Ausgabe Juli 2024

Macrons gefährliches Kalkül

Die extreme Rechte vor dem Wahlsieg?

Der französische Präsident Emmanuel Macron während einer Pressekonferenz am 12. Juni 2024 nach seiner Entscheidung, die Nationalversammlung aufzulösen (IMAGO / Antonin Burat / Le Pictorium)

Bild: Der französische Präsident Emmanuel Macron während einer Pressekonferenz am 12. Juni 2024 nach seiner Entscheidung, die Nationalversammlung aufzulösen (IMAGO / Antonin Burat / Le Pictorium)

Die Ergebnisse der Wahlen zum Europäischen Parlament fielen in Frankreich am Ende in etwa so aus, wie es die Umfragen vorhergesehen hatten: ein deklassiertes Lager des Präsidenten, ein triumphierender Rassemblement National (RN) und einige spärliche Achtungserfolge für Außenseiter wie Raphaël Glucksmann.[1] Um das Ausmaß der Verschiebungen ermessen zu können, muss man sich indes klarmachen, dass die Rechtsextremen unter der Führung des eloquenten Jordan Bardella mehr als doppelt so viele Stimmen erhielten wie das Lager von Emmanuel Macron. Schon Wochen vor den Wahlen war prognostiziert worden, dass der RN deutlich über 30 Prozent, die Macronisten jedoch nur um die 16 Prozent einsammeln würden; am Ende stand es 31,4 zu 14,6 Prozent. Dass Macron – der ja als demonstrativer Pro-Europäer seinen Aufstieg begonnen hatte – eine Ohrfeige durch die Wählerinnen und Wähler erhalten würde, war also erwartet worden.

Die eigentliche Überraschung kam rund eine Stunde nach den ersten Hochrechnungen: Macron kündigte an, die Nationalversammlung aufzulösen. „Überfällig“, triumphierte Bardella. „Gefährlich“, „keine gute Idee“, „extrem riskant“, so lauteten die Einschätzungen, die sofort auf den Fernsehkanälen nicht nur von Journalistinnen und Journalisten, sondern auch von Macron-Anhängern zu hören waren. Es kursierte gar ein Video vom Wahlabend der Nachwuchsorganisation des Präsidentenlagers, auf dem zu hören ist, wie die Ankündigung mit einem verzweifelt ausgerufenen „Nein!“ beantwortet wurde. Selbst die jungen Macronisten waren zunächst offenbar schockiert. Ein offizielles Foto aus dem Élysée-Palast hat den Moment festgehalten, in dem Macron dem Kabinett seinen Entschluss eröffnet. Es zeigt einen versteinert wirkenden Premierminister Gabriel Attal.

Angesichts eines regelrecht demütigenden Ergebnisses wollte Macron das Heft des Handelns offenbar wieder an sich reißen. Wie ein junger Napoleon entschied er sich für einen wagemutigen, ja womöglich tollkühnen Überraschungsangriff. Dies ist zumindest eine mögliche Lesart: Wie in der Schlacht von Austerlitz 1805 soll durch einen Vorstoß auf das Zentrum Chaos in den feindlichen Reihen entstehen. Zugleich warf Macron den Wählerinnen und Wählern den Fehdehandschuh vor die Füße. „Meint Ihr das wirklich ernst?“, schien er zu fragen, als er betonte, er vertraue den Französinnen und Franzosen. Zweifellos würden sie die richtige Entscheidung für die Zukunft des Landes treffen, so der Präsident. Am 30. Juni findet damit also die erste, am 7. Juli dann die zweite Runde der Parlamentswahlen statt. Aber kann der Befreiungsschlag gelingen, kann Macrons Kalkül aufgehen?

