Ausgabe März 2025

Kanada als Vorbild: Fünf Punkte für nachhaltige Migration

Wandgemälde mit der Skyline von Berlin und der Aufschrift »Willkommen in Berlin« in verschiedenen Sprachen vor dem Landesamt für Einwanderung in Berlin, 7.7.2020 (IMAGO / Janine Schmitz / photothek)

Bild: Wandgemälde mit der Skyline von Berlin und der Aufschrift »Willkommen in Berlin« in verschiedenen Sprachen vor dem Landesamt für Einwanderung in Berlin, 7.7.2020 (IMAGO / Janine Schmitz / photothek)

Angetrieben von der AfD, die die jüngsten Anschläge durch Asylbewerber nutzt, um immer weitere Verschärfungen in der Migrationspolitik zu fordern, schlittert die Bundesrepublik gegenwärtig in eine aktionistische Abschottungspolitik, die jegliche Expertise aus Wirtschaft und Wissenschaft ignoriert. Seit Jahren wird dadurch hierzulande verhindert, dass dringend notwendige Weichen in der Migrationspolitik neu gestellt werden. Dabei war die Ampel angetreten, das Land, das sich im letzten Jahrzehnt immer deutlicher zu einem Einwanderungsland entwickelt hat, migrationspolitisch in die Zukunft zu führen. Der Koalitionsvertrag mit dem Titel „Mehr Fortschritt wagen“ enthielt eine Agenda mit 35 konkreten Vorschlägen, von denen einige umgesetzt wurden. Wegweisend war etwa das erweiterte Fachkräfteeinwanderungsgesetz, das dafür sorgen soll, dass Fachkräfte schneller und unbürokratischer nach Deutschland einwandern und hier arbeiten können. Eine Chancenkarte soll dabei mittels eines Punktesystems ermöglichen, dass künftig auch Arbeitskräfte ohne Hochschulabschluss kommen dürfen, sofern sie bestimmte Qualifikationen nachweisen können. Zu den Auswahlkriterien gehören Sprachkenntnisse, Berufserfahrung, Alter und Deutschlandbezug, aber auch das Potenzial des mitziehenden Ehe- oder Lebenspartners. Zu den großen migrationspolitischen Würfen gehörte auch die Einführung eines Chancen-Aufenthaltsrechts, das Kettenduldungen verhindern und die Zahl der Langzeitgeduldeten reduzieren soll: Besondere Integrationsleistungen von Geduldeten sollen gewürdigt werden, indem ihnen künftig nach sechs oder, bei Zusammenleben mit minderjährigen Kindern, schon nach vier Jahren ein Bleiberecht eröffnet wird. Und der „Spurwechsel light“ soll es vor dem 29. März 2023 eingereisten Asylbewerbern erleichtern, vom Asylverfahren in die Aufenthaltsspur zu wechseln, sofern sie eine qualifizierte Tätigkeit ausüben oder in Aussicht haben. 

Doch schon bevor die Ampelregierung zu Bruch ging, schien es, als habe sie der Mut zu ihrer eigenen progressiven Migrationspolitik verlassen. Regierung und Opposition überboten sich in einem migrationsfeindlichen Aktionismus, forderten Härte in der Flüchtlingspolitik, Abschiebungen, die Zurückweisung von Geflüchteten schon direkt an der Grenze oder die Wiedereinführung von Grenzkontrollen im Schengenraum. Sollte auch die kommende Bundesregierung diese migrationsfeindliche Rhetorik trotz einer überalterten Gesellschaft und massiven Fachkräftemangels weiterführen, könnte das Deutschland dauerhaft schaden. Bereits jetzt rangiert die Bundesrepublik auf der Beliebtheitsskala unter ausländischen Fachkräften in den OECD-Ländern auf Platz 50 von 53 Ländern.[1] 

