thüringen schlichtweg nicht von politischem Gewicht ist. Das wurde durch die lange Regentschaft von Bernhard Vogel bloß verdeckt. Der ideologische Kern der Thüringer CDU war ein reaktionärer Antisozialismus, der in den 1990er Jahren noch eine wirksame Mobilisierungsstrategie darstellte. In diesem Klima wurden die Kader der Jungen Union sozialisiert. Die CDU Thüringen wusste nie selbst, wie rechts sie wirklich war und ist – auch im Vergleich zu westdeutschen Landesverbänden dieser Partei. Weder hat es in Thüringen einen relevanten sozialkonservativen Arbeitnehmerbereich wie in Nordrhein-Westfalen und im Saarland noch einen liberalkonservativen Flügel wie in Schleswig-Holstein gegeben. Und was sich in den 90er Jahren in der systematischen Verharmlosung und Entpolitisierung des Rechtsextremismus artikulierte, setzt sich heute in gemeinsamen Abstimmungen mit der AfD fort. Man kalkuliert mit ihren Stimmen, um die R2G-Minderheitsregierung unter Druck zu setzen, und tut überrascht, wenn es tatsächlich passiert. Hier sind politische Wiederholungstäter am Werk, die in der Kontinuität ihrer politischen Sozialisation agieren. Ähnlich gestalten sich die Verhältnisse in der FDP; ihr vermeintlicher Liberalismus ist vor allem ein radikaler Antietatismus, der problemlos Brücken zur AfD schlagen lässt.

Insofern steht der 26. Juni 2023 in Sonneberg – die Wahl des ersten Landrats der radikalen Rechten nach 1945 – für eine Zäsur und zugleich für eine fatale Thüringer Kontinuität. Es ist ein politischer Einschnitt, aber auch eine Entwicklung, die sich lange angebahnt hat und noch immer verharmlost wird. Es war absehbar, dass eine demokratische Allparteienkoalition diesen Wahlsieg der AfD in der Sonneberger Stichwahl kaum würde verhindern können. Denn es gehört zu den Paradoxien politischer Mobilisierung, dass solche breiten Aufrufe jenes Bild der unterschiedslosen „Systemparteien“ befördern, von dem gerade die AfD profitiert. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die AfD in der Stichwahl noch zusätzliche Stimmen aus dem bisherigen Nichtwählerbereich gewinnen konnte.

Es waren auch AfD-Wahlerfolge, die in den letzten Jahren zu erhöhten Wahlbeteiligungen geführt haben. Dennoch nehmen die Mitte-links-Parteien diese rechtsradikale Antwort auf die Krise der politischen Repräsentation scheinbar immer noch nicht ernst. Und vor allem: Warum sollten Nichtwähler ein automatisches Reservoir der Demokratie sein? Systematische, über den Wahltag hinausgehende Strategien der Rückgewinnung von Nichtwählern sind jedenfalls bis heute nicht erkennbar.

AfD: Ein erfolgreiches Radikalisierungskollektiv

Das Sonneberger Wahlergebnis ist allerdings keinesfalls linear und allein aus solchen tiefen Prägungen abzuleiten. Sprich: Der Verweis auf lange autoritäre Entwicklungen ist sicher berechtigt, aber in seiner Erklärungskraft für das aktuelle Wahlergebnis zugleich beschränkt. Die Wahl ist denn auch immer das, was die Annales-Schule als événement bezeichnet hat – ein Ereignis, das in die longue durée einbricht. Zur Bestimmung politischer Kräfteverhältnisse bedarf es daher – neben dem historisch informierten Blick – auch der Analyse des konkreten Momentums.

Vergleicht man das aktuelle Wahlergebnis in Sonneberg mit dem vor fünf Jahren[5], fallen zwei Entwicklungen ins Auge: Der AfD ist – ungeachtet ihrer steten Radikalisierung – in den vergangenen Jahren eine große politische Terrainerweiterung in diesem Landkreis gelungen, sodass sie ihr absolutes Stimmenpotenzial bereits im ersten Wahlgang deutlich steigern, in der Stichwahl mit 13 420 Stimmen sogar gegenüber 2018 annähernd verdoppeln konnte. Demgegenüber erreichten die zwei Kandidaturen aus dem R2G-Bereich zusammen lediglich ein Ergebnis von 17,61 Prozent und schafften es noch nicht einmal mehr in die Stichwahl. Zusammen erzielten sie ein absolutes Stimmenergebnis von 4130, halbierten also das Ergebnis von 2018.