Wir oder das Chaos

Um diese Frage zu beantworten, müsste man zunächst verstehen, was genau Macron beabsichtigte. Was wollte er erreichen? Darüber wurde auch in der französischen Presse und in unzähligen Talkshows gerätselt. Die erste, naheliegendste Antwort lautet, dass er davon ausging, den Wählerinnen und Wählern werde bei der Wahl zur Nationalversammlung, anders als beim Europäischen Parlament, der Ernst der Lage vor Augen stehen: Europawahlen mögen eine Art Ventil sein, um Frust abzuladen und auch mal für skurrile Kleinparteien zu stimmen. Die Wahlbeteiligung ist hier ohnehin gering. Anders, so eine mögliche Überlegung, sieht es aus, wenn es Ende Juni ganz direkt um Frankreich geht. Dann werden zudem Mechanismen greifen, die, im Gegensatz zu den Wahlen zum Europaparlament, auf eine spezifische Art des Mehrheitswahlrechts hinauslaufen, weil de facto in den Wahlkreisen lauter kleine Präsidentschaftswahlen stattfinden: Wer die meisten Stimmen erobert, wird direkt ins Parlament gewählt. Unter diesen Bedingungen könnte die alte Formel „Wir oder das Chaos!“ noch einmal greifen.

Ob diese Strategie aufgeht, darf allerdings bezweifelt werden. Macrons Hoffnung, die Links-rechts-Polarisierung in eine Vorwärts-rückwärts-Unterscheidung überführen zu können – mit seiner Partei als Avantgarde sowie den Linkspopulisten und Rechtsextremen als zwei Varianten der Nostalgie –, scheint sich nicht zu erfüllen: Das Denken in Links und Rechts kommt wie die Wiederkehr des Verdrängten nur umso heftiger zurück. Nun erscheint plötzlich Macron wie der Meister des Chaos, dessen plötzliche Politikwechsel (beispielsweise gegenüber Russland) eher verwirren als beeindrucken.

Eine zweite Überlegung Macrons könnte sich auf den Überraschungseffekt beziehen. Sowohl die Linke als auch das äußerst rechte Lager sind fragmentiert, ja teilweise heillos zerstritten. Tiefe ideologische Gräben durchziehen vor allem das linke Feld. Womöglich hoffte Macron auch schlicht darauf, dass sich die politische Konkurrenz so schnell gar nicht würde sortieren können. Denn nach seiner Neuwahlankündigung blieb den Parteien weniger als eine Woche Zeit, um Kandidaten für die Wahlkreise aufzustellen.

Dieser Coup scheint im Moment nur bedingt aufzugehen. Auf den ersten Blick hat es Teile der Rechten wohl tatsächlich kalt erwischt, bei ihnen läuft die Neusortierung besonders holprig. So waren Les Républicains (die klassischen Konservativen) bei den Europawahlen noch weiter abgerutscht, auf nur noch 7,3 Prozent. Ihr Vorsitzender Éric Ciotti verkündete nach Macrons Schritt eine Allianz mit dem RN, wurde daraufhin aus der Partei geworfen, zog dagegen vor Gericht und gewann. Auch bei der neben dem RN zweiten rechtsextremen Partei entstand zunächst Chaos: Marine Le Pens Nichte Marion Maréchal (die ihren alten Nachnamen Le Pen gestrichen hat) wird für die Partei Reconquête ins Europäische Parlament einziehen. Sie verkündete sofort, mit ihren ehemaligen Parteifreunden vom RN Gespräche führen zu wollen, während der eigentliche Parteigründer und Strippenzieher Éric Zemmour sprachlos danebenstand – woraufhin er Maréchal samt Mitstreitern vor die Tür setzte.

Schwer kalkulierbar bleibt bei alledem, wie die Wählerinnen und Wähler reagieren werden: Sind konservative Wähler nun abgeschreckt und wenden sich sicherheitshalber dem Macron-Lager zu? Oder befürworten sie teilweise gar Allianzen mit der extremen Rechten?

Einen genau umgekehrten Effekt hatte Macrons Ankündigung auf das linke Lager: Binnen 24 Stunden schlossen sich Sozialisten, Grüne, Kommunisten und die linkspopulistische La France insoumise (LFI) zum Nouveau Front Populaire zusammen und riefen mit dem Verweis auf die „Volksfront“ den historischen Kampf gegen den Faschismus wach. Das kam überraschend, schienen sich die beteiligten Kräfte doch nach dem Hamas-Überfall vom 7. Oktober 2023 unwiderruflich zerstritten zu haben, inklusive Antisemitismusvorwürfen gegen die Linkspopulisten. Auch in diesem Fall ist die Lage offen: Stößt ein Bündnis mit Jean-Luc Mélenchons LFI gemäßigt linke Wähler ab? Wird die Angst vor den Extremen tatsächlich den Macronisten die Wähler zutreiben? Das wird erst der 7. Juli zeigen.

