
Bild: Im Rahmen des Rückzugs Israels aus dem Gazastreifen holen IDF-Soldaten eine Israel-Fahne im Siedlungsblock Gusch Katif ein. Gusch Katif wurde im August 2005 vollständig geräumt, 11.9.2005 (IMAGO / ZUMA Press Wire)
„Schalom, auf Wiedersehen Gaza, wir trennen uns. Ich werde am Strand sitzen und die Uniform vergessen.“ Diese Zeilen sang Yishai Levi während eines Auftritts in einer bekannten israelischen Politiksendung im Jahr 1993. Die Stimmung im Studio war ausgelassen, das Publikum klatschte im Rhythmus des Songs. Der Premierminister Itzhak Rabin, Hauptgast des Abends, ließ sich äußerlich nicht von der Begeisterung mitreißen – trotz der Versuche des Moderators, ihn zum Kopfnicken oder Hüftschwung zu motivieren. Zum Schluss der Aufführung schüttelte Rabin aber die Hand des Sängers und sprach: „Du singst, was ich sage.“
Einige Monate später, im Mai 1994, unterzeichneten Rabin und Jassir Ara-fat, Vorsitzender der Palästinensischen Befreiungsorganisation, das Gaza-Jericho-Abkommen in Kairo. Die israelische Armee zog aus den Bevölkerungszentren im Gazastreifen und aus Jericho ab. Arafat kehrte nach 27 Jahren im Exil zurück und übernahm die Kontrolle über die ersten Gebiete unter Verwaltung der neu geschaffenen palästinensischen Autonomiebehörde.
Für Arafat war dies der Auftakt zu einem palästinensischen Staat: „Wir gehen von hier, aus Gaza, zur Al-Ibrahimi-Moschee (in Hebron), gehen nach Dschenin, nach Nablus, Tulkarm, Qalqiliya, Bethlehem, Beit Sahur, Beit Jala und Ramallah und dann, dann nach Jerusalem, Jerusalem, Jerusalem.“[1] Auch in der israelischen Politik spielt Gaza, der Geburtsort der palästinensischen Autonomie, eine Schlüsselrolle. Die Frage, wie man mit dem schmalen Küstenstreifen und seiner Bevölkerung umgehen solle, zieht sich wie ein roter Faden durch die Karrieren vieler Politiker – besonders jener, die heute an den Hebeln der Macht sitzen, zum Beispiel im Kabinett. Dort beschlossen sie am 8. August, den Krieg auszuweiten. Die Offensive, um die Stadt Gaza einzunehmen, hat mittlerweile begonnen.
International löste die Entscheidung Entrüstung aus. Regierungschefs verschiedener Länder verhärteten ihre Linie gegenüber der Regierung Netanjahu und planen weitere Sanktionen. Selbst Bundeskanzler Friedrich Merz verkündete, keine Waffen mehr nach Israel zu liefern, die im Gazastreifen zum Einsatz kommen könnten. Internationale Medien richten ihren Fokus auf den Hunger und die Zerstörung der Enklave oder diskutieren die kürzlich erschienenen Berichte der israelischen NGOs B‘Tselem und Physicians for Human Rights, die zu dem Schluss gelangen, Israel begehe einen Genozid.
Doch die meisten israelischen Medien diskutieren die Frage „Was tun mit Gaza?“ vor einem gänzlich anderen Hintergrund – nämlich in Hinblick auf den zwanzigsten Jahrestag des einseitigen Rückzugs aus dem Gazastreifen. Im Sommer 2005 löste Israel die 21 jüdischen Siedlungen dort auf und zog sämtliche Truppen ab. Premierminister Ariel Sharon, einst Gallionsfigur der Siedlungsbewegung, vollendete den Abzug, den Rabin rund zehn Jahre vorher begonnen hatte. Im Vorfeld des Rückzugs erklärte Sharon in der Knesset, nicht über Millionen von Palästinensern herrschen zu wollen. Und so begannen am 15. August 2005 israelische Truppen, Räumungsbescheide an die Bewohner der Siedlungen im Gazastreifen zu verteilen. Vier Wochen später war der Rückzug trotz der vehementen Proteste der Siedler vollendet.
