Ausgabe Oktober 2025

35 Jahre Einheit oder: Die Rückkehr der Machtpolitik

US-Präsident Donald Trump, 16.9.2025 (IMAGO / ZUMA Press Wire / Joey Sussman)

Bild: US-Präsident Donald Trump, 16.9.2025 (IMAGO / ZUMA Press Wire / Joey Sussman)

Am 3. Oktober jährt sich die deutsche Einheit bereits zum 35. Mal. Und doch stellt dieses Jubiläum ein Novum dar: Es ist das erste nach der doppelten Zeitenwende, dem Beginn der russischen Vollinvasion der Ukraine am 24. Februar 2022 und dem Comeback Donald Trumps am 20. Januar 2025, welches die Abkoppelung der USA von Europa einläutete und damit das Ende des Westens, wie wir ihn seit 1945 kannten. 

„Es ist nicht weniger als eine neue Herrschaftsform, die ohne Wertekonzept auskommt, die das Politische zerstört und die sich an einem zentralen Begriff festmacht: dem Deal“, ist der Sozialpsychologe Harald Welzer überzeugt. Politik schrumpfe bei Trump auf einen bloßen Geschäftsabschluss zusammen. Welzers Fazit: „Das ist ein Augenblick, der den Übergang von der politischen in die postpolitische Ära symbolisch markiert.“[1]

Doch so sehr die Semantik des Deals Welzer wie auch andere Kommentatoren zu dieser Deutung einlädt: Das glatte Gegenteil ist richtig. Faktisch steht Trumps Agieren für das Politische, wie es über Jahrhunderte existierte. Wir erleben die Rückkehr brutaler Machtpolitik und das Ende eines 80jährigen historischen Ausnahmezustandes in Europa: das Ende der Jalta-Welt, in der die Vereinigten Staaten die Sicherheit des demokratischen (West-)Europas garantierten und mit ihrer Unterstützung für die Vereinten Nationen auch den Multilateralismus und eine regelbasierte Weltordnung.

Diese Phase endet in der Tat mit Trump. Es führt jedoch in die Irre, vom Begriff Deal abgeleitet einen neuen Aggregatzustand des Politischen, gar eine „postpolitische Ära“ anzunehmen. Denn hinter den Trumpschen Deals verbirgt sich gerade nicht die Idee eines wirtschaftlichen Agreements zum Nutzen beider Vertragspartner, sondern rohe Erpressung.[2] Das, was über Jahrhunderte den Kern des Politischen ausgemacht hat und dies in weiten Teilen der Welt bis heute tut, die Dominanz des Stärkeren über den Schwächeren, ist mit Trump jetzt in aller Brutalität auch im Westen zurückgekehrt. 

Ja, mehr noch: Wir sind mit der Tatsache konfrontiert, dass die Trump-USA als vermeintlich gesicherte Demokratie ins Lager der Autokraten abwandern, womit sich die immerhin acht Jahrzehnte währende „Selbstverständlichkeit“ der westlichen Sicherheits- und Demokratie-Garantie in Europa ebenfalls als historische Ausnahme, vielleicht sogar als grundsätzliche Anomalie erweist. 

Die USA stehen unter Trump immer weniger im demokratischen Lager. Diese Rückkehr zur alten Machtpolitik auch in Europa ist der entscheidende Unterschied zur Vor-Trump-Zeit, ist der eigentliche Bruch, den wir dem angeblichen Deal-Maker zu verdanken haben – stärker noch als die Rückkehr eines Wladimir Putin, der nach Boris Jelzin und im Gegensatz zu Michail Gorbatschow „nur“ die Revitalisierung des alten russischen Imperialismus verkörperte, wobei sich heute Trumps Machtpolitik und Russlands Imperialismus wechselseitig verstärken.

