Ausgabe Juli 2025

Denk ich an Gaza

Das Grauen nach dem 7. Oktober und Deutschlands Irrweg

Palästinenser zwischen den Trümmern im Gebiet Sudaniya im Norden von Gaza-Stadt, 12.6.2025 (IMAGO / Xinhua)

Bild: Palästinenser zwischen den Trümmern im Gebiet Sudaniya im Norden von Gaza-Stadt, 12.6.2025 (IMAGO / Xinhua)

Heinrich Heine begann 1843 seine „Nachtgedanken“ mit den berühmten Zeilen „Denk ich an Deutschland in der Nacht / Dann bin ich um den Schlaf gebracht.“ Er befand sich im französischen Exil und konnte nicht in sein Herkunftsland reisen, wo unter anderem noch seine Mutter lebte. Weiter schrieb er: „Seit ich das Land verlassen hab / So viele sanken dort ins Grab / Die ich geliebt – wenn ich sie zähle / So will verbluten meine Seele.“ Worte, die heute so ähnlich ein aus Gaza stammender Dichter im Exil schreiben könnte. 

Denk ich an Gaza, denke ich an konkrete Menschen und Orte. Seit Mitte der 1990er Jahre war ich unzählige Male vor Ort, habe viele Freunde und Bekannte dort: Seit dem 7. Oktober kämpfen sie alle ums Überleben, und es vergeht kein Tag, an dem nicht einer von ihnen in den sozialen Medien Todesnachrichten bekannt gibt: von Bekannten, Freundinnen und Freunden, Kommilitonen, von Cousinen und Cousins, von Geschwistern, von Eltern und Großeltern, von Partnerinnen und Partnern. Zeit zum Trauern gibt es inmitten des kollektiven Traumas nicht, meist noch nicht einmal Gelegenheit für eine angemessene Beerdigung.

Das letzte Mal reiste ich im Mai 2023 nach Gaza. Danach veröffentlichte ich einen Artikel mit dem Titel „Zwischen Elend und Explosion“ in den „Blättern“, der wenige Tage vor dem 7. Oktober erschien. Dass damals ein solcher Artikel überhaupt gedruckt wurde, war alles andere als selbstverständlich, denn das Thema Gaza und die Lebensumstände der Menschen dort waren völlig aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden. Nur ab und zu, wenn es wieder zu einer neuen Runde der Gewalt zwischen bewaffneten Gruppen im Gazastreifen und der israelischen Armee kam, änderte sich das für kurze Zeit. In dem Artikel empfahl ich insbesondere der EU, endlich politisch aktiv zu werden und die Blockade des Gazastreifens mit seinen katastrophalen Folgen für die Bevölkerung zu beenden. Im letzten Absatz stand der Satz: „Wird stattdessen Gaza auch weiterhin ignoriert, ist die nächste Runde von Gewalt und Gegengewalt kaum zu vermeiden.“

Anlass des Artikels war eine berufliche Reise, die ich im Mai 2023 nach Gaza unternommen hatte, zu der von Raji Sourani geleiteten Menschenrechtsorganisation Palestinian Center for Human Rights (PCHR). Die Organisation ist seit 1995 in Gaza aktiv. Vor dem 7. Oktober dokumentierte das Zentrum die massiven Menschenrechtsverletzungen gegen die Zivilbevölkerung – seitens der israelischen Regierung, aber auch seitens der Hamas, was diese zwar misstrauisch verfolgte, aber tolerierte. Trotz über 15 Jahren Hamasherrschaft existierte in Gaza noch eine kritische Zivilgesellschaft; trotz israelischer Blockade, welche über zwei Millionen vorwiegend junge Menschen von der Welt abschnitt, was der Hamas in die Hände spielte. Und selbst unter Bomben setzt das PCHR seit dem 7. Oktober seine Arbeit fort, auch wenn Bürogebäude zerstört und Mitarbeiter, deren Familienmitglieder sowie zahlreiche Klienten getötet wurden. 

In den letzten zwei Jahren musste ich oft an diese mutigen Angestellten des PCHR und an die vielen Menschen denken, denen die Organisation versuchte zu helfen, ihre Traumata zu bewältigen und erlittenes Unrecht aufzuklären. Wer lebt überhaupt noch von ihnen? Dabei geht mir ein junger Mann nicht aus dem Kopf: Bei einer der vergangenen israelischen Offensiven – Gaza hat in den letzten Jahren viele Kriege erlebt –, wurde sein Vater bei einem gezielten Luftangriff getötet, während er neben ihm auf dem Feld arbeitete. Der junge Mann war zutiefst traumatisiert und konnte den Verlust nicht verarbeiten. PCHR wollte ihm wenigstens helfen, diese Ungerechtigkeit vor ein internationales Gericht zu bringen. Es ging um Entschädigung und, vor allem, um Gerechtigkeit.