Die Gazafrage neu verhandeln
Aus Anlass dieses Jahrestags brach eine regelrechte Flut von Artikeln, Filmen und Talkshows über die israelische Öffentlichkeit herein. Die Diskussion beginnt bereits bei der Bezeichnung. Spricht man von der „Abkopplung“, wie einst Sharon und die Mehrheit der Israelis, oder von „Entwurzelung“ oder gar „Vertreibung“, Begriffe, die besonders unter Gegnern des Plans geläufig sind? Wie viele andere Medienhäuser richtete auch der rechte Kanal 14 eine Sonderseite ein. „Wir kehren zurück nach Hause – 20 Jahre Vertreibung aus dem Siedlungsblock Katif“, heißt sie. Jeden Tag publiziert dort das israelische Pendant zum US-Sender Fox News Beiträge, die nostalgisch auf die Zeit vor dem Rückzug blicken und die Wiederbesiedlung des Gazastreifens befürworten.
Dass ein rechter Sender so berichtet, überrascht kaum. Doch auch der öffentlich-rechtliche Sender Kan 11 produzierte eine Dokuserie zum Thema. Regelmäßig wütet Kommunikationsminister Shlomo Kari, Kan 11 berichte unausgewogen, zum Nachteil der Regierung. Dabei interviewten die Journalisten des Senders Mitglieder der Regierungskoalition dreimal so häufig wie ihre Kollegen aus der Opposition.[2] Trotzdem schmähen Koalitionsabgeordnete den Sender als vermeintlich links. Man hätte also erwarten können, dass der Dreiteiler mit dem Titel „Wo warst du während der Abkopplung?“ einen kritischeren Blick einnimmt als das Werk der Kollegen bei Kanal 14 – und weniger Begeisterung von rechts auslöst. Aber Elyashiv Reichner, der die Dokuserie für das national-religiöse Blatt „Makor Rishon“ rezensierte, zeigte sich positiv überrascht. Die „Wunde der Vertreibung“ werde nun endlich richtig dargestellt und es kämen jene zu Wort, die „von der Illusion eines Friedens mit Gaza enttäuscht sind“.[3] Beispielsweise der Polizist Zohar Shfak: Er war während des Hamas-Angriffs am 7. Oktober 2023 im Dienst und fordert in der Serie, Gaza „plattzumachen“.
Deutlich weniger Begeisterung empfand Einav Shiff. In der Zeitung „Yedioth Achronot“, die sich in der politischen Mitte verortet, warf er den Machern der Dokumentation vor, „die Sünde der Einseitigkeit“ begangen zu haben.[4] „Warum findet sich kein einziger Palästinenser, der das Leben im überfüllten Gazastreifen schildert, wo mehr als eine Million Menschen lebten und in deren Mitte eine Enklave von rund 7500 Siedlern samt schützender Armeeeinheiten existierte?“, fragte Shiff. Yasmin Levi von der linksliberalen Zeitung „Haaretz“ verwies ebenfalls auf die „Vielzahl an Stimmen aus der extremen Rechten“. Die Serie betreibe eine „trügerische Romantisierung, die Siedler bewusst als zionistische Patrioten, freundliche Bauern und zauberhafte Typen darstellt, die einfach nur bescheiden leben, das Land bearbeiten und verteidigen wollten“.[5]
Neben der Dokumentation produzierte Kan 11 auch die hochkarätig besetzte Dramaserie „Abkopplung“. Begeistert reagierte die rechten Gratiszeitung „Israel Hayom“, die als Sprachrohr Benjamin Netanjahus gilt. Die Serie erlaube es, „sich mit den Bewohnern zu identifizieren, die im Siedlungsblock Katif ihr Zuhause errichtet hatten und es schließlich räumen mussten“.[6] Seit dem 25. August wird die Serie montags und mittwochs direkt nach den Abendnachrichten ausgestrahlt. Nach Berichten über den Gazakrieg und die dort ausharrenden Geiseln folgt zur Prime Time eine romantisierende Siedlerserie – popkulturelle Schützenhilfe für den Traum vieler Rechter von einem wiederbesiedelten Gazastreifen, möglichst ohne Palästinenser.
Vor 30 Jahren sang man noch fröhlich „Auf Wiedersehen Gaza“, und vor 20 Jahren unterstützte der mediale Mainstream den Rückzug fast vollständig. Diese Verschiebung hin zur Idealisierung der Siedlungen in Gaza spiegelt auch veränderte gesellschaftliche Machtverhältnisse wider. Jene, die sich als Jugendliche gegen den Rückzug engagierten, bekleiden inzwischen einflussreiche Positionen in Militär[7], Medien und Politik.
