Ausgabe Mai 2024

Südafrika: Die endgültige Entzauberung des ANC?

Wahlplakat des ANC zur ersten freien Wahl in Südafrika im Jahr 1994 mit Nelson Rolihlahla Mandela. Heute befindet es sich im Apartheid Museum in Johannesburg (IMAGO / Sven Simon)

Bild: Wahlplakat des ANC zur ersten freien Wahl in Südafrika im Jahr 1994 mit Nelson Rolihlahla Mandela. Heute befindet es sich im Apartheid Museum in Johannesburg (IMAGO / Sven Simon)

Als vor 30 Jahren, am 27. April 1994, in Südafrika die ersten freien Wahlen stattfanden, herrschte Aufbruchstimmung. 87 Prozent aller Wahlberechtigten gaben damals ihre Stimme ab, vor den Wahllokalen bildeten sich endlose Schlangen. Der von Nelson Mandela angeführte African National Congress (ANC) errang 62 Prozent der Stimmen und stellte fortan die Regierung in einer Dreierallianz mit dem Gewerkschaftsdachverband COSATU und der Kommunistischen Partei SACP. Das Ende der Apartheid, des Systems der Rassentrennung und der weißen Vorherrschaft, war besiegelt. Der 27. April, der Freedom Day, ist heute in Südafrika Nationalfeiertag.

Wenn nun am 29. Mai in Südafrika ein neues Parlament und die Regierungen der neun Provinzen gewählt werden, dürfte die Mehrheit der Südafrikaner:innen hingegen nicht in Feierlaune sein – zu desolat ist die wirtschaftliche Lage des Landes. Grassierende Arbeitslosigkeit, tägliche Stromabschaltungen, marode Infrastruktur, massive Korruption und explodierende Kriminalitätsraten haben jegliche Euphorie von damals verfliegen lassen. Während mit dem Ende der Apartheid die politische Befreiung gelang, warten Millionen Menschen weiter auf die ökonomische Befreiung. Längst können der ANC und seine Partner nicht mehr auf ihren Nimbus als Befreiungsbewegung setzen – ein großer Teil der Bevölkerung führt die anhaltende ökonomische Misere inzwischen auf das Versagen der politischen Entscheidungsträger:innen zurück. Bei den nun anstehenden Wahlen droht der ANC daher erstmals seit 30 Jahren seine absolute Mehrheit zu verlieren.

Als der ANC 1994 die Macht in Südafrika übernahm, waren die Hoffnungen auf eine sozialistische Transformation des Landes groß. Die ANC-Regierung verfolgte zunächst eine auf dem Prinzip „Wachstum durch Umverteilung“ beruhende Wirtschaftspolitik. Die Befriedigung der Grundbedürfnisse der Bevölkerung, etwa durch umfangreiche Wohnungsbauprogramme und den Ausbau der Elektrizitätsversorgung, hatten Priorität. Doch bereits 1996 schwenkte die Regierung – noch unter Mandela – auf eine neoliberale Wachstumsförderung und die Reduzierung des Haushaltsdefizits um, deregulierte den Arbeitsmarkt und privatisierte Teile des öffentlichen Sektors. Mit diesem ökonomischen Kurswechsel wollte die Regierung ausländisches Kapital anziehen. Die Ergebnisse der wirtschaftspolitischen Neuausrichtung schien ihren Befürworter:innen vordergründig recht zu geben, denn die südafrikanische Wirtschaft erzielte in den folgenden zwei Jahrzehnten tatsächlich ein Wirtschaftswachstum von durchschnittlich drei Prozent. Doch die Öffnung für den globalen Markt gelang nur unter Verzicht auf eine sozio-ökonomische Umverteilung, mit der die Ungleichheiten der Apartheid hätten überwunden werden können. Gemessen am Gini-Koeffizienten verfügt Südafrika heute über die größte Einkommensungleichheit der Welt; 64 Prozent der schwarzen Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze.

Aber auch die massive Korruption hat dem Traum einer sozialistischen Republik Südafrika ein Ende bereitet. Zwar grassiert sie auf allen Ebenen – kaum eine Polizeikontrolle endet ohne die Zahlung einer „Gebühr“ –, doch den größten Schaden für die Wirtschaft haben hochrangige Politiker:innen im sogenannten State-Capture-Skandal verursacht. Die gezielten Plünderungen staatlicher Unternehmen haben den Staat schätzungsweise 16 Mrd. Euro gekostet. Im Zentrum der korrupten Verflechtung politischer und ökonomischer Eliten standen der von 2007 bis 2017 amtierende Staatspräsident Jacob Zuma und die Guptas, eine indische Unternehmer:innenfamilie. Die Gupta-Familie verhalf Politiker:innen zu Ministerposten im Gegenzug für politische Entscheidungen, die ihr wirtschaftlich nützten, etwa die Streichung einer Flugroute der Staatsairline South African Airways nach Indien zugunsten der Gupta-Airline.