Macron-Müdigkeit und Bardella-Mania

Eine dritte Überlegung Marons könnte tatsächlich darin bestehen, Bardella zum Premierminister zu machen – in der Hoffnung, den RN einzubinden und zu zivilisieren. Dann fänden sich Macron und Bardella in einer Cohabitation wieder, also einem gemischten Team mit progressivem Präsidenten und rechtsextremem Premierminister. Doch dies wäre keine Cohabitation wie früher zwischen Konservativen und Sozialisten, sondern ein äußerst instabiles, von Misstrauen geprägtes Gebilde. Der RN könnte alle Versäumnisse, Fehler und Unzulänglichkeiten dem Umstand zuschreiben, dass er eben noch immer nicht im Élysée sitze. Dass sich die Rechtsextremen im Amt selbst entzaubern werden, darf indes als unwahrscheinlich gelten. Auf kommunaler Ebene ist dies nie geschehen. Dann würde statt der Entzauberung nur eine Normalisierung erfolgen – und genau dieses Szenario fürchten viele, denen es nach Macrons Ankündigung die Sprache verschlagen hat.

Aber wie konnte es überhaupt so weit kommen? Zu behaupten, mit den Ergebnissen der Europawahlen bilde sich in Frankreich lediglich ein gesamteuropäischer Rechtstrend ab, wäre unterkomplex. Diesen gesamteuropäischen Trend gibt es so nicht, wie der Blick nach Norden zeigt. Es sind durchaus spezifische Gründe für die demokratiepolitisch desaströse Entwicklung in Frankreich. Der erste dieser spezifischen Gründe ist womöglich der Präsident selbst beziehungsweise das mediale Bild, das sich von ihm verfestigt hat. Auch seine zweite Europarede in der Sorbonne vom 24. April war von großem medialen Interesse begleitet und auf allen Kanälen interpretiert worden. Aber Macrons intellektuelle Brillanz verfängt in Frankreich schon seit längerem nicht mehr, im Gegenteil. Bisweilen scheint es beinahe so, als stoße gerade seine rhetorische Geschliffenheit viele Franzosen mittlerweile ab. Komplexe Gesamtdiagnosen will man nicht mehr hören, selbst wenn sie plausibel sind. Seine Mahnung, Europa könne sterben, motivierte offensichtlich nicht.

Der zweite Grund liegt in der Spitzenkandidatin des von Macron angeführten Bündnisses: Valérie Hayer gelang es nicht, ein eigenständiges Profil zu entwickeln, obwohl sie zweifellos das Potenzial gehabt hätte. Aus einer Bauernfamilie stammend (ihre Heimatregion Mayenne liegt etwa auf halbem Weg zwischen Paris und der Bretagne), hatte sie höchste akademische Weihen erhalten und sich als finanzpolitische Expertin einen Namen gemacht. Obwohl niemand ernsthaft ihre schon sehr früh gesammelten Erfahrungen infrage stellen kann, wurde sie den Ruf, als Günstling von Macron und seinem Premier Attal nach oben gerutscht zu sein, nicht mehr los.

Ein dritter Grund war der Anführer des RN im Europawahlkampf: Jordan Bardella. Schon mit 16 Jahren trat der aus einer Familie mit italienisch-algerischem Migrationshintergrund stammende Aikido-Kämpfer in den damaligen Front National ein. Über seine zahlreichen familiären Verquickungen mit dem Le Pen-Clan ließe sich einiges berichten, aber wichtiger als sein parteiinterner Aufstieg ist seine Wirkung nach außen: Er ist Jahrgang 1995, smart, rhetorisch gewandt, eine Art perfekt rasierter Schwiegersohn mit Manieren – und zugleich ein expliziter Anhänger der Verschwörungstheorie vom „großen Austausch“. Doch bleibt er stets bemüht, nicht zu weit zu gehen. Auf die Frage, ob Mohammed ein französischer Vorname sein könne, antwortete er im französischen Fernsehen nur ausweichend. Die Forderung, als Zeichen der Assimilation „französische“, also de facto katholische Vornamen zu wählen, kam vor einigen Jahren am rechten Rand auf. Dass sein eigener Vorname Jordan wohl auch nicht im Heiligenkalender zu finden sei, beantwortete er mit dem Hinweis, sein amerikanischer Name sei primär ein sozialer Marker: Er komme aus der Unterschicht. Armut aber sei keine Entschuldigung für Kriminalität, dafür sei er selbst der beste Beleg.