Die im Wahlergebnis zum Ausdruck kommenden Verschiebungen der politischen Kräfteverhältnisse nach rechts sind nicht auf Sonneberg beschränkt, sondern haben sich offensichtlich im Zuge der Coronakrise auf breiterer Front vollzogen. Die AfD konnte weitere Wählerschichten binden und teils auch radikalisieren – deshalb bezeichne ich sie als „erfolgreiches Radikalisierungskollektiv“.[6] Mit diesem Begriff versuche ich drei unterschiedliche Ebenen zu fassen.

Erstens: Die AfD schiebt das Parteiensystem nach rechts und radikalisiert damit die Diskursfelder. Das ist nicht nur in der Merz-CDU sichtbar, sondern auch in der Verrohung der deutschen Flüchtlingspolitik.

Zweitens: Die AfD arbeitet erfolgreich an der Radikalisierung des in seiner Grundstruktur widersprüchlichen Alltagsverstands. Sie stärkt dessen problematische Anteile, radikalisiert und formiert sie politisch. In Sonneberg kann man die Folgen eines Projekts besichtigen, das die Erziehung zur Demokratiefeindschaft zum Programm erhebt und damit Erfolg hat.

Drittens: Diese Radikalisierung zeigt sich nicht zuletzt auch innerparteilich. Dabei war der rechtsextreme „Flügel“ um Höcke der dynamische Pol der Parteientwicklung, der die Radikalisierung vorangetrieben hat. Dieser Prozess kann heute als abgeschlossen gelten und die jüngsten Erfolge in Sonneberg werden sein innerparteiliches Machtzentrum nochmals stärken.

Heute ist die AfD vielleicht die einzige Milieupartei in Thüringen. Sie organisiert eine dezentrale, weit in die ländliche Fläche reichende Präsenz, von der andere Parteien nur träumen können. Darauf basiert ihre Mobilisierungsfähigkeit. Ihre Stärke ist ihr nachbarschaftliches Gesicht. Es ist der Tierarzt, der Handwerker, der Jugendtrainer von nebenan, der für die AfD spricht, ohne Mitglied sein zu müssen. Darauf und nicht auf den Führungsfähigkeiten Höckes basiert ihre Mobilisierungsfähigkeit. An diesem nachbarschaftlichen Einverständnis scheitert jede mediale Skandalisierung, die zum wiederholten Mal eine Höcke-Rede dekonstruiert.

Die Kehrseite des AfD-Erfolgs: Der Einbruch linker Repräsentation

Die Kehrseite des AfD-Erfolgs ist der Einbruch linker Repräsentationsmacht, wie er sich exemplarisch im jüngsten Sonneberger Ergebnis widerspiegelt. Auch hier zeigen sich die langen Linien.

In den 1930er Jahren hatte die Thüringer Arbeiterbewegung in weiten Teilen des Landes kein soziokulturelles Milieu herausbilden können. Heute scheint auch R2G gemeinsam zu schwach zu sein, um alltagskulturelle Gemeinschaftsräume zu stabilisieren, die sich gegen die erneute „Faschisierung der Provinz“ (Toralf Staud) stellen können. R2G fehlt offensichtlich die lebensweltliche Verankerung in den ländlichen Regionen. Schwache Wahlergebnisse des nicht-konservativen Lagers sind die Folge und beileibe kein Ausweis ihrer politischen Kommunikationsfähigkeit vor Ort – und zwar generell, wie auch im Besonderen in ihrer Auseinandersetzung mit rechts.

Es wird sich zeigen, ob das demokratische Lager links des Konservatismus sich jetzt wieder nur in seinen Warnungen bestätigt fühlt oder ob es auch zu einer selbstkritischen Debatte fähig ist, denn faktisch hat es die politischen Kommunikationsflächen zu beachtlichen Teilen der Bevölkerung verloren. Insofern ist die politische Situation heute noch weit gefährlicher als in den sogenannten Baseballschlägerjahren der Nachwendezeit.