Deutschland fehlt eine migrationspolitische Zukunftserzählung

Migrationspolitik wird hierzulande fast ausschließlich reaktiv und von rechter Seite gar rekonstruktiv verhandelt – mit dem Versprechen, durch Massenausweisungen eine imaginäre Vergangenheit wiederherzustellen, in der es keine Migranten gab. Woran es in Deutschland dagegen fehlt, ist eine migrationspolitische Zukunftserzählung. Dabei hat sich Deutschland im vergangenen Jahrzehnt zu einem der dynamischsten Migrationsakteure der Welt entwickelt und Migration wird das Land auch in Zukunft stark prägen. Die Bundesregierung, die sich in Europa an die Spitze gestalterischer Prozesse setzen möchte, sollte daher auch in der Migrationspolitik vorausschauend handeln. Orientierung bieten könnte ihr dabei ein auf fünf Pfeilern basierender migrationspolitischer Kompass, der planerisch, antizipierend, simulativ-steuernd und sozial ist. Als Vorbild dienen kann dabei insbesondere Kanada, das Migration über Jahrzehnte als ein zentrales Element seiner positiven Selbstidentifikation betrachtet hat. Schon 1967 führte das Land ein Punktesystem als koordinierendes Element seiner Migrationspolitik ein, 1971 wurde Multikulturalismus zum Leitbild für seine plurale Einwanderungsdemokratie. Zugleich richtete Kanada die Migrationspolitik strategisch an seinen wirtschaftlichen, sozialen und demographischen Bedürfnissen aus und schuf dafür – wie viele andere Einwanderungsländer auch, darunter Australien, Neuseeland, Dänemark und Griechenland – ein zentrales Ministerium. 

Deutschland und Kanada haben viele Gemeinsamkeiten: Beide Länder verfügen über eine vielfältige Einwanderungsgesellschaft, bemühen sich, Lücken auf dem Arbeitsmarkt zu schließen und bekennen sich zur UN-Flüchtlingskonvention. Allerdings ist Kanada deutlich größer als Deutschland, Migration wird also gedanklich nicht mit Flächenstau verknüpft – auch wenn ein großer Teil Kanadas im Permafrost liegt und die Bevölkerung sich im Süden, nahe der US-Grenze konzentriert. Außerdem ist Kanada von drei Ozeanen umgeben und hat nur eine einzige Landesgrenze – die allerdings deutlich länger ist als die neun Landesgrenzen zu Deutschland. Obwohl irreguläre Migration allein durch die Geographie Kanadas deutlich unwahrscheinlicher erscheint, haben 2023 knapp 150 000 Menschen einen Asylantrag gestellt. 2024 war diese Zahl bereits im September erreicht.[2] Trotz seiner doppelt so großen Bevölkerung ist Deutschland mit knapp 251 000 Asylanträgen in 2024 nicht überproportional von der kanadischen Größenordnung entfernt.[3]

Kanada hat allerdings nach drei Jahren umfassender Einwanderungsoffenheit, mit der es die Wirtschaftseinbußen im Zuge der Coronapandemie auffangen wollte, seine Zielmargen für Migration jüngst wieder verringert. Die Regierung reduzierte auch die Zahl der Aufenthaltserlaubnisse für nicht dauerhaft ansässige Zuwanderer, darunter internationale Studierende und temporäre ausländische Arbeitskräfte. Auch in Kanada treffen aktuell Inflation, exorbitante Mietpreise, mangelnde ärztliche Versorgung und marode Schulen auf eine außergewöhnlich hohe Zuwanderungsrate, was in der kanadischen Bevölkerung erstmals zu einer Skepsis gegenüber Einwanderung geführt hat. Die Unzufriedenheit in der Bevölkerung folgt bis dato allerdings in erster Linie ökonomischen Argumenten und ist (noch) nicht in eine kulturell-rassistische Abwehr gekippt, wie sie in Deutschland und den USA zu beobachten ist. Und trotz der reduzierten Quoten hat Kanada seine Prinzipien in der Zuwanderungspolitik nicht aufgegeben und vertraut auf seine erprobten migrationspolitischen Instrumente. 

Steuerung statt Ineffizienz: Ein Migrationsministerium für Deutschland

Seit 2001 gilt Deutschland offiziell als Einwanderungsland. Doch während viele Einwanderungsländer seit Jahrzehnten über Migrationsministerien und Steuerungspolitiken verfügen, die flexibel an Krisen und Bedarfe angepasst werden können, sind hierzulande weiterhin mehrere Ministerien für Migration zuständig. Zuständigkeiten für Einwanderung, Asyl, Fachkräfteanwerbung, Integration und Staatsangehörigkeit sind zwischen dem Innenministerium, dem Arbeitsministerium, dem Wirtschaftsministerium und dem Außenministerium aufgeteilt, was zu bürokratischen Hürden, widersprüchlichen Regelungen und ineffizienten Entscheidungsprozessen führt. Ein Migrationsministerium würde dagegen klare Zuständigkeiten schaffen und eine kohärente, strategische und langfristige Steuerung ermöglichen. Statt Migration nur zu verwalten, könnte Deutschland nach kanadischem Vorbild eine vorausschauende Migrationspolitik betreiben, die jährliche Zuwanderungsziele definiert, die Migration gemäß dem Arbeitsmarktbedarf steuert, eine faire und an regionalen Bedarfen angepasste Verteilung in den Bundesländern sicherstellt und zugleich den humantiären Verpflichtungen treu bleibt.