Der gekaperte Staat

Das Geflecht der korrupten Unterwanderung des Staates reicht allerdings über die Gupta-Familie hinaus. Neben einer Vielzahl südafrikanischer staatlicher und wirtschaftlicher Akteure sind auch internationale Konzerne in den Korruptionsskandal verwickelt. Zu ihnen zählt das deutsche Softwareunternehmen SAP, das sich im Februar dieses Jahres mit dem südafrikanischen Staat auf eine Ausgleichszahlung von über 100 Mio. Euro für seine korrupten Praktiken einigte[1] – in Deutschland wurde dies kaum thematisiert. Dabei hat die im State-Capture-Skandal aufgedeckte Korruption zentrale staatliche Institutionen wie den Stromversorger Eskom, den Eisenbahn- und Hafenbetreiber Transnet oder die Steuerbehörde SARS massiv geschwächt.

Zwar wurde der Skandal in einer mehrjährigen, nach deren leitendem Richter benannten Zondo-Kommission aufgearbeitet und in einem 6000 Seiten umfassenden Bericht dokumentiert, aber damit enden die Korruptionsskandale längst nicht. Erst im März wurden Korruptionsvorwürfe gegen die Parlamentsvorsitzende und ANC-Politikerin Nosiviwe Mapisa-Nqakula über umgerechnet mehr als 100 000 Euro erhoben. Jeder dieser Fälle schwächt die südafrikanische Demokratie weiter.

Und auch innerhalb der Regierungspartei führt die Beteiligung einer Vielzahl von ANC-Funktionär:innen am Korruptionsskandal zu Zerwürfnissen. So bezeichnete der ehemalige Präsident Thabo Mbeki auf einer Vorlesung an der University of South Africa Mitte März Zuma und ihm nahestehende Parteifreund:innen als Stellvertreter:innen Russlands und konterrevolutionärer Kräfte, die den südafrikanischen Staat und damit die Demokratie vorsätzlich zu zerstören versuchten. Damit spielte er unter anderem auf einen ursprünglich geheimen, letztlich vom Obersten Gericht in Südafrika gestoppten Atom-Deal über 70 Mrd. Euro mit dem russischen Atomunternehmen Rosatom an, der sich wahrscheinlich als Milliardengrab entpuppt hätte.

Angesichts all dessen überrascht es nicht, dass sich laut der Unabhängigen Wahlkommission lediglich 27 Millionen der insgesamt 40 Millionen Wahlberechtigten für die Wahl registriert haben. Ein Großteil der Südafrikaner:innen hat den Glauben an den ANC offenbar verloren. Doch anstatt sich darauf zu konzentrieren, das verloren gegangene Vertrauen zurückzugewinnen, verstrickt sich der ANC in innerparteiliche Machtkämpfe zwischen der Fraktion um den amtierenden Präsidenten Cyril Ramaphosa und der um Vizepräsident Paul Mashatile und versinkt zugleich in Korruptionsvorwürfen und Missmanagement.

Ob die abermals ambitionierten Wahlversprechen des ANC einen Stimmungsumschwung in der Bevölkerung bewirken können, wird sich zeigen müssen. Bereits im Dezember 2023 sprach sich Sozialministerin Lindiwe Zulu für die Einführung eines Grundeinkommens aus. Auch Finanzminister Enoch Godongwana, der das Vorhaben angesichts des eng geschnürten Austeritätshaushalts bisher stets blockiert hatte, schwenkte nun um und kündigte die Einführung des Grundeinkommens an, ohne allerdings einen Zeitplan oder Details zu nennen. Dennoch ergaben Umfragen, dass der ANC bei den anstehenden Wahlen erstmals seit 30 Jahren unter die 50-Prozent-Marke rutschen könnte.