Was bedeutet diese Episode angesichts der zehntausendfachen Tötung von Zivilisten, von Eltern, von Kindern? Zwischen 15 000 und 25 000 Kinder haben mindestens ein Elternteil verloren. Der Gedanke, für sie so etwas wie Gerechtigkeit zu schaffen, übersteigt jede Vorstellungskraft. Allerdings arbeiten Organisationen wie PCHR und ihre internationalen, auch israelischen Kollegen weiterhin fieberhaft daran, Verantwortliche – übrigens auch aufseiten der Hamas – zur Rechenschaft zu ziehen. Zwar gab es dabei einerseits Erfolge, wie die Haftbefehle des Internationalen Strafgerichtshofes zeigten, aber andererseits ging der Krieg immer weiter, Monat um Monat. Alle roten Linien, die das Völkerrecht einst zog, sind längst überschritten.

Denk ich an Gaza, denke ich an die Ohnmacht angesichts der Tatsache, dass das unbeschreibliche Grauen und die kaum fassbare Zerstörung in Gaza nicht gestoppt werden konnten. Einhellig berichten die wenigen außerhalb Gazas hörbaren Augenzeugen, darunter viele Ärztinnen und Krankenhelfer, von einem brutalen und zielgerichteten Krieg gegen die Zivilbevölkerung, der insbesondere Kinder trifft. Dabei sterben viele nicht nur durch Bombenangriffe, sondern auch, weil ihnen lebenswichtige Ressourcen vorenthalten werden: Nahrung, Trinkwasser, Medikamente und medizinisches Gerät. Und in jüngster Zeit auch, nur weil sie humanitäre Hilfe in Empfang nehmen wollen, seit diese nicht mehr von der UN, sondern in erster Linie von einer privaten Stiftung ausgegeben wird. „Was wir hier tun“, sagte ein Angestellter der Stiftung anonym aus, führt direkt zu mehr „Schmerzen, Leiden und Tod für die Palästinenser in Gaza“.[1] Die Stimmen von internationalen Journalisten vor Ort fehlen, denn Israel verhindert deren Einreise – und für palästinensische Journalisten wird die Berichterstattung zur tödlichen Gefahr, fast 200 von ihnen hat Israel seit Beginn des Krieges teilweise gezielt getötet.

Die Zahl der Toten steigt kontinuierlich

Es ist schwer, in diesem Konflikt über Todesstatistiken zu schreiben, denn die Zahlen steigen beständig. Über 54 600 Tote, über 125 000 Verletzte, das sind schon jetzt fast zehn Prozent der Bevölkerung des Gazastreifens, die unmittelbar getroffen wurden. Die Hamas wurde dabei nicht besiegt. Die israelische Armee geht davon aus, jene verfüge noch immer über zehntausende Kämpfer. Nicht die Hamas, sondern der Gazastreifen ist komplett zerstört, 92 Prozent aller Häuser sind unbewohnbar. Die israelischen Angriffe haben einen Großteil der Krankenhäuser, Schulen, Universitäten, Straßen, Wasser- und Abwasserleitungen, Zisternen, landwirtschaftlichen Flächen zerstört. Zurück bleibt eine lebensfeindliche Trümmerwüste. 

Ob es sich um einen „Genozid“ im juristischen Sinne handelt, wie die großen Menschenrechtsorganisationen meinen, das sei dahingestellt. Der Internationale Gerichtshof wird das juristisch bewerten. Aber wie das juristische Votum ausfällt, ist nicht entscheidend angesichts der Tatsache, dass zwei Millionen überwiegend jungen Menschen jegliche Lebensgrundlage entzogen wurde – und das vorsätzlich und mit Ankündigung: Schon am 9. Oktober 2023 sagte der damalige Verteidigungsminister Yoav Gallant, man kämpfe in Gaza gegen „menschliche Tiere“ und kündigte eine Totalblockade an. Damit setzte er den Ton für einen brutalen Feldzug, den nach Umfragen eine Mehrheit in Israel bis heute befürwortet – aus welchen Motiven auch immer.