Insofern ist es nicht das Neue, das uns gerade einholt, sondern die altbekannte Machtdominanz der starken Staaten über die schwachen. Auch das die Trumpschen Deals so prägende Nullsummenspiel, bei dem der eine das gewinnt, was der andere verliert, es also notwendigerweise Verlierer geben muss, ist ja keineswegs Trump-spezifisch, sondern über Jahrhunderte geübte Staatenpraxis. Der Wille zur Erpressung und zur Nötigung, von Putin gegenüber der Ukraine, von Trump gegenüber Dänemark oder Venezuela, ist in beiden Fällen derselbe und die Basis ihres gemeinsamen Politikverständnisses. In diesem Punkt unterscheiden sich Trump und Putin, aber auch Xi Jinping bloß in den Dimensionen (wobei Trump Putin und Xi um ihre diktatorischen Vollmachten ganz offensichtlich beneidet).

Politik war eben immer schon Nötigung und Erpressung, wenn es dem Stärkeren denn möglich war, den Schwächeren zu erpressen. Heute wieder, wie schon früher, gilt der alte Satz: Die Starken tun, was sie können, die Schwachen erleiden, was sie müssen. Denn warum bombardiert Putin völlig ungeniert die Ukraine, den von ihm selbst bekundeten Verhandlungswillen höhnisch konterkarierend? Aus einem schlichten Grund: Weil er es kann. Weil Putin keiner in den Arm fällt und ihn das Völker- oder Menschenrecht in keiner Weise interessiert. 

Politik als Kriegsführung

Und es gibt noch eine weitere, tiefgreifendere Gemeinsamkeit von Putin und Trump: Beide begreifen in Umkehrung von Clausewitz – „Der Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ – die Politik als Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln. Deshalb sind letztlich alle Mittel erlaubt, ob als schamlose Lüge oder brutal ausgesprochene Wahrheit. Während Putin im Laufe seiner Regentschaft jegliche Opposition im eigenen Land mit aller Härte unterband, betreibt auch Trump zunehmend eine Politik mit der offenen Kriegserklärung gegenüber seinen äußeren wie inneren Feinden. Nicht nur, dass er das Verteidigungsministerium kurzerhand zum Kriegsministerium umbenennt (und damit faktisch den eigenen Willen zum Frieden widerlegt, dem angestrebten Nobelpreis zum Trotz), er erklärt auch seinen Gegnern im Lande immer unverblümter faktisch den Krieg, ob mit der Entsendung der Nationalgarde in von den Demokraten regierte Staaten oder auch gegen Migranten mit wie Todesschwadronen maskierten Polizisten (inklusive dem Trump-Tweet „Ich liebe den Geruch von Abschiebungen am Morgen“ als Anspielung auf „I love the smell of Napalm in the morning“ im Vietnamkriegsfilm „Apocalypse Now“). Und gleichzeitig kokettierte Trump nach der Ermordung des rechten Influencers und Trump-Unterstützers Charlie Kirk öffentlich mit der Einführung von Schnellverfahren „wie in China, die haben so‘ne Sache“ (O-Ton Trump auf Fox News). 

Im Mittelpunkt der Politik von Putin wie auch von Trump steht damit ein Verständnis, das das politische Gegenüber grundsätzlich nicht als Gegner im politischen Wettbewerb begreift, sondern als Feind, der mit allen, auch extralegalen Mitteln bekämpft werden kann.

„Herrschaftstheoretisch bedeutet das nicht nur“, so Welzers weitere Deutung der Trumpschen Deal-Politik, „dass Kapitalismus Politik geworden ist, sondern sogar ein durch keinerlei Rahmensetzung eingehegter Kapitalismus an die Stelle von Politik getreten ist: der Wirklichkeit gewordene feuchte Traum aller Libertären“. Doch auch diese Deutung geht in die Irre; umgekehrt wird ein Schuh draus: Nicht weil mit Trump reiner Kapitalismus zur Politik geworden wäre (dagegen spricht schon seine protektionistische Zollpolitik, die vielmehr für einen zumindest teilweisen Abschied vom reinen Neoliberalismus spricht[3]), sind die USA so überlegen, sondern weil Europa sich von dem zurückgezogen hat, was die Legitimationsgrundlage staatlicher Politik seit Thomas Hobbes ausmacht, nämlich der Schutz der eigenen Bürgerinnen und Bürger durch die Fähigkeit zur Verteidigung des eigenen Territoriums. Weil Europa dazu, jedenfalls mit Blick auf die Ukraine, aktuell offenbar nicht allein in der Lage ist, ist der Kontinent dem Zangenangriff aus Ost und West derart hilflos ausgesetzt, nämlich der Erpressung durch Putin und Trump.