Konkurrenz von rechts und links

Vor diesem Hintergrund steht die parteipolitische Konkurrenz in den Startlöchern. Von den insgesamt 380 für die Wahl registrierten Parteien spielt die Mehrheit allerdings keine wesentliche Rolle, sondern verharrt auf dem Niveau von Kleinst- und Splitterparteien. Einige stärkere Parteien unter ihnen haben sich daher zusammengeschlossen. Rechts vom ANC haben sich mit der „Mehrparteiencharta“ zuerst sieben, inzwischen elf sehr unterschiedliche Oppositionsparteien in Stellung gebracht. Angeführt wird das Bündnis von der größten Oppositionspartei, der Democratic Alliance (DA), die in Umfragen auf 19 Prozent kommt. Mit ActionSA und der Patriotic Alliance sind auch zwei Parteien mit xenophoben Ansichten Teil des Bündnisses, die das Sündenbock-Narrativ gegenüber afrikanischen Migrant:innen verstärken. Ein gefährlicher Schachzug, schließlich kamen in den letzten 30 Jahren mindestens 659 Menschen durch rassistische Angriffe ums Leben. Mit diesen relativ neuen Parteien droht nun eine zunehmende Institutionalisierung xenophober Einstellungen.

Links des ANC haben sich die durchaus kontrovers zu betrachtenden Economic Freedom Fighters (EFF) formiert, die in Umfragen bei knapp 16 Prozent liegen. Zwar setzen sich diese für eine umfassende Landreform und die Verstaatlichung des wichtigen Bergbausektors ein, zugleich aber ist die Partei stark auf ihren Vorsitzenden, Julius Malema, zugeschnitten, und Parteiangehörige fallen immer wieder mit Hassreden gegen weiße und indischstämmige Südafrikaner:innen auf. Außenpolitisch stehen die EFF an der Seite Russlands. Sie bezeichnen den Krieg in der Ukraine als „antiimperialistisches Programm“ gegen die Nato und fordern die Zerstörung Israels.

Im Dezember erklärte Ex-Präsident Zuma dann überraschend seine Unterstützung der neu gegründeten, nach dem früheren militärischen Arm des ANC benannten Partei uMkhonto weSizwe (MK). Insbesondere in seiner Heimatprovinz KwaZulu-Natal, in der Zuma noch viel Unterstützung genießt, könnte die MK-Partei den ANC wertvolle Stimmen kosten. Bei den Wahlen 2019 stammten immerhin 20 Prozent der ANC-Stimmen aus KwaZulu-Natal.

Auch innerhalb der regierenden Dreierallianz existieren Abgrenzungsprozesse gegenüber dem ANC. So gibt es in der kommunistischen SACP Debatten über deren Zukunft innerhalb der Allianz. Ins Spiel gebracht werden ein Wahlantritt in einer Left Front außerhalb des ANC oder die Rekonfiguration der Dreierallianz. Seit 2005 wird zudem die Zurückweisung neoliberaler Wirtschaftsprogramme der Regierung durch die SACP gefordert – bislang ohne Folgen. Bei den anstehenden Wahlen wird die Partei dennoch wieder gemeinsam mit dem ANC antreten. Danach will sie abermals prüfen, ob ein gemeinsamer Wahlantritt bei den Lokalwahlen 2026 noch tragbar ist.

Angesichts des geschwächten ANC sowie der in Umfragen stagnierenden Oppositionsbündnisse steigt in Südafrika die Wahrscheinlichkeit einer Koalitionsregierung. Zwar wiederholen ANC-Funktionär:innen gebetsmühlenartig ihre Siegesgewissheit, doch innerparteilich werden die Umfragewerte durchaus zur Kenntnis genommen. Entsprechend drücken sich die Flügelkämpfe des ANC auch in möglichen Koalitionspräferenzen aus. Während der Flügel um Mashatile eine Koalition mit den EFF favorisieren würde, blickt die Fraktion um Ramaphosa eher in Richtung DA.

Bei einem Großteil der Bevölkerung bestehen indes Vorbehalte gegenüber Koalitionsregierungen, werden diese doch weithin mit politischer Instabilität sowie der mangelhaften Bereitstellung öffentlicher Dienstleistungen – etwa der Wasserversorgung – und einer maroden Infrastruktur in Verbindung gebracht. Die Skepsis speist sich aus Erfahrungen auf der lokalen Ebene, auf der es bereits seit 2016 Koalitionsregierungen gibt, die sich fast ausschließlich als von Misstrauen geprägte politische Machtkämpfe entpuppt haben. Ein besonders absurdes Beispiel ist die Wahl des Johannesburger Bürgermeisters Kabelo Gwamanda im Mai 2023: Weil sich EFF und ANC, die sich zuvor zusammengeschlossen hatten, nicht auf eine gemeinsame Kanditat:in einigen konnten, wählten sie schließlich ein Mitglied der nur drei Sitze innehabenden Al-Jama-ah-Partei zum Bürgermeister. An diesem Beispiel zeigt sich eine für die südafrikanische Politik charakteristische Problematik: das mangelnde Vertrauen zwischen den Parteien, was diese letztlich das Vertrauen der Wähler:innen kostet.