Die ersten Reaktionen auf das Wahlergebnis in Sonneberg offenbarten vor allem politische Ratlosigkeit. Die Folge war ein hilfloser, moralisierender Antifaschismus, der die falschen Fragen stellt – und viel zu kurz greifende Antworten gibt. Plattitüden, dass Faschisten Faschisten wählen, weil sie eben Faschisten sind, wurden als wahlsoziologischer Befund präsentiert. Es dauerte keinen Tag, bis die Forderung nach einem Parteiverbotsverfahren gegen die AfD erhoben wurde, weil diese ja mit Sonneberg ihre politische Wirkungsmacht bewiesen habe – als könne man seine eigene mangelnde demokratische Diskursmächtigkeit an den Staat delegieren, der es nun richten soll. Kein Wähler der AfD wird dadurch für das demokratische Lager zurückgewonnen.

Lichtblick Nordhausen?

Daran zeigt sich: Die Schwäche der Demokratie im Osten Deutschlands (und in Osteuropa insgesamt) ist vor allem die Schwäche ihrer Organisiertheit. Insofern wäre jetzt vor allem zähe regionale, organisationspolitische Kärrnerarbeit, allen voran der Parteien, gefragt, denn nur so kann ein sozialräumlich verankerter, nachbarschaftlicher Antifaschismus entstehen. Wer dagegen im Stellungskrieg um gesellschaftliche Hegemonie die Schützengräben verwaisen lässt, darf sich nicht wundern, wenn sie von rechts übernommen werden.

Speziell die Parteistrukturen der Linkspartei sind seit den 90er Jahren stark ausgedünnt, auch personell, sprich: Kümmererpartei war gestern. Progressiver Cäsarismus als Regierungsstil – allein fokussiert auf einen starken linken Ministerpräsidenten – erzeugt aber keine lokale Verwurzelung der Demokratie. Und um die zivilgesellschaftliche Organisationsdichte steht es nicht viel besser. Wenn aber Demokratie nicht als Graswurzelbewegung vor Ort sichtbar und organisationsfähig ist, wird sie von unten ausgetrocknet.

Es ist ernüchternd, dass die Parteien – nach der üblichen Empörung an Wahlabenden – nicht in der Lage sind, konkrete organisationspolitische Maßnahmen gegen den Zerfall demokratischer Repräsentationsmacht einzuleiten. Nichts dergleichen passiert, um insbesondere die beschämende Unsichtbarkeit der Sozialdemokratie in der ostdeutschen Fläche anzugehen. Der einzige „Schritt wirklicher Bewegung“ (Marx) kommt heute nicht aus den Parteizentralen, sondern – wie es scheint – von der Punkband Feine Sahne Fischfilet, die durch ihr Sonneberger Konzert wenigstens ein Signal der Ermutigung zu setzen vermochte.

Immerhin gibt es in Thüringen auch einen kleinen Lichtblick: Mit einer vor allem zivilgesellschaftlich getragenen Mobilisierung konnte auf den letzten Metern ein geschichtsrevisionistischer AfD-Bürgermeister in Nordhausen verhindert werden. Der AfD Thüringen, die schon eine Erfolgsserie witterte, die ihre weitere Ausstrahlung im Nichtwählerbereich gewiss verstärkt hätte, konnten erstmals Grenzen gesetzt werden.

Das ist gewiss ein Erfolg, aber kein Grund zur Erleichterung und politischen Entwarnung. Denn noch im ersten Wahlgang lag der AfD-Kandidat weit vor seinen Mitbewerbern und erzielte mit 42 Prozent ein doppelt so starkes Ergebnis wie die beiden OB-Kandidaten aus dem R2G-Spektrum (zusammen 20 Prozent). Diesen Sachverhalt kann man sich nicht schönreden. R2G ist auch in dieser Wahl gemeinsam so schwach gewesen, dass man sich fragen muss, wie lange man sich getrennte Kandidaturen dieser drei Parteien noch erlauben kann, wenn in den nächsten Jahren der Kampf gegen die Faschisierung im Osten im Mittelpunkt steht.

Die Berliner Republik – in Teilen des Ostens wie von unten abgehängt

Die anhaltende Stärke der AfD, die auch im zweiten Wahlgang noch um etwa tausend Stimmen zulegen konnte, einerseits und die erfolgreiche zivilgesellschaftliche Kampagne anderseits – beides zusammen kommt im Nordhäuser Ergebnis zum Ausdruck. Dazwischen lavierten die schwachen Parteien der Berliner Republik.