Europas Entpolitisierung

Während Putin und Trump die Bekämpfung des von ihnen ausgemachten Feindes in den Mittelpunkt ihrer Machtpolitik stellen, hat bei uns die Konzentration auf das Ökonomische das Politische letztlich ersetzt und die Tatsache verdrängt, dass es – jedenfalls aus Sicht unserer Gegner – Feindschaft immer noch gibt und wohl auch immer geben soll.

Wir haben systematisch verdrängt, dass wir während der vergangenen 80 Jahre von Voraussetzungen profitierten, die von uns als normal angesehen wurden, obwohl sie alles andere als normal sind, dass nämlich die USA die Sicherheit (West-)Europas garantierten. Nicht primär aus Altruismus, sondern aus US-amerikanischem Interesse, weil Europa zu wichtig war, um es der Sowjetunion und ihrem Herrschaftsanspruch zu überlassen. Dadurch war die Bundesrepublik in der Lage, sich als Exportweltmeister allein auf ihr ökonomisches Prosperieren zu konzentrieren und sich damit von der Raison d’être jedes Staates zu verabschieden, der Garantie der eigenen Sicherheit. Genau in dieser Falle steckt der Kontinent jetzt, da die Trump-USA ganz ersichtlich in keiner Weise gewillt sind, Europas Freiheit und Sicherheit zu garantieren, sondern im Gegenteil dessen Schutzbedürftigkeit ausnutzen, um die EU zu erpressen.

Damit rächt sich das fundamentale politische Versäumnis der Bundesrepublik, nicht gelernt und begriffen zu haben, für die eigene Sicherheit selbst verantwortlich zu sein. Dabei ist es von besonderer Ironie, dass für diese historische Verdrängungsleistung weniger die Bonner als die Berliner Republik verantwortlich ist. Obwohl die Bonner Republik als Frontstaat im Kalten Krieg aufgrund der US-Truppenpräsenz ohnehin vor Waffen, inklusive Atomraketen, starrte, trug sie mit drei bis fünf Prozent des Bruttosozialprodukts selbst maßgeblich zur eigenen Landesverteidigung bei. Und obwohl etliche befürchteten, man werde mit dem Umzug nach Berlin an die unselige Tradition des wilhelminischen Militarismus anknüpfen, war es gerade die Berliner Republik, die die Pazifizierung Deutschlands vollendete, und zwar mit der Abschaffung der Wehrpflicht durch ausgerechnet den wohl schneidigsten Verteidigungsminister in der bundesrepublikanischen Geschichte namens Karl-Theodor zu Guttenberg. 

Mit dem Ende der Bipolarität 1989 und dem Gewinn der sogenannten Friedensdividende verließen wir uns umso mehr auf die US-Amerikaner und zugleich auf die Annahme, dass Russland dauerhaft friedlich bleibt, dass also Europa wie Deutschland auf Dauer nur von Freunden umgeben sein würde. Noch im Wunsch nach einem Ende des verheerenden deutschen Sonderwegs und der jetzt endlich geglückten Ankunft in der Demokratie nach dem „Langen Weg nach Westen“ (Heinrich August Winkler) verbarg sich die verführerische Suggestion einer dauerhaften Friedfertigkeit Deutschlands und eines ewigen Friedenszustands im demokratischen Westen. 

Aus diesem Grund ist die ahistorische Betrachtung des Politischen durch Harald Welzer keine bloße Einzelposition, sondern symptomatisch für den Geisteszustand eines Landes, das noch immer den großen Fehler begeht, die Ausnahmesituation der vergangenen 80 Jahre als normal anzusehen, ja sogar absolut zu setzen, obwohl bereits Barack Obama mit seinem „Pivot to Asia“ die Weichen weg von Europa und hin zu Asien stellte.[4] Doch es brauchte wohl Trump, der uns jetzt mit aller Brutalität auf den Normalfall des Politischen verweist, das nämlich jedes Gemeinwesen in erster Linie auf eigene Rechnung agiert und auf Dauer nur sich selbst verteidigt – so ungern wir das akzeptieren wollen.