Ein eigenes Migrationsministerium könnte auch dazu beitragen, Migration aus der vorrangig sicherheitspolitischen Ecke herauszulösen. Derzeit liegt die Hauptverantwortung beim Innenministerium, was dazu führt, dass Migration zu oft als Bedrohung statt als wirtschaftliche und gesellschaftliche Ressource behandelt wird. Ein Migrationsministerium würde sich auf Fachkräftezuwanderung, Integrationspolitik und demografische Strategien konzentrieren, während das Innenministerium sich weiterhin um Grenzschutz, Kriminalitätsbekämpfung und Deradikalisierung kümmern könnte. Auch in der europäischen und internationalen Migrationspolitik würde ein zentrales Ministerium Deutschland stärken. Es könnte Migrationsabkommen effizienter verhandeln, eine bessere Abstimmung innerhalb der EU ermöglichen und Deutschland international in die Lenkung von Migration einbinden.

Deutschland braucht, zweitens, eine strategische Migrationspolitik mit transparenten Zielvorgaben und realistischen Zuwanderungsprojektionen. Kanada verfolgt diesen Ansatz durch sogenannte Immigration Level Plans, die jährlich konkrete Einwanderungsziele definieren und dreijährig festgelegt werden. Sie ermöglichen eine vorausschauende Personal- und Infrastrukturplanung und schaffen Verlässlichkeit für Verwaltungen, Unternehmen und die Zivilgesellschaft. Seit Jahren ist bekannt, dass Deutschland eine Nettozuwanderung von etwa 400 000 bis 500 000 Menschen benötigt. Die Bruttozuwanderung müsste jährlich sogar bei 1,5 Millionen liegen, um die beträchtliche Abwanderung zu kompensieren.[4] Ein Dreijahresplan müsste somit auf etwa 4,5 Millionen Einwandernde setzen. 

Ergänzend dazu sollte über zirkuläre Migrationsmodelle mit „atmenden Grenzen“ nachgedacht werden, um den Bleibedruck samt Familiennachzug zu senken, die temporäre Rückkehr in Herkunftsländer zu ermöglichen, ohne die Rückeinreise nach Deutschland zu gefährden, und so hiesige Infrastrukturkapazitäten zu entlasten. Auch die Migrationspartnerschaften, die die Bundesregierung mit Kenia, Ghana, Marokko, Usbekistan, Indien und anderen Ländern abgeschlossen hat, schaffen Planbarkeit.

Migrationspolitik darf allerdings nicht auf die wirtschaftliche Verwertungslogik reduziert werden. Migration bedeutet mehr als das Schließen von Fachkräftelücken – sie verändert die gesellschaftliche Komposition nachhaltig und prägt ihre Selbstdefinition. Kanada hat den Fehler begangen, viele Arbeitsmigranten nach der Coronapandemie nur noch befristet aufzunehmen. Die temporäre Begrenzung erzeugte soziale Konkurrenz unter den Lohnarbeitenden und eine Wohnungskrise, die aktuell für die erstmalige Migrationsmüdigkeit der kanadischen Bevölkerung mitverantwortlich gemacht wird. Die Erfahrung Kanadas zeigt: Migrationspolitik muss mit Sozialpolitik verknüpft werden. Dazu bedarf es Investitionen in Bildung, Gesundheit und Infrastruktur sowie verlässlicher Vereinbarungen, die gesellschaftlichen Bedürfnissen ebenso gerecht werden wie den Rechten der Migranten. Integration ist nur dann nachhaltig, wenn die Aufnahmestrategien auch soziale Absicherung, bezahlbaren Wohnraum und Chancengerechtigkeit für alle beinhalten. Ist das aufgrund ökonomischer Krisen nicht möglich, müssen Migrationsziele angepasst werden.

Darüber hinaus sollte die Migrationspolitik, drittens, frühzeitig erkennen lassen, wer sich für Einwanderung nach Deutschland interessiert und auf den Weg begibt, welche Pläne und Hoffnungen diese Menschen mitbringen und welche Beiträge sie leisten können. Ein Punktesystem nach kanadischem Vorbild könnte hier eine Lösung sein, da es transparente Kriterien setzt und Migration nach nachvollziehbaren Maßstäben steuert. In Kanada basiert das System auf dem sogenannten Comprehensive Ranking System, das Bewerber anhand objektiver Faktoren bewertet. Punkte werden für Bildung, Berufserfahrung, Sprachkenntnisse, Alter und eine gesicherte Arbeitsstelle vergeben. 

