Long Covid in der Leistungsgesellschaft

Bild: Eine an ME/CFS Erkrankte im Bett mit Gehörschutz, Schlafmaske und Rollstuhl (Lea Aring und Deutsche Gesellschaft für ME/CFS)
Vor 70 Jahren lud Edward Steichen ins Museum of Modern Art ein. Der Direktor für Fotografie hatte mit seinem Team mehr als 500 Arbeiten ausgewählt und präsentierte diese unter dem Titel „The Family of Man“. Er wollte damit auf die Verheerungen des Zweiten Weltkrieges reagieren; er wollte von New York aus ein Zeichen der Humanität und Verständigung in die Welt senden. Die Fotografien wurden zu diesem Zweck in Themenfeldern präsentiert, die etwa Geburt und Tod, Liebe, Hochzeit und Familie, Arbeit und Freizeit behandelten. Steichens Botschaft lautete: Die Menschen sind gleich. Auch wenn sie sich hinsichtlich äußerer Merkmale voneinander unterscheiden, teilen sie doch dieselben Bedürfnisse, treffen sie sich in ihren Hoffnungen und Ängsten. Sie bilden eine große Familie.
Als die Ausstellung in Paris Station machte, zählte auch Roland Barthes zu ihren Besuchern. Der Kulturtheoretiker wandte sich Mitte der 1950er in Zeitungsartikeln Phänomenen der Alltagskultur zu und dechiffrierte diese. Die von der internationalen Presse gefeierte Ausstellung, die in Frankreich unter dem Titel „La grande famille des hommes“ gezeigt wurde, indes missfiel ihm. Die „Große Familie der Menschen“ sei nichts als ein Phantasma – so Barthes‘ vernichtende Kritik.
Die „menschliche Gemeinschaft“ sei ein Mythos, die Ausstellung suggeriere Gemeinsamkeiten, statt sich dem Trennenden zuzuwenden.