Unter seiner Ägide hat der RN eine extrem erfolgreiche Strategie der Annäherung an die Mediengewohnheiten junger Menschen vollzogen. Ähnlich wie die AfD ist auch der RN auf TikTok und anderen Social Media-Kanälen sehr aktiv und sehr erfolgreich. Zeitweise war von einer „Bardella-Mania“ die Rede. Zudem strahlen die Sommerakademien und Parteiveranstaltungen der Rechtsextremen den Charme eines hedonistischen Jugendfestes aus: Fröhliche Gamification und Indoktrinierung gehen hier Hand in Hand. Bardella gibt sich zugänglich, sagt, er respektiere die Wählerinnen und Wähler aller Parteien und sei der wahre Demokrat. Die EU und die „kleinen grauen Männchen in Brüssel“ hingegen karikiert er, wie in seiner Partei üblich, als eine Art Sowjetunion, welche die französische Souveränität untergraben würden. Vom Frexit spricht der RN jedoch nicht mehr. Die Institutionen der EU sollen nicht mehr zerstört, sondern zur Durchsetzung der eigenen Politik genutzt werden.

Eine weitere Wende besteht darin, dass nach dem 7. Oktober 2023 vor allem LFI offen mit antisemitischen Tönen kokettierte. Ausgerechnet der RN kann sich nun plötzlich als Bollwerk gegen ein angebliches Bündnis von Linksextremen und Islamisten inszenieren. Wie ein Paukenschlag donnerte Mitte Juni die Nachricht, Serge Klarsfeld werde bei einer Stichwahl zwischen LFI und RN für die Partei Le Pens stimmen. Damit erhielt Bardella das Gütesiegel von einem der wichtigsten öffentlichen Intellektuellen Frankreichs, dessen Vater im KZ ermordet wurde und der jahrzehntelang Prozesse gegen Nazis und Kollaborateure angestrengt hatte.

Eine Europäisierung der Entdämonisierung

Die Strategie von Marine Le Pen, die Rechtsextremen zu entdämonisieren, ist mittlerweile fast vollständig aufgegangen. In die Hände spielte ihr dabei, dass mit Éric Zemmour bei den letzten Präsidentschaftswahlen ein noch extremerer Kandidat angetreten war. Im Vergleich zur Reconquête – bei der man recht offen ethnische Säuberungen imaginiert –, wirkt der RN beinahe gemäßigt und vernünftig.

Der Bruch mit der AfD im Europaparlament und der Ausschluss von Maximilian Krah aus der gemeinsamen Fraktion nach dessen Verharmlosung der SS kann in diesem Sinne auch als Europäisierung dieser Entdämonisierungsstrategie gelesen werden. Nicht mehr nur Zemmour, sondern auch die AfD hilft nun beim Framing: „Seht her, wir sind nicht so schlimm wie die deutschen Rechtsextremen! Wer nicht versteht, dass alle Mitglieder der Waffen-SS Verbrecher waren, mit dem können wir nicht zusammenarbeiten!“, so wird gesagt. Le Pen nutzt, wie Giorgia Meloni in Italien, die AfD als bullet catcher – in beiden nationalen Öffentlichkeiten herrscht aus verständlichen Gründen eine gewisse Deutschlandskepsis.