Eine partizipative Steuerung der Migration ist dabei essenziell: Wie Kanada braucht Deutschland eine faire und planbare Verteilung von Schutzsuchenden und Einwandernden, damit Kommunen und Länder sich frühzeitig vorbereiten können. Besonders wirksam ist in Kanada die Möglichkeit, durch das Provincial Nominee Program gezielt Fachkräfte für spezifische regionale Bedarfe zu gewinnen. In diesem Programm legen Provinzen eigene Auswahlkriterien für Einwandernde fest. Auch Deutschland sollte stärker auf die Gestaltungsfreiheit der Länder, Städte und Kommunen setzen, anstatt Migration vorrangig über den Königsteiner Schlüssel räumlich zu verteilen, der zwar in Krisensituationen aktiviert werden können muss, aber langfristig keine nachhaltige Strategie bietet. Kommunen und Bundesländer sollten vielmehr die Möglichkeit erhalten, ihre eigenen Kriterien und Zuwanderungsquoten festzulegen. Bereits jetzt gibt es in Deutschland ein algorithmengestütztes Matching-Programm, das Zuwandernde gezielt mit Regionen zusammenbringt, die bestimmte Fachkräfte suchen oder spezielle demografische Bedarfe haben.[5] Auf diesen Ansätzen gilt es aufzubauen, um dem seit Jahren um sich greifenden Gefühl des Autonomieverlusts entgegenzuwirken.

Zukünftige Entwicklungen voraussehen

Weltweit gibt es rund 281 Millionen Menschen, die außerhalb ihres Geburtslandes leben, was einem Anteil von 3,6 Prozent der Weltbevölkerung entspricht.[6] Mehr als 96 Prozent der Menschen migrieren dagegen nicht. Sie leben und sterben in den Ländern, in denen sie auch geboren wurden. Das Bewusstsein dafür zu schaffen, dass alternde Gesellschaften um diese 3,6 Prozent Migrierende konkurrieren werden, ist für eine vorausschauende Migrationspolitik zentral. Auch Länder wie Südkorea oder Japan steigen nach Jahrzehnten der Migrationsabwehr in die weltweite Migrationsanwerbung ein. Und obwohl Kanada aktuell seine Einwanderungszahlen reduziert, nachdem es in den vergangenen drei Jahren um drei Millionen Menschen gewachsen ist, will es seine Population bis Ende des Jahrhunderts quasi verdreifachen – so zumindest sieht es der ambitionierte Vorschlag der einflussreichen zivilgesellschaftlichen „Century Initiative“ vor. Diese plädiert dafür, die Bevölkerungszahl in den kommenden 75 Jahren von 40 auf 100 Millionen Menschen „hochzufahren“, um produktionsstärker und global einflussreicher zu werden.[7] Die Golfstaaten wiederum haben angekündigt, dass sie allein für ihren Golf-Futurismus eine Million Arbeitskräfte zusätzlich benötigen.

In dieser Neuverteilung globaler Migrationsströme darf sich Deutschland nicht abhängen lassen. Daher sollte Deutschland, viertens, auf Simulation und „Forecasting“ als zentrale Steuerungsinstrumente setzen. Kanada nutzt diese bereits, um demografische Entwicklungen, Arbeitsmarktprognosen und wirtschaftliche Bedarfe zu analysieren. Quantitative Modelle erfassen Fachkräftepotenziale, Bildungsprofile und Mobilitätsbereitschaft, während qualitative Szenarien geopolitische Entwicklungen und gesellschaftliche Trends einbeziehen. Demografische Szenarien, die zukünftige gesellschaftliche Entwicklungen und globale Migrationskorridore vorausschauend analysieren, sollten in enger Zusammenarbeit mit Wissenschafts-, Wirtschafts-, Technologie- und Migrationsforschungsinstituten in die Politikgestaltung einfließen, um Fach- und Arbeitskräfte gezielt anzuwerben und Deutschlands Attraktivität als Einwanderungsland für jene zu stärken, auf die das Land bereits jetzt und in der Zukunft umso mehr angewiesen ist. Wer Migration nur verwaltet, wird im globalen Wettbewerb verlieren.

