
Bild: Reinhart Koselleck, Geronnene Lava. Texte zu politischem Totenkult und Erinnerung, Cover: Suhrkamp Verlag
Reinhart Koselleck schien sich von Geburt an auf der Siegerstraße des Fortschritts zu bewegen. Doch der Sohn einer bürgerlichen Familie mit Bildung und Besitz erlebte und erlitt die Abgründe eines extremen Zeitalters – und entwickelte daraus ein Werk, das gerade in den letzten beiden Jahrzehnten weltweit übersetzt wird. Neben dem repräsentativen Band zu seinem hundertsten Geburtstag „Geronnene Lava“ ist nun ein weiterer Briefband – nach jenem mit Carl Schmitt jetzt mit Hans Blumenberg – erschienen, dazu die auf dem Nachlass fußende intellektuelle Biographie von Stefan-Ludwig Hoffmann „Der Riss in der Zeit“.
Dadurch wird das Ende seines bürgerlichen Entwicklungsromans plastisch kenntlich: Als Soldat an der Ostfront hört Koselleck von den Massenerschießungen in Babyn Jar, wo die Nazis im größten Massaker des Zweiten Weltkriegs mehr als 33 000 Juden ermordeten. „Wie ein Lauffeuer“ geht die Kunde umher, die der große Historiker aber lange verdrängt. Noch während des Krieges erfährt er von einer Tante, der Goethe-Expertin Hildegard Marchand, beim Tee in Weimar „von den fürchterlichen KZ-Zuständen auf dem Ettersberg“. Als sowjetischer Kriegsgefangener reißt er dann in Auschwitz die IG-Farben-Fabrik ab, in der wenige Monate zuvor Primo Levi, der später von ihm bewunderte große literarische Zeuge der Shoah, schuften musste.