Bardella spielten in diesem Wahlkampf aber noch weitere Entwicklungen in die Karten. So sind beispielsweise die Daten zum Wahlverhalten der jungen Französinnen und Franzosen in der Tat erstaunlich: Über Jahrzehnte war es völlig selbstverständlich, dass die Jungen links wählten. Heute jedoch liegt der RN bei den 16- bis 24-Jährigen vorne.[2]

Viele Französinnen und Franzosen sehnen sich nach plausiblen Antworten auf die Probleme ihres Alltags. Neben dem Kaufkraftverlust ist seit Jahren vor allem das Schlagwort innere Sicherheit ein Dauerbrenner, der durch medienwirksame Ereignisse beständig neues Futter bekommt. Erst Mitte Mai ist beispielsweise der Drogenboss Mohamed Amra an einer Autobahnmautstation in der Normandie von Komplizen brutal aus einem Gefangenentransporter befreit worden. Die Videobilder zeigen vier schwarz gekleidete Männer, die kaltblütig mit Maschinengewehren das Feuer auf die Justizbeamten eröffnen. Zwei Beamte starben, drei wurden schwer verletzt. Es folgten Proteste der Justizbeamten – und zahllose Reportagen über die unhaltbaren Zustände in französischen Gefängnissen.

Beinahe zeitgleich hatte am 14. Mai eine Enquetekommission des französischen Senats unter Vorsitz des Sozialisten Jérôme Durain ihre Vorschläge zur verbesserten Bekämpfung der organisierten Kriminalität vorgestellt. Der Abschlussbericht enthält zahlreiche detaillierte Empfehlungen, vor allem fordert er drei Paradigmenwechsel ein: Der Drogenhandel müsse erstens als staatsgefährdend betrachtet werden und sei daher mit geheimdienstlichen Mitteln zu bekämpfen. Zweitens müssten die Finanzflüsse durch neue Befugnisse vollumfänglich nachverfolgbar gemacht werden. Und drittens wird die Einrichtung einer „DEA à la française“ gefordert, also eines französischen Pendants zur US-Drug Enforcement Administration, die berechtigt wäre, direkte Anweisungen an lokale Beamte von Gendarmerie, Polizei und Zoll zu erteilen. Diese solle dann eine langfristig ausgerichtete Strategie zur Zerschlagung des Drogenhandels verfolgen.[3]

Olympische Spiele unter Terrorgefahr

Drogenhandel als Äquivalent zum Terrorismus – in einem Land wie Frankreich, das von extremen Terroranschlägen traumatisiert ist, hat diese Diagnose einen besonderen Resonanzraum. Das Näherrücken der Olympischen Spiele, die vom 26. Juli bis zum 11. August in Paris stattfinden werden, macht das Thema Terrorprävention zudem alltäglich präsent.

Macron hatte höchstpersönlich Ende Februar das Olympische Dorf in Saint-Ouen eingeweiht und bei dieser Gelegenheit versprochen, während der Spiele in der dann hoffentlich tatsächlich sauberen Seine zu baden. Die von ihm besichtigten Neubauten sollen Entspannung in den Pariser Wohnungsmarkt bringen und den Vorort langfristig zu einem neuen angesagten Viertel machen. Ende Mai kursierte dann ein Hashtag in den sozialen Medien, der dazu aufforderte, pünktlich zu Macrons Badetermin in die Seine zu defäkieren. Das Beispiel zeigt, welchen Grad der Verrohung der politische Diskurs auch in Frankreich erreicht hat. Emblematisch wird hier sichtbar, wie die Res publica mit Dreck beschmutzt wird, um einen diffusen Groll gegen „die da oben“ auszudrücken.

Aber das ist nur das kleinste Problem. Denn bei den Spielen muss man nicht nur islamistischen Terror befürchten, sondern auch russische Sabotageakte und Störaktionen, vielleicht sogar direkte Anschläge. So wurde am 5. Juni in der Nähe von Paris ein mutmaßlicher russischer Spion festgenommen, dessen Sprengsatz wohl zu früh detonierte. Auch wurden in Frankreich immer wieder vermutlich aus Russland gesteuerte Akteure gefasst, die mit antisemitischen Schmierereien zur Spaltung der Gesellschaft beitragen sollten. Macron, der einst für die Aussage gerügt wurde, der Westen dürfe Russland nicht demütigen, gehört heute zu den entschiedensten Gegnern Putins. Es wird gemutmaßt, Macrons härterer Kurs speise sich auch aus geheimdienstlichen Erkenntnissen, die eine immer umfassendere russische Einmischung in Frankreich belegen.[4]