Vom Verhörzimmer ins Ministerbüro
Ein Beispiel ist der heutige Minister für nationale Sicherheit Itamar Ben Gvir. Wenige Wochen vor Rabins Ermordung durch einen jüdischen Rechtsextremisten betrat Ben Gvir das mediale Rampenlicht. Der damals 19-jährige rechtsextreme Aktivist entfernte mit einigen Komplizen das Cadillac-Emblem von Rabins Regierungswagen und sagte einem Fernsehjournalisten: „So wie wir an dieses Emblem rangekommen sind, so können wir auch an Rabin rankommen.“ Wenig später ermordete ein Gesinnungsgenosse Ben Gvirs den so bedrohten Premierminister.
Zehn Jahre später, als er versuchte, den Abkopplungsplan zu verhindern, galt er bereits als eines der prominentesten Gesichter der extremen Rechten. Ben Gvir verstand es, durch gezielte Provokationen mediale Aufmerksamkeit zu generieren. Journalisten verschaffte er regelmäßig exklusiven Zugang zu rechtsextremen Kreisen. Die Strategie dahinter war klar: „Es stört mich nicht, was sie sagen, solange ich eine Bühne bekomme […] und solange die Medien unsere Texte und Forderungen wiedergeben.“[8] Im Juli 2005 verhaftete die Polizei – deren Unabhängigkeit Ben Gvir heute als Minister konsequent untergräbt –, den jungen Rechtsextremen. Er hatte eine illegale Versammlung in einer der Siedlungen im Gazastreifen organisiert. Anschließend verbot ihm ein Gericht, die vom Abkopplungsplan betroffenen Regionen zu betreten.
Auch der heutige Finanzminister und Beauftragte für den Siedlungsbau, Bezalel Smotrich, geriet 2005 ins Visier der Behörden. Die Polizei und der Inlandsgeheimdienst verhafteten den damals 25-Jährigen wegen des Verdachts „der Verschwörung zur Begehung eines Verbrechens, der vorsätzlichen Gefährdung von Menschenleben […] sowie der Mitgliedschaft in einer verbotenen Vereinigung“.[9] Smotrich kooperierte nicht mit den Ermittlern und schwieg. Nach dem Ende des Abzugs kam er wieder frei.
Radikale Aktivisten wie Smotrich und Ben Gvir haben es aus den Verhörzimmern der Polizei in die ministerialen Amtsstuben geschafft – und befinden sich 20 Jahre nach ihrer größten politischen Niederlage auf dem Höhepunkt ihrer Macht. Das haben sie letztlich auch Netanjahu zu verdanken. Als Oppositionsführer war er in den 1990er Jahren einer der glühendsten Gegner der Oslo-Abkommen. 2005 opponierte er gegen den Rückzug aus dem Gazastreifen – diesmal nicht als Oppositionsführer, sondern als Finanzminister und Parteikollege des Premierministers Sharon. Netanjahu war jedoch weder bereit, seinen Posten zu riskieren noch die Regierung zu stürzen, weswegen er sich im entscheidenden Moment nicht zu einer Nein-Stimme gegen Sharons Abkopplungsplan durchringen konnte – eine Entscheidung, die ihn bis heute verfolgt.
In seiner Autobiographie versucht sich Netanjahu zu rechtfertigen. Langatmig bemüht er sich, zu beweisen, er habe alles gegeben, um Sharons Plan möglichst lange hinauszuzögern. Sichtlich getroffen lamentiert er über einen „Chor von Spöttern“ und Schlagzeilen wie „Netanjahu knickt ein“.[10] Der Journalist Amit Segal berichtete damals bereits über Netanjahus eher zaghaften Widerstand gegenüber Sharon und bezeichnet heute dessen Rechtfertigungsversuche als „totales Gaslighting“ und „Zeitverschwendung“.[11]
Massenproteste für ein Abkommen
Netanjahu, Ben Gvir und Smotrich – für diese drei Männer war der Kampf gegen den Rückzug aus Gaza ihre politische Feuertaufe. Doch es dauerte, bis ihre parallel verlaufenen Karrieren schließlich zusammenliefen. Lange vermied Netanjahu jeden Kontakt zu Ben Gvir. Einst weigerte er sich, eine Bühne zu betreten, solange Ben Gvir sie nicht verlassen hatte. Doch als sich nach vier Wahlen im Zeitraum von April 2019 bis März 2021 keine Mehrheit für Netanjahu abzeichnete, übte er Druck auf Ben Gvir und Smotrich aus, eine gemeinsame Liste zu bilden, um keine rechten Stimmen zu verschwenden. Der Plan ging auf und Wahlsieger Netanjahu belohnte die beiden nach den Wahlen im November 2022 mit wichtigen Ministerposten.