Wie aber ist auf diesen Einbruch des politischen Normalfalls zu reagieren? 

In zweierlei Weise: Erstens gilt es, nicht länger die Augen davor zu verschließen, dass nach wie vor jedes Land wie jedes Gemeinwesen, wenn es sich wie etwa die EU als politische Entität begreift, für die eigene Sicherheit sorgen muss, andernfalls es zum bloßen Spielball der Großmächte wird. 

Nichts hat dies deutlicher gezeigt als das jüngste Treffen von Donald Trump mit Schneewittchen (Selenskyj) und den sieben Zwergen aus Europa im Oval Office. Dabei konnte es der zur Verteidigung der Ukraine allein unfähigen – und lange auch unwilligen – EU immer nur um Umgarnung Trumps gehen. Und zwar koste es, was es wolle, und seien es ungeheure fünf Prozent des BIP für die Verteidigung. Derweil betreiben Trump und Putin das alte Tauschgeschäft der großen Mächte, als „do ut des“ über die Köpfe der Kleinen hinweg: Gibst Du mir die Macht über Lateinamerika, insbesondere Venezuela und Nicaragua, so das Trumpsche Kalkül ganz im Sinne der alten Monroedoktrin, dann überlasse ich Dir, Wladimir, den Einfluss in Osteuropa, nicht zuletzt, um mich auf diese Weise ganz der eigentlich zentralen Auseinandersetzung mit China widmen zu können. Am Ende winkt so eine neue „Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte“ (Carl Schmitt), bei der die kleinen Staaten über die Klinge springen. 

Dieser weiter gültigen politischen Realität und andauernden Gefahr muss Europa endlich Rechnung tragen und politisch, wirtschaftlich, aber auch militärisch unabhängig werden. 

Zum zweiten aber kommt es für Europa darauf an, die Errungenschaften der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu verteidigen, nämlich die Orientierung auf eine multilaterale, regelbasierte UN-Ordnung – und zwar umso entschiedener, als sich die USA unter Trump davon verabschieden und sich die neue Phalanx der Autokraten um Xi und Putin ganz bewusst als politisches Gegengewicht zur liberalen Weltordnung präsentiert. 

Das einträchtige Händchenhalten von Putin, Xi, aber auch Indiens Ministerpräsident Narendra Modi auf dem jüngsten Gipfel der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO) hat demonstriert, wie wenig von einer Isolation Russlands die Rede sein kann. Im Gegenteil: Die wirtschaftlichen und politischen Verwerfungen, die Trump mit seiner Zollpolitik ausgelöst hat, spielen dem russischen Diktator genauso in die Hände wie dessen zunehmende Überlegenheit in der Ukraine. 

Insofern lautet auch hier für Deutschland und Europa die zentrale Lehre aus Trump und Putin: Ohne eigene Wehr- und Verteidigungsfähigkeit ist alles andere nichts. Andernfalls sind wir ein bloßer Spielball im Konzert der Großen und es gilt auch in Zukunft das alte Sprichwort: „Wer nicht am Tisch sitzt, steht auf der Speisekarte.“

[1] Harald Welzer, Donald Trump: Dealen in den Abgrund, zeit.de, 21.8.2025.

[2] Steffen Vogel, Selbstverschuldet erpressbar: Europa im Ukrainekrieg, in: „Blätter“, 9/2025, S. 5-8; Albrecht von Lucke, 80 Jahre 8. Mai: Vom Tag der Befreiung zum Tag der Erpressung, in: „Blätter“, 5/2025, S. 5-8.

[3] Siehe dazu den Beitrag von Andreas Fisahn in dieser Ausgabe.

[4] Kenneth G. Lieberthal, The American Pivot to Asia, brookings.edu, 21.12.2011.

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