Ausgabe März 1991

Erklärung Michail Gorbatschows vom 22.Januar 1991 zu den Ereignissen im Baltikum (Wortlaut)

Auf einer internationalen Pressekonferenz hat der Präsident der UdSSR, Michail Gorbatschow, am 22. Januar 1991 zu den jüngsten Ereignissen in den baltischen Republiken Stellung genommen. Es folgt der Wortlaut der Erklärung. D. Red.

Die Krise, die moralisch-politisch angespannte Situation in der Gesellschaft, die Ereignisse, die zu Opfern führten, machen ein direktes und offenes Gespräch erforderlich. In einem bestimmten Teil der Gesellschaft werden Unverständnis und sogar Abneigung an den Tag gelegt, die Politik des Präsidenten zu verstehen.

Die tragische Wendung, die die Konfrontation in Litauen und in den letzten Tagen auch in Riga genommen hat, macht mich wie auch alle tief betroffen. Ich spreche den Familien, die von diesem Unglück heimgesucht wurden, mein aufrichtiges Beileid aus. Die Umstände, die mit dem Einsatz von Waffen zusammenhängen, müssen sorgfältig untersucht und nach dem Gesetz beurteilt werden.

Das erste und wichtigste, was ich sagen möchte, ist folgendes: Die Ereignisse, zu denen es in Vilnius und Riga gekommen ist, sind keineswegs ein Ausdruck der Linie, für deren Durchsetzung die Präsidialmacht eingerichtet worden ist. Und deshalb weise ich alle Spekulationen, Verdächtigungen und Unterstellungen in dieser Angelegenheit entschieden zurück. Weder die Innen- noch die Außenpolitik hat Veränderungen erfahren. Alles bleibt so, wie es in den Dokumenten und offiziellen Erklärungen der Führung formuliert worden ist.

Die Ereignisse im Baltikum sind in einer äußerst scharfen krisenhaften Situation entstanden. Rechtswidrige Akte, Verstöße gegen die Verfassung selbst, Mißachtung der Präsidentenerlasse, flagrante Verletzung der Bürgerrechte, Diskriminierung von Angehörigen anderer Nationalität und verantwortungsloses Verhalten gegen die Armee, die Militärangehörigen und deren Familien haben jene Situation, jene Atmosphäre geschaffen, da solche Zusammenstöße und blutigen Auseinandersetzungen aus unerwarteten Anlässen sehr leicht entstehen können. Hier ist die Quelle der Tragödie zu suchen und nicht in irgendwelchen mythischen Befehlen von oben.

So ist es sowohl im ersten als auch im zweiten Fall geschehen. Als Präsident sehe ich meine Hauptaufgabe darin, eine Eskalation der Konfrontation zu verhindern, eine Normalisierung der Lage herbeizuführen, Bürgereintracht und Zusammenarbeit zu erreichen. In diesem Zusammenhang ist folgendes notwendig: Die verfassungswidrigen Gesetze der Obersten Sowjets und die Regierungsbeschlüsse, vor allem diejenigen, die die Menschenrechte verletzen, müssen aufgehoben werden. Alle gesellschaftlichen Organisationen, Komitees und Fronten, welche Programme sie auch verfechten, können nur auf dem Verfassungswege und ohne Gewaltanwendung Machtansprüche geltend machen. Versuche jeder Art, im politischen Kampf an die Streitkräfte zu appellieren, sind unzulässig.

Mit den diskriminierenden Maßnahmen gegen Armee-Einheiten, die auf den Territorien der Republiken stationiert sind, sowie mit dem schändlichen Verhalten gegen die Familien und Kinder der Militärangehörigen muß Schluß gemacht werden. Die Streitkräfte halten sich in Übereinstimmung mit den heute geltenden Unionsgesetzen dort auf, wo dies durch das Verteidigungs- und Sicherheitsbedürfnis des Landes diktiert wird. Die Beziehungen der Behörden zu den Militärs müssen sich ausschließlich auf die Gesetze der UdSSR gründen. Zugleich sind keine eigenmächtigen Aktionen von seiten der Truppen zulässig.