Denk ich an Gaza, denke ich auch an die 1200 israelischen Opfer des 7. Oktobers und die Trauer über die erlittenen Verluste, die fast jede Familie im Land berühren, auch alle meine israelischen Freunde und Bekannte. Und an die verbleibenden Geiseln, die unter unvorstellbaren Bedingungen seit fast zwei Jahren im Gazastreifen festgehalten und misshandelt werden. Auch ihr Überleben hätte längst durch einen umfassenden und dauerhaften Waffenstillstand gesichert werden müssen.

Wie sind wir in diese verzweifelte Lage gekommen? Ja, es ist richtig, den 7. Oktober als Ausgangspunkt zu nennen. Aber dieser furchtbare Tag des Hamas-Massakers war nicht Anfang und Ursprung der Gewalt. Für diese banale Feststellung wurde UN-Generalsekretär Antonio Guterres als Antisemit beschimpft und mit einem Einreiseverbot nach Israel belegt. Als hätte er damit die Grauen des 7. Oktobers geleugnet, dabei verwies er nur auf die lange Vorgeschichte der Gewalt. Dass anhaltende Besatzung und Unterdrückung in neue Gewalt münden würden, war all jenen klar, die die Situation im Westjordanland und insbesondere in Gaza kennen und die Demütigung und Entrechtung erlebt haben. Auch wenn den großangelegten Angriff der Hamas so niemand voraussehen konnte, war die Frage eher, wie die Gewalt eskalieren würde, nicht ob: ein Zerfall der Ordnung in der Westbank, eine neue „Intifada“, eine Welle der Gewalt, ein neuerlicher Krieg in Gaza. 

Die Lage im Gazastreifen vor dem 7. Oktober erscheint im Rückblick fast sorgenlos, aber das liegt allein an den derzeitigen desaströsen Verhältnissen. Schon im Jahr 2012 hatten die Vereinten Nationen vorausgesagt, ohne Kurswechsel werde Gaza in zehn Jahren nicht mehr lebensfähig sein: das Grundwasser versalzen, die Umwelt und landwirtschaftlichen Flächen verschmutzt, das Abwassersystem kaputt. Wer Gaza vor dem 7. Oktober besuchte, konnte das mit eigenen Augen sehen.

Die grausame Vision der israelischen Rechten

Es war und ist eine menschengemachte Katastrophe, genauer: eine von der israelischen Regierung gemachte. Diese erhielt seit 2007 die Blockade des Gazastreifens aufrecht. Die Hamas war dabei lange Zeit ein scheinbar angenehmer Subunternehmer für Netanjahu. Für die israelische Rechte war das der ideale Weg, um die verhasste Zweistaatenlösung zu verhindern: Gaza-Blockade, fortschreitende Besiedelung des Westjordanlandes, anhaltende Herrschaft der Hamas und damit eine Verschärfung der Legitimationskrise der Palästinensischen Autorität in Ramallah. Aktuell zieht die israelische Regierung sogar eine Zusammenarbeit mit kriminellen und dschihadistischen Kräften einer Kooperation mit Ramallah vor[2] – nicht nur, um die Hamas zu bekämpfen, sondern auch, um eine Ordnungslosigkeit zu befördern, die dann die angestrebte israelische Besatzung des Gazastreifens legitimieren soll.

Es war die Illusion der von Benjamin Netanjahu angeführten israelischen Rechten, sie könne beides haben, Sicherheit und anhaltende Besatzung. Vielleicht hatte sie diese Illusion auch gar nicht, sondern es war ein Kalkül. Denn die traurige Ironie des 7. Oktober lautet: Während der Tag mit seinem vollkommenen Sicherheitsversagen eigentlich das Scheitern der israelischen Rechten und ihrer Vision offenlegte, ist die Folge nicht das Ende dieser Vision, sondern eine enorme Beschleunigung ihrer Umsetzung. Immer mehr Palästinenser werden vertrieben mit dem Ziel, sich das ganze Land einzuverleiben. Es ist eine „Nakba 2.0“ oder „Gaza-Nakba“, wie es Avi Dichter und weitere Kabinettsmitglieder unverhohlen ausdrückten.[3]