Außenpolitischer Kurswechsel?

Doch nicht nur innenpolitisch dürfte eine künftige Koalitionsregierung die Verhältnisse durcheinanderwirbeln, auch außenpolitisch könnte sie gewichtige Veränderungen mit sich bringen. Zwar dürften außenpolitische Themen angesichts der enormen Herausforderungen im Innern kaum einen Einfluss auf die Wahlen haben – auch wenn Vorhaben wie die Klage gegen Israel wegen Verstößen gegen die Völkermordkonvention im Gazastreifen am Internationalen Gerichtshof (IGH) auf große Zustimmung in der Bevölkerung stoßen. Hingegen könnte der Wahlausgang die seit 1994 relativ konstante und allein vom ANC bestimmte Außenpolitik verändern. Bisher zeichnete sich diese durch gute wirtschaftliche und politische Beziehungen zu Russland und China, aber auch zum Westen aus. Letztere sind allerdings aufgrund von Südafrikas neutraler, mit der Tradition der Blockfreien-Bewegung begründeten Positionierung im Ukrainekrieg zunehmend belastet. Auch im Rahmen des BRICS-Bündnisses, dem Südafrika 2010 beitrat, versucht das Land, seine Abhängigkeit vom Westen zu verringern und auf eine gerechtere Weltordnung hinzuarbeiten.[2] Der außenpolitische Ansatz Südafrikas zeichnete sich seit 1994 durch das – wenn auch selektive – Benennen von Ungerechtigkeiten im internationalen System aus. In diesem Licht kann auch die Klage gegen Israel am IGH betrachtet werden. Das Thema Palästina besitzt in Südafrika allerdings schon lange eine besondere Bedeutung, wie das berühmte Zitat Nelson Mandelas von 1997 verdeutlicht: „Aber wir wissen nur zu gut, dass unsere Freiheit ohne die Freiheit der Palästinenser nicht vollständig ist.“

Wie die südafrikanische Außenpolitik künftig aussehen könnte, wird maßgeblich von der möglichen Regierungskonstellation abhängen. Während unter EFF-Beteiligung eine weitere Annäherung an Russland und China zu erwarten ist, könnte eine Koalition mit der DA zu einer engeren Bindung an den Westen führen. Damit zeigt sich: Bei den anstehenden Wahlen steht viel auf dem Spiel – für die Bevölkerung, den ANC wie für Südafrikas Rolle in der Welt. Wohin das Land steuert, werden Ende Mai die Südafrikaner:innen entscheiden.

[1] Devi Pillay, State capture: Professional enablers can and must be held accountable for their role, mg.co.za, 6.2.2024.

[2] Vgl. Janine Walter, BRICS: Angriff auf den Dollar, in: „Blätter“, 8/2023, S. 29-32.

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In der September-Ausgabe plädiert Lea Ypi für eine Migrationsdebatte im Sinne der Aufklärungsphilosophie. Cinzia Sciuto fordert, der zunehmenden Aushöhlung des Völkerrechts mit einer entschiedenen Verteidigung desselben zu begegnen – und nicht mit Resignation und falschem Realismus. Für Georg Diez markieren die Kriegsverbrechen in Gaza und die fehlenden Reaktionen darauf einen Epochenbruch; sie stünden für nicht weniger als den Verrat des Westens an der Humanität. Herfried Münkler analysiert, wie Kriege historisch endeten und Friedenszeiten begannen und was das mit Blick auf den Ukrainekrieg bedeutet. Simone Schlindwein deckt auf, wie Russland junge Afrikanerinnen mit falschen Versprechen für die Kriegswirtschaft rekrutiert. Warum die grüne Digitalisierung ein Mythos ist und was der KI-Boom den Globalen Süden kostet, erläutern Ingo Dachwitz und Sven Hilbig. Und Eva-Maria Klinkisch sowie Markus Rieger-Ladich zeigen auf, wie Long Covid-Betroffene von der Gesellschaft und dem Gesundheitssystem systematisch ignoriert werden – und was dagegen zu tun ist. 

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