Es ist Pflicht und Ehre der Kommandeure aller Grade, nur auf Befehl zu handeln, Selbstbeherrschung an den Tag zu legen, nicht auf Provokationen einzugehen und die Disziplin unter den Untergebenen zu festigen. Jede einzelne Republik besitzt das verfassungsmäßige Recht, aus der Union auszutreten; dabei darf aber weder Anarchie noch Willkür selbst von seiten der gewählten Organe zugelassen werden. Ein Austritt kann nur auf der Grundlage der Willensbekundung der gesamten Bevölkerung - eines Referendums - und im Ergebnis des vom Gesetz vorgesehenen Prozesses erfolgen. Im Zusammenhang mit dem Gesagten ist es erforderlich, auf die Erörterung der Situation im Baltikum im Föderationsrat zurückzukommen. Die Ereignisse der letzten Tage wurden von bestimmten Kreisen genutzt, um die Situation unter dem Vorwand einer angeblich vor sich gehenden Wende nach rechts und einer drohenden Diktatur anzuheizen.

Ich weise diese Gerüchte entschieden zurück. Die Errungenschaften der Perestroika, Demokratisierung und Glasnost waren und bleiben unvergängliche Werte, die von der Präsidialmacht geschützt werden. Das bedeutet natürlich nicht, daß wir abseits stehen, gleichgültig bleiben, wenn die Medien der Propaganda, ja der Propaganda - nennen wir die Dinge doch bei ihrem Namen - vorsätzlich genutzt werden, um Chaos, Panik und nationale Zwietracht zu provozieren, um Volk und Armee in Gegensatz zu bringen und zu Aufrufen, die Gesetze nicht zu beachten. Die Ereignisse im Baltikum werden spekulativ als Anlaß dafür genommen, die Frage der Spaltung unserer Streitkräfte zu stellen und eigene Armeen in den Republiken aufzustellen. Solche verantwortungslosen Erklärungen bergen ernste Gefahren in sich, besonders wenn sie von der Führung der RSFSR initiiert werden. Ich denke, daß jeder vernünftige Mensch versteht, was das für unser Land und die ganze Welt bedeuten könnte. Die Verbeugungen vor dem Ausland, vor der Organisation der Vereinten Nationen mit der Einladung, für uns die Angelegenheiten zu lösen, die wir selbst lösen können und müssen, sehen gelinde gesagt, seltsam und ungereimt aus.

Wir haben unsere Gesellschaft für die Zusammenarbeit und das Zusammenwirken mit der ganzen Welt geöffnet und werden auch weiterhin dem eingeschlagenen außenpolitischen Kurs treu bleiben. Die inneren Probleme des Landes müssen jedoch nur vom sowjetischen Volk und von niemandem sonst gelöst werden. Ich kann nicht umhin zu sagen, daß auch im Ausland die Ereignisse nicht selten einseitig interpretiert werden; in einigen Fällen auf eine Art, die an den ideologischen Krieg früherer Zeiten erinnert. Viele haben sowohl im Ausland als auch in der UdSSR diese Ereignisse nicht adäquat aufgenommen und darin eine Wende in der Politik der sowjetischen Führung gesehen. Es ist bedauernswert und gefährlich, wenn im Ergebnis einer solchen falschen Interpretation das in den letzten Jahren in den internationalen Beziehungen Erreichte einer Gefahr ausgesetzt wird.

In der scharfen Polemik, die sich in den letzten Tagen in unserem Land entfaltet hat, erinnern vernünftige Stimmen daran, daß das Wichtigste jetzt politische Stabilität, eine feste Rechtsordnung und Disziplin, Normalisierung in der Wirtschaft, eine entschlossene Vorwärtsbewegung zum Markt sowie eine demokratische Umgestaltung unseres multinationalen Staates ist. Ich teile einen solchen Standpunkt. In der Gesellschaft setzt sich immer mehr die Erkenntnis durch, daß nicht Demonstrationen, Kundgebungen, Streiks und nicht die Schürung politischer Leidenschaften und der Konfrontation, sondern die gewissenhafte Arbeit und das bürgerliche Einvernehmen das Land aus der Krise führen werden. Dazu rufe ich alle Bürger der UdSSR auf.

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