Hätte mich die Redaktion vor zwei Monaten aufgefordert, einen Situationsbericht über Frankreich zu schreiben, wäre meine generelle Linie klar gewesen: soziale Bewegungen schienen in unserem Nachbarland nicht zu erwarten. Die konservative Vier-Fünftel-Mehrheit der Neogaullisten (RPR) und der Liberalen (UDF), resultierend aus den Parlamentswahlen des vergangenen Frühjahrs, schien das politische Leben Frankreichs auf Spekulationen über die Höhe der Privatisierungserlöse Balladurs und auf die Tiefe der Einschnitte in das soziale Netz zu beschränken. Die beiden Linksparteien PS (Sozialdemokraten) und PCF (Kommunisten) schienen von ihrer epochalen Niederlage erdrückt und mit ihren eigenen, hausgemachten Problemen beschäftigt. Bei den Kommunisten ging und geht es um die Nachfolge Georges Marchais' und um damit zusammenhängende mögliche PolitikKorrekturen.
Der Parti Socialiste bemüht sich um die Inszenierung Michel Rocards als Führer einer neuen linken Sammlungsbewegung und als Kandidat für die Präsidentschaftswahlen im Frühjahr 1995. Frankreichs Gewerkschaftsbewegung ist mittlerweile in Europa die Trägeren der roten Laterne, was den Organisationsgrad der abhängig Arbeitenden anbelangt.