Zugleich muss Deutschland seinem selbstgesetzten Wertekanon und seinen internationalen humanitären Verpflichtungen nachkommen. So zu tun, als könnten Deutschlands Grenzen geschlossen und dauerhaft Grenzkontrollen umgesetzt werden, steht im Widerspruch zu den Schengen-Regeln. Auch die Abweisung Schutzsuchender an der Grenze ist rechtlich fragwürdig, da das europäische Recht zunächst die Einreise fordert, bevor über einen Aufenthalt entschieden wird. Eine Notstandsregelung auf EU-Ebene durchsetzen zu wollen, deren rechtliche Grundlage unklar ist, zeugt nicht von einer planvollen Migrationspolitik. Die Forderungen von Friedrich Merz und der Union nach mehr Abschiebungen und Abschiebehaft, für die sie im Bundestag mit den Stimmen der AfD eine Mehrheit bekommen haben, stoßen auch auf praktische Hürden, etwa wenn diplomatische Beziehungen zu Herkunftsländern wie Afghanistan fehlen oder es schlicht zu wenig Haftplätze gibt, die einer Verschärfung der Abschiebepolitik im Wege stehen.

Sinnvoller wäre es dagegen, fünftens, wenn Deutschland die jährlich aufgenommenen Geflüchteten in die eigenen Migrationsziele einbezöge und ein Resettlement-Programm entwickeln würde – ein humanitäres Aufnahmeverfahren, bei dem besonders schutzbedürftige Geflüchtete direkt aus Erstaufnahmeländern (etwa aus Lagern des UNHCR) sicher und geordnet in Aufnahmestaaten gebracht werden. Anders als bei spontanen Asylanträgen wird dabei bereits vor der Einreise geprüft, ob ein Schutzanspruch besteht. Staaten wie Kanada, Australien und die USA nutzen Resettlement-Programme gezielt, um legale, sichere und kontrollierte Zugangswege für Geflüchtete zu schaffen und irreguläre Migration zu reduzieren. Das Recht auf Asyl an der Grenze darf davon aber nicht tangiert werden. Politisch Verfolgte genießen Asyl nach dem Grundgesetz und der Genfer Flüchtlingskonvention.

Der Anteil der Flüchtlinge an der Gesamtmigration liegt derzeit in Deutschland bei etwa 20 Prozent. Würde die Bundesregierung ein jährliches Migrationsziel von brutto 1,5 Millionen festlegen und die Quote für die Aufnahme Geflüchteter auf 15 Prozent austarieren, entspräche das 225 000 Asylgewähren – nicht weit entfernt von der aktuellen Zahl. Allerdings sind Obergrenzen in Krisensituationen flexibel anzupassen. Die Erfahrung des vergangenen Jahrzehnts zeigt, dass es nach Konfliktpeaks immer wieder zu einem Rückgang der Zahlen kommt. Gäbe es mehr reguläre Zugangswege, dürfte die Zahl der Asylanträge zugleich automatisch sinken. Ein strukturiertes Resettlement-Programm könnte somit das Asylsystem entlasten und Migration besser planbar machen.

Die AfD hat es geschafft, hierzulande einen Diskurs zu etablieren, in dem das Bild von Abstieg und Niedergang dominiert, während Deutschland de facto die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt ist. Fest steht: Die Zukunft der Bundesrepublik liegt – aufgrund der demographischen Realität – in der Zuwanderung. Für die migrationspolitische Zukunftsplanung benötigt Deutschland ein Leitbild, das über utilitaristische Argumente hinausgeht. Die Erzählung, dass Zuwanderer unsere Renten sichern sollen, trägt dabei nicht für eine gemeinsame Zugehörigkeitserzählung. Reiner Utilitarismus birgt die Gefahr, Bürger erster und zweiter Klasse zu schaffen. Schon jetzt haben 41 Prozent der Schulkinder hierzulande Migrationsbiografien. Ihre Vorstellung von Aufstieg, Gleichheit und Zugehörigkeit muss in eine gemeinschaftsbildende Erzählung überführt werden. Nur für die Rentensicherung der Älteren zu arbeiten, erzeugt keinen Antrieb – geschweige denn einen Aufbruch. 