Es ist eine ebenso einfache wie grausame Vision, die die israelische Rechte derzeit in die Tat umsetzt, und zwar in Gaza ebenso wie im Westjordanland: Der „Konflikt“ soll „gelöst“ werden, indem Palästinenser mit brutaler Gewalt getötet, vertrieben oder in immer kleineren Reservaten ohne Bewegungsfreiheit leben müssen. Zugleich ist klar, dass diese Politik nichts anderes sein wird als der Weg in die nächste Katastrophe. Diese Politik, die unter dem propagandistischen Deckmantel der „Sicherheit“ die Gewalt vorantreibt, wurde von den Verbündeten Israels bisher nicht aufgehalten, sondern zum Teil noch aktiv unterstützt. Das gilt für die USA unter Trump, aber durchaus auch für Deutschland. Trotz vereinzelter kritischerer Töne hat sich an der Politik nichts geändert, und auch der neue Bundeskanzler, Friedrich Merz, unterstrich, Deutschland stehe unverbrüchlich an der Seite Israels. Es ist allerdings, und das muss auch Merz wissen, die aktuelle rechtsradikale Regierung mit ihrer massiven Vertreibungspolitik, der hier die Treue geschworen wird. 

Ein Paradigmenwechsel ist unausweichlich

Denk ich an Gaza, denke ich daran, was diese letzten zwei Jahre verändern könnten, was sie möglicherweise für die Zukunft bedeuten. Die Form der fast unbegrenzten destruktiven Gewalt – zunächst ausgeübt von der Hamas am 7. Oktober und dann im Rahmen der israelischen Kriegsführung im Gazastreifen – wird nicht weniger als ein neues Kapitel für das Land zwischen Mittelmeer und Jordan begründen. Wenn die Waffen schweigen und die israelische Hungerblockade endet, wird deutlich werden, dass es keine Rückkehr mehr zum vorherigen Status quo geben wird. 

Und dann wird sich etwas verändern, langsam, aber sicher ein Paradigmenwechsel eintreten. Zu offensichtlich sind die schweren Verbrechen, die aktuell nicht nur in Gaza, sondern auch im Westjordanland verübt werden. Nicht nur die Beweislast ist erdrückend, auch die Vielzahl internationaler Gerichtsurteile. Auch wenn die Bundesregierung das nach dem Motto „es kann nicht sein, was nicht sein darf“ weiterhin ignoriert oder gar bekämpft – die Zeit des Wegschauens bei der tagtäglichen Entrechtung der Palästinenser wird angesichts der monströsen Verbrechen in Gaza zu Ende gehen. Die moralische Legitimation der „Staatsräson“-Fraktion in Deutschland ist schon jetzt vollständig eingebrochen. Denn was soll das für eine Doktrin sein, die ausgerechnet aus der deutschen Geschichte ableiten möchte, Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu beschweigen oder gar zu unterstützen?

Die „Apartheidsituation“, die für das Westjordanland längst von allen großen Menschenrechtsorganisationen belegt wird, verfestigt sich zwischen Mittelmeer und Jordan. Auch der Begriff der Apartheid sorgte einst für Entrüstung, sei er doch für die Beschreibung der Zustände in Israel und Palästina unangebracht. Doch spätestens mit der anstehenden neuerlichen Besatzung Gazas leben auf dem gesamten Gebiet schlicht einerseits Staatsbürger mit den dazugehörigen Rechten und Bewegungsfreiheit sowie andererseits Besetzte ohne diese Rechte. Die moralische Entrüstung, mit der die Verwendung von völkerrechtlichen Begriffen wie „Apartheid“ oder „Genozid“ als unpassend oder gar als antisemitisch charakterisiert wird, wie es Netanjahu noch immer tut, läuft zunehmend ins Leere, politische Konsequenzen werden folgen.

Mit Blick auf die nächsten Jahre oder möglicherweise Jahrzehnte ist eine Art Südafrika-Szenario wahrscheinlich. Israel ist unter seiner aktuellen rechtsradikalen Regierung international zunehmend isoliert, auch wenn das momentan durch die massive Unterstützung durch Trumps Regierung in den USA kaschiert wird. Ob eine andere israelische Regierung von wesentlichen Prämissen abrücken wird, ist alles andere als sicher. Zu stark verankert sind mittlerweile die rechten Parteien und ihre Ziele im Land. Das wird noch stärker zutage treten, sollten sich die EU und weitere Staaten entschließen, die Zweistaatenregelung wieder ernsthaft auf die Tagesordnung zu setzen und sich Israel einem solchen Prozess dann kategorisch verweigern wird. 