Die Mobilisierung zur Stichwahl wurde vor allem auch von Unorganisierten getragen; auf einen gemeinsamen Aufruf aller unterlegenen Parteien gegen den AfD-Kandidaten hingegen wurde verzichtet. Von besonderem Gewicht waren die öffentlichen Interventionen aus der Gedenkstättenstiftung Buchenwald und Mittelbau-Dora, die den Geschichtsrevisionismus des AfD-Kandidaten offenlegten und auf die internationalen Folgen hinwiesen, wenn die Stadt mit ihrer KZ-Geschichte durch einen rechtsextremen Oberbürgermeister repräsentiert würde. Am Ende bleibt jedoch die Frage, ob einmaliges Campaigning das politische Klima in Nordhausen nachhaltig verändern kann.

Der Rechtsextremismus ist beileibe kein Ost-Problem, wie die jüngsten Wahlergebnisse in Bayern und Hessen eindrucksvoll bewiesen haben, aber er hat in den neuen Bundesländern noch immer ein anderes Gewicht und Gefährdungspotenzial. Zudem wird sich der Erfolg im Westen auch verstärkend auf die AfD-Milieus im Osten auswirken.

Die besorgniserregenden Ergebnisse der aktuellen Leipziger „Mitte-Studie“ zeigen zudem einen erheblichen Anstieg rechtsextremer Einstellungen.[7] Wachsende Demokratiedistanz in der Mitte der Gesellschaft und Radikalisierung gehören zusammen. „Rechtsextrem zu sein ist nicht mehr etwas, was hinter vorgehaltener Hand passiert.“ Das rechtsextreme Selbstverständnis werde mittlerweile „durchaus selbstbewusst nach vorne getragen“, erläutert Beate Küpper, die Co-Autorin der Studie.[8]

Die Wahlerfolge der AfD in Hessen und Bayern belegen, dass sie ihre Schwächeperiode im Westen inzwischen überwunden hat und sich auch hier neue Wählerpotenziale erschließen konnte. Gleichwohl sind die Unterschiede zwischen Ost und West weiterhin nicht zu übersehen. Parlamentarische Mehrheiten gegen die AfD sind in Hessen und Bayern noch in Zweierbündnissen möglich. Wenngleich der Auszehrungsprozess der Parteien auch im Westen voranschreitet, hat das repräsentativ-parlamentarische System dort noch immer einen anderen Unterbau. Das zivilgesellschaftliche Netz ist deutlich enger geknüpft und in seinen demokratischen Orientierungen gefestigter. Im Osten hingegen hat der Parlamentarismus – um ein Bild Gramscis aufzugreifen – keine „robuste Kette von Befestigungswerken und Kasematten“, die eine demokratische Kultur absichern helfen.

Die Berliner Republik wirkt daher in Teilen des Ostens wie von unten abgehängt; ihre politischen Diskurse erzeugen keine gesellschaftliche Verbindlichkeit mehr vor Ort.

»Thüringen ist eines von den schwierigen Bundesländern« (Rainald Grebe)

Die AfD ist im Osten so stark, dass sie eine demokratische Blockadefunktion ausüben kann. Die letzten Thüringen-Umfragen zeigen die AfD als stärkste politische Kraft des Landes mit Prognosen deutlich über der 30 Prozent-Marke. Sollten sich diese politischen Kräfteverhältnisse auch in der bevorstehenden Landtagswahl im Herbst 2024 bestätigen, wäre eine Regierungsmehrheit gegen die AfD nur durch eine „antagonistische Kooperation“ von CDU und Linkspartei zu erzielen.

Es ist noch nicht allzu lang her, dass die R2G-Minderheitsregierung von Teilen der Linkspartei als demokratische Innovation des deutschen Parlamentarismus gefeiert wurde. Tatsächlich ist Thüringen heute längst wieder Avantgarde – aber der Faschisierung, nicht der demokratischen Erneuerung. Längst erweckt R2G den Eindruck der Handlungsunfähigkeit, eine eigene politische Erzählung von den Entwicklungsperspektiven des Landes ist schon lange nicht mehr erkennbar, mit fehlenden Mehrheiten lassen sich wichtige Projekte nicht entwickeln. Die Linkspartei hat dem Rechtsextremismus als Oppositionspartei stärkere Grenzen gesetzt als in Regierungsfunktion, weil sie in ihrer früheren Rolle als politischer Adressat der gesellschaftlichen Kränkungen agieren konnte. Die zunehmende Unzufriedenheit mit Landes- und Bundesregierung ist dagegen ein Treiber der Demokratiekrise.