Den sozialen Zusammenhalt stärken

Statt einer schnöden Verwertungslogik bedarf es daher eines gesellschaftspolitischen Leitbilds, das nicht von der Rekonstruktion der Vergangenheit träumt – wie die immer wiederkehrende Debatte über eine Leitkultur –, sondern das, ähnlich wie der Multiculturalism-Act in Kanada[8], die gemeinsame Gestaltung der Zukunft anvisiert. Kanada schuf in den 1970er Jahren das große Narrativ der „Einheit in Vielfalt“ zur Beschreibung seiner Gesellschaftskomposition. Hierzulande dagegen entsteht der Eindruck, die Politik würde von Beschreibungen wie „Deutschland ist ein Einwanderungsland“ überrumpelt. Statt die postmigrantische Gesellschaft permanent infrage zu stellen, sollte die deutsche Politik sie ambitioniert mitgestalten. Ganze 30 Prozent der hiesigen Bevölkerung verfügen über eine Migrationsgeschichte. Sie andauernd zu verprellen, ist schon deswegen unklug, weil sich darunter mindestens zwölf Prozent Wähler befinden. Auch sie sind über die unkoordinierte Migrationspolitik unglücklich; auch sie haben Angst vor Kriminellen – seien es psychisch kranke oder radikalisierte Geflüchtete oder politisch fehlgeleitete Rechtsextreme. Diese Gruppe bei einer Gestaltung der Migration mitzunehmen, ist zentral – gelingt den Parteien allerdings sehr unterschiedlich.[9]

Anstatt den migrationsfeindlichen Forderungen rechter Parteien nachzueifern, wäre der kommenden Bundesregierung zu raten, die demokratischen Werte und den sozialen Zusammenhalt des Landes zu stärken. Ziel sollte sein, den Zugang zu Ressourcen und öffentlichen Gütern für jene, die davon ausgeschlossen sind, zu stärken – unabhängig von Herkunft und Migrationshintergrund. Kanada hat diesbezüglich vieles richtig gemacht. Dort jedoch, wo die lokale Bevölkerung, ob mit oder ohne Migrationsgeschichte, das Gefühl bekommt, sie und ihre sozialen Probleme spielten keine Rolle, kommt es zu Problemen. Der Vorwurf einer verfehlten Migrationspolitik ist denn auch einer der Gründe, warum der kanadische Premierminister Justin Trudeau jüngst seinen Rücktritt ankündigen musste. Auch das zeigt: Deutschland kann viel von Kanada lernen – aus seinen Erfolgen ebenso wie aus seinen Fehlern. 

[1] Expat City Ranking, internations.org.

[2] Canada Ranks Fifth Globally for Asylum Claims in 2023, UNHCR Reports, immigration.ca, 23.6.2024; Claims by Country of Alleged Persecution - 2024, irb-cisr.gc.ca, 19.11.2024.

[3] Anzahl der Asylanträge in Deutschland von 2015 bis 2025, de.statista.com, 7.2.2025.

[4] „1,5 Millionen Zuwanderer im Jahr erforderlich“, tagesschau.de, 3.7.2023.

[5] Vgl. matchin-projekt.de.

[6] World Migration Report 2024, worldmigrationreport.iom.int. 

[7] Century Initiative, centuryinitiative.ca.

[8] About the Canadian Multiculturalism Act, canada.ca.

[9] Vernachlässigtes Wähler*innenpotenzial? Über politische Problemwahrnehmungen, Alltagssorgen und Parteipräferenzen von Menschen mit Migrationshintergrund, dezim-institut.de, 24.1.2025.

Aktuelle Ausgabe September 2025

In der September-Ausgabe plädiert Lea Ypi für eine Migrationsdebatte im Sinne der Aufklärungsphilosophie. Cinzia Sciuto fordert, der zunehmenden Aushöhlung des Völkerrechts mit einer entschiedenen Verteidigung desselben zu begegnen – und nicht mit Resignation und falschem Realismus. Für Georg Diez markieren die Kriegsverbrechen in Gaza und die fehlenden Reaktionen darauf einen Epochenbruch; sie stünden für nicht weniger als den Verrat des Westens an der Humanität. Herfried Münkler analysiert, wie Kriege historisch endeten und Friedenszeiten begannen und was das mit Blick auf den Ukrainekrieg bedeutet. Simone Schlindwein deckt auf, wie Russland junge Afrikanerinnen mit falschen Versprechen für die Kriegswirtschaft rekrutiert. Warum die grüne Digitalisierung ein Mythos ist und was der KI-Boom den Globalen Süden kostet, erläutern Ingo Dachwitz und Sven Hilbig. Und Eva-Maria Klinkisch sowie Markus Rieger-Ladich zeigen auf, wie Long Covid-Betroffene von der Gesellschaft und dem Gesundheitssystem systematisch ignoriert werden – und was dagegen zu tun ist. 

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