Heute machen Ben Gvir und Smotrich in der Regierung deutlich, dass ihr Ziel eine erneute Besetzung und Besiedlung des Gazastreifens sowie die Vertreibung der Palästinenser ist. Während einer Konferenz zum zwanzigsten Jahrestag des Rückzugs nannte Smotrich das Vorhaben einen „realistischen Plan“. Kurz darauf fasste das Kabinett den Beschluss zur Ausweitung des Krieges.
Während die Vorbereitungen für die Einnahme der Stadt Gaza laufen, wird der Widerstand gegen die Ausweitung des Krieges nicht nur lauter, sondern auch unbequemer. Am 9. August unterbrach die israelisch-palästinensische Graswurzelbewegung „Standing Together“ die Liveübertragung der beliebten Reality-TV-Sendung Big Brother. Die Aktivistinnen stürmten die Bühne und forderten ein Ende des Krieges, des Aushungerns und die Rückkehr der Geiseln. Die Familien der Geiseln riefen als Reaktion auf den Kabinettsbeschluss zu einem Streiktag auf am 17. August auf. Sie fordern ein Ende des Krieges im Tausch für die Rückkehr aller Geiseln. Und auch wenn das Land sonst politisch tief gespalten ist, zeigen Umfragen immer wieder, dass die große Mehrheit der Israelis ein solches Abkommen unterstützen würde. Entsprechend groß waren die Proteste, die zahlreiche Hauptverkehrsadern lahmlegten.
In Jerusalem setzte die Polizei einen Wasserwerfer ein, um die Blockade aufzulösen, und nahm Dutzende Personen fest. Die Proteste konnte sie so nicht stoppen. Zusätzlich trotzten die Demonstrierenden auch einem Raketenangriff der Huthis aus dem Jemen, der die Sirenen in großen Teilen des Landes aufheulen ließ. Im ganzen Land gingen Hunderttausende auf die Straße, allein auf der Großdemonstration in Tel Aviv versammelten sich nach Angaben der Veranstalter 400 000 Menschen. Hunderte Betriebe, Universitäten und Teile der lokalen Verwaltung nahmen am Streik teil. Für viele Angehörige der Geiseln ist klar: „Dieser Tag ist nur der Anfang.“ Unabhängig vom internationalen Druck wird sich der innenpolitische Kampf in Israel in den nächsten Wochen und Monaten auch maßgeblich um die Frage drehen: Was tun mit Gaza – genau 20 Jahre, nachdem man es verlassen hat?
[1] Michael Parks, Arafat Returns in Triumph to Gaza, Pleads for Unity, latimes.com, 2.7.1994.
[2] היציזופואהמהשולש יפ 11ןאכב םינייארתמ היצילאוק ירבח ?ינלאמש דיגאתה, themarker.com, 6.5.2025.
[3] תולילעמירמגל הייקנ אל לבא ,הבוטלהעיתפמ „תוקתנתהב תייה הפיא“ הרדסה, makorrishon.co.il, 21.7.2025.
[4] ףישבניע, הירוטסיההמ תמלעתמו ,םילחנתמה ווחש רבשב תדקמתמ :תוקתנתהב תייה הפיא, ynet.co.il, 22.7.2025.
[5] יולןימסי, תיטרקומדה לארשיב זאמ םקונש ןימיהעצפ תא תחתופ ?תוקתנתהבתייה הפיא, haaretz.co.il, 22.7.2025.
[6] םויהלארשי תכרעמ, תוקתנתהה לע המרד תרדס :לארשיב הנושארל, israelhayom.co.il, 6.8.2025.
[7] Hanna Israel, Israels Armee: Von Nationalreligiösen unterwandert, in: „Blätter“, 9/2024, S. 17-20.
[8] ימהרבאלייא, םדי ףכמ םילכוא, the7eye.org.il, 1.5.2005.
[9] טיברשםעונ, םיתמצהו םישיבכה תומיסח תא וננכתש ןימייליעפ 5ונרצע :הרטשמהו כ“בשה, globes.co.il, 14.7.2005.
[10] והינתנןימינב, ייח רופיס :יביב, Jerusalem 2022, S. 348.
[11] לגסתימעו ףויחמש דעלא, הצצפ הלפנ וליאכ, ‚שוביכ‘ הלימה תא רמא ןורששכ, mako.co.il, 10.8.2025.