Die Gesellschaft, in der wir leben wollen

Wenn das Land nach rechts zu kippen droht, wie die Befunde der aktuellen Mitte-Studie und Wahlumfragen zeigen, wirft dies auch Fragen nach den politischen und pädagogisch-präventiven Gegenstrategien auf, die bisher jedenfalls die rechte Erfolgsgeschichte noch nicht einmal eindämmen, geschweige denn brechen konnten. Kritische Selbstreflexion statt „Weiter so“ wäre also gefragt. Wer die AfD wirksam bekämpfen will, braucht ein eigenes politisches Framing, das zeigt, in welcher Gesellschaft wir leben wollen.

„Ich höre sehr oft, gegen die Rechtspopulisten komme man nicht an, denn ihre Antworten seien einfacher. Hochkomplexe Inhalte, wie die der demokratischen Parteien, seien nicht einfach zu framen. Doch viele der großen Parteien machen ihre Hausaufgaben schlichtweg nicht“, analysierte die Sprachwissenschaftlerin Elisabeth Wehling die Fehler des damaligen Anti-Trump-Kampfes. Ihre Forderung: „Die Frames der Gegner aufzugreifen, führt zu nichts. Durch die Erwähnung eines Frames, unabhängig ob bejahend oder verneinend, wird dieses immer wieder aktiviert. Das ist dann kostenloser Wahlkampf für die anderen.“ Stattdessen müssen Demokraten sich auf ihre eigenen Stärken besinnen: „Demokratische und progressive Geschichten sollten erzählt werden, mit Frames von Empathie, Miteinander, Nächstenliebe, gegenseitiger Befähigung und Schutz.“[9]

Diese Analyse lässt sich eins zu eins auf die deutsche Situation übertragen. Getreu der Devise: Was im Kampf gegen Donald Trump richtig ist, kann gegen die AfD nicht falsch sein – ob in Thüringen oder anderswo.

[1] Franz Walter, Von der roten zur brauen Hochburg: Wahlanalytische Überlegungen zur NSDAP in den beiden thüringischen Industrielandschaften, in: Detlef Heiden und Gunther Mai (Hg.), Thüringen auf dem Weg ins „Dritte Reich“, Erfurt 1996, S. 119-145, hier S. 132 f.

[2] Im Übrigen hat der DDR-Antifaschismus solche Mentalitätsbestände nicht gesellschaftlicher Bearbeitung zugeführt, sondern sie lediglich politisch in ebenso binärer Form umcodiert und in neuen autoritären Verhältnissen eingefroren.

[3] Albrecht von Lucke, Brand ohne Mauer: Der Irrweg der Söder-Merz-Union, in: „Blätter“, 10/2023, S. 5-10.

[4] CDU Thüringen stellt erneut Antrag, der auf Zustimmung der AfD stoßen dürfte, deutschlandfunk.de, 25.9.2023.

[5] Bei der Landratswahl 2018 erzielte der AfD-Kandidat Sesselmann ein Ergebnis von 29,8 Prozent bei 6920 Stimmen und kam mit diesem Ergebnis nicht in die Stichwahl. In der langjährigen CDU-Hochburg setzte sich der parteilose Kandidat von SPD und Linkspartei Hans-Peter Schmitz durch, der im ersten Wahlgang 37,6 und in der Stichwahl gegen den CDU-Konkurrenten 56,2 Prozent erringen konnte, wobei er sein absolutes Stimmenpotenzial zwar erneut mobilisieren, aber auch kaum steigern konnte (8717 bzw. 8884 Stimmen). Schmitz musste die Landratsfunktion aufgrund einer langen Erkrankung allerdings aufgeben.

[6] Peter Reif-Spirek, Das Ende der Sozialdemokratie, wie wir sie kannten, in: „SPW – Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft“, 6/2018, S. 52-57.

[7] Andreas Zick, Beate Küpper und Nico Mokros, Die distanzierte Mitte. Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland 2022/23, Bonn 2023.

[8] Acht Prozent teilen rechtsextremes Weltbild, tagesschau.de, 21.9.2023.

[9] Elisabeth Wehling, „Finger weg vom AfD-Wording!“, in: „die tageszeitung“, 9.12.2016; ausführlicher in ihrem Buch „Politisches Framing: Wie eine Nation sich ihr Denken einredet – und daraus Politik macht“, München 2016.

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