Finanzprobleme – mehr als nur finanzieller Art

Auf der Hinterbühne dieser Entwicklungen spielt sich ein beinahe unbeachtetes Drama ab: Ein Frankreich, das auf der geopolitischen Bühne die Aufklärung und die Menschenrechte verteidigen will, braucht nicht zuletzt finanzielle Stärke. Doch auch finanzpolitisch operiert Frankreich im Krisenmodus. Die großen Ratingagenturen Fitch, S&P und Moody’s blicken immer kritischer auf Frankreich. Die Neuverschuldung ist mit 5,5 Prozent hoch, die aufgehäuften Schulden ohnehin jenseits aller Maastricht-Kriterien von 60 Prozent des Bruttoinlandsproduktes: 2023 lagen die Staatsschulden in Griechenland bei 161,9 Prozent des BIP, in Italien bei 137,3 Prozent und in Frankreich bei 110,6 Prozent. Das sind Vergleiche, die in Paris schmerzen.

Problematisch ist dieses Delta zwischen Selbstverpflichtung und Realität auch politisch. Denn Finanzminister Bruno Le Maire galt lange als mögliche Alternative zum Präsidenten. Der gemäßigte Konservative hatte bereits Ambitionen auf Macrons Nachfolge zu erkennen gegeben. Aber ein Wahlkampf der Bauart „Wir oder das Chaos!“ wird schwierig, wenn die eigene Finanzpolitik so erkennbar hinter den expliziten Selbstverpflichtungen zurückbleibt. Auch der Streit um die per Dekret durchgesetzte Rentenreform steht immer noch als Menetekel im Raum. Frankreich befindet sich folglich in einem unkalkulierbaren Wahlkampf mit kaum vorhersehbaren Ergebnissen. Was eine Regierung unter einem Premierminister Bardella für Frankreich und Europa bedeuten würde, ist schwer vorstellbar.

Tragisch und extrem beunruhigend ist diese Entwicklung insofern, als sie im schlimmsten Fall das Scheitern neuer demokratiepolitischer Ansätze bedeuten könnte. Die aus einer ehrgeizigen Klimapolitik erwachsenen Konflikte, die in den Gelbwesten-Protesten sichtbar wurden, wollte Macron durch einen großen Bürgerrat abmildern. Es hat offenbar nicht gewirkt, was auch die Hoffnungen, die in deliberative Verfahren gelegt werden, infrage stellt. Die Fragmentierung und ideologische Verhärtung des progressiven Lagers wollte Macron durch ein breites Bündnis beantworten. Doch dieses ist so stark in der Defensive wie noch nie seit seinem Aufstieg. Und mit den Olympischen Spielen wollte Macron in einem der Mutterländer der Demokratie die Attraktivität universalistischer Werte und Prinzipien global sichtbar machen. Dass zumindest dies gelingen wird, kann man nur hoffen.

[1] Glucksmann, Sohn des Philosophen André Glucksmann, äußerst medienpräsenter Journalist und öffentlicher Intellektueller, hatte 2018 eine durchaus lesenswerte Analyse zur Krise der Demokratie in Frankreich vorgelegt. Darin kritisiert er vor allem einen Hyperindividualismus, der zur Erosion der Demokratie beitrage. Einige Kritiker aus seinem nahen Umfeld werfen ihm wiederum vor, selbst ein Beispiel für Egozentrismus zu sein. Vgl. Raphaël Glucksmann, Les enfants du vide: De l’impasse individualiste au réveil citoyen, Paris 2018.

[2] Vgl. etwa: Camille Bordenet, Charlotte Bozonnet, Clément Guillou, Léa Iribarnegaray und Corentin Lesueur, Cette jeunesse qui votera pour Jordan Bardella et le RN aux élections européennes, in: „Le Monde“, 28.5.2024.

[3] Vgl. Commission d’enquête sur l’impact du narcotrafic en France et les mesures à prendre pour y remédier, senat.fr, 14.5.2024.

[4] Zudem wurde in Moskau der französische Mitarbeiter einer NGO festgenommen; dem 47-jährigen Laurent Vinatier wird vorgeworfen, sich nicht als „ausländischer Agent“ registriert zu haben.

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