Israelis und Palästinenser werden sich das Land teilen müssen

Auch Deutschland wird seinen moralischen Kompass neu ausrichten müssen: an den israelischen und palästinensischen Frauen und Männern, die für ein friedliches Zusammenleben eintreten; an israelischen Protestierenden und Wehrdienstverweigerern, die „Nein“ zum aktuellen Kurs sagen; und auch an palästinensischen Aktivisten und ihren Unterstützern, die mit zivilen Mitteln für ihre Rechte eintreten. Spätestens dann wird sich zeigen, wie absurd der Bundestagsbeschluss von 2020 war, der die BDS-Bewegung pauschal als antisemitisch einstufte – schließlich begann diese als gewaltlose palästinensische Bewegung, um den Druck auf Israel zu erhöhen. Ernsthafte Deinvestition und Sanktionen werden ein zentrales Mittel sein müssen, um israelische Regierungen zum Umdenken zu bewegen und Kräfte wie die Siedlerbewegung zu schwächen. Großbritannien und weitere Verbündete haben mit Sanktionen gegen die Minister Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich gerade erste Schritte in diese Richtung unternommen.

Wenn Israel aus dem ultranationalistischen Albtraum aufwacht und bereit ist, das Land mit den Palästinensern zu teilen – dann kann eine friedliche Zukunft gelingen. Auf engstem Raum leben Israelis und Palästinenser seit über hundert Jahren zusammen, trotz aller Massaker und Vertreibungen. Über 20 Prozent der Israelis sind Palästinenser mit einem israelischen Pass – und keine „arabischen Israelis“, wie diese in einer völlig unsinnigen Verklärung der Geschichte oft genannt werden. Israelis und Palästinenser werden sich das Land teilen müssen.

Unmöglich? Eine weitgehend vergessene Szene aus dem Jahr 2012 kommt in Erinnerung: Damals erteilte Israel im Fastenmonat Ramadan außergewöhnlich viele Einreiseerlaubnisse. Es folgten Szenen fast wie bei der Öffnung der Berliner Mauer: Tausende drängten sich an den Checkpoints, schließlich wurden sie auch ohne Kontrollen durchgelassen. Zehntausende Palästinenser aus der Westbank, deren Bewegungsfreiheit sonst radikal eingeschränkt ist, konnten die Strände von Jaffa oder die Orte ihrer Herkunft besuchen. Es war nicht der Untergang Israels – es kam zu überhaupt keinen Gewalttaten. Leider sind diese friedlichen und freudigen Tage weitgehend vergessen. Es ist fast skurril, dass gar nicht mehr zur Debatte steht, wie Israelis und Palästinenser zusammenleben können. Schließlich tun sie es längst, beispielsweise in Haifa. Omri Boehm nannte daher einen zukünftigen gemeinsamen Staat die „Republik Haifa“[4]. Egal wie unrealistisch es heute erscheint. Es ist die einzige Konsequenz aus der fatalen Gewalt, die wir heute erleben.

[1] Exclusive: American Security Contractor Unloads On US-Israeli „Gaza Humanitarian Foundation“, zeteo.com, 11.6.2025.

[2] Lorenzo Tondo, Netanyahu defends arming Palestinian clans accused of ties with jihadist groups, theguardian.com, 6.6.2025.

[3] Robert Wagner, Netanjahu-Minister spricht von „Nakba“ – Aussage nährt Sorge vor Vertreibung in Gaza, merkur.de, 14.11.2023.

[4] Interview mit Omri Boehm, „Ein gemeinsamer, binationaler Staat – ich nenne ihn die ‚Haifa-Republik‘“, republik.ch, 29.5.2021.

Aktuelle Ausgabe Oktober 2025

In der Oktober-Ausgabe wertet Seyla Benhabib das ungehemmte Agieren der israelischen Regierung in Gaza als Ausdruck einer neuen Ära der Straflosigkeit. Eva Illouz ergründet, warum ein Teil der progressiven Linken auf das Hamas-Massaker mit Gleichgültigkeit reagiert hat. Wolfgang Kraushaar analysiert, wie sich Gaza in eine derart mörderische Sackgasse verwandeln konnte und die Israelsolidarität hierzulande vielerorts ihren Kompass verloren hat. Anna Jikhareva erklärt, warum die Mehrheit der Ukrainer trotz dreieinhalb Jahren Vollinvasion nicht zur Kapitulation bereit ist. Jan Eijking fordert im 80. Jubiläumsjahr der Vereinten Nationen mutige Reformen zu deren Stärkung – gegen den drohenden Bedeutungsverlust. Bernd Greiner spürt den Ursprüngen des Trumpismus nach und warnt vor dessen Fortbestehen, auch ohne Trump. Andreas Fisahn sieht in den USA einen „Vampirkapitalismus“ heraufziehen. Und Johannes Geck zeigt, wie rechte und islamistische Rapper Menschenverachtung konsumierbar machen.

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