Ausgabe März 1994

Aufruf zugunsten der Deserteure und Kriegsdienstverweigerer aus dem ehemaligen Jugoslawien (Wortlaut)

(Wortlaut) Wir Bürgerinnen und Bürger Europas,

e n t s e t z t über den Krieg, der das ehemalige Jugoslawien verwüstet,

b e u n r u h i g t durch das Schicksal, das hunderttausende Deserteure dieses Konflikts trifft von denen nur eine Minderheit ins Ausland fliehen konnte,

e m p ö r t über die Doppelzüngigkeit der europäischen Staaten, die einerseits diesen Krieg verurteilen, andererseits die Deserteure, Stellungsflüchtlinge und Kriegsdienstverweigerer in keiner Form unterstützen und ihnen sogar mit Rückschaffung drohen - zurück zu den Greueln dieses Krieges, an denen sie sich schon einmal geweigert haben, teilzunehmen,

i m B e w u ß t s e i n, daß diese Dienstflüchtigen, die Botschafter der Versöhnung und eines zukünftigen Friedens sind und die Ehre ihres Landes verkörpern, derzeit bestenfalls unverstanden bleiben und - oft sogar von ihrer eigenen Familie - ausgestoßen oder, im schlimmsten Fall, von den Kriegsverbrechern als "Verräter" verfolgt werden,

1. b e g r ü ß e n die vom Europäischen Parlament einhellig verabschiedete Entschließung vom 28. Oktober 1993, in der die Europäische Gemeinschaft und die EG-Mitgliedstaaten aufgefordert werden, Deserteure und Kriegsdienstverweigerer, die sich den verschiedenen Streitkräften, die sich auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien bekämpfen, entzogen haben, aufzunehmen, zu unterstützen und als Flüchtlinge anzuerkennen;

2. s e t z e n u n s - jede und jeder nach ihren, seinen Möglichkeiten - persönlich dafür ein, Empfang, Schutz und Unterstützung der Deserteure zu gewährleisten (Unterbringung, Rechtshilfe, Ausbildung, usw.);

3. v e r l a n g e n von unseren politischen Vertretern, entsprechend den Forderungen des Europäischen Parlaments: - die Völkergemeinschaft aufzufordern, Normen zum Schutz von Deserteuren und Kriegsdienstverweigerern aufzustellen, die sich nicht an nationalistischen Kriegen beteiligen möchten, die von ihr unmißverständlich verurteilt wurden, - geeignete Maßnahmen zur Aufnahme von Deserteuren und Kriegsdienstverweigerern vorzusehen, - ihnen einen Rechtsstatus zu gewähren und sich klar gegen Auswirkungen zu wenden, - Programme und Vorhaben zu entwickeln, um Ausbildungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten für Kriegsdienstverweigerer zu schaffen - und auf die Regierungen des ehemaligen Jugoslawien den nötigen Druck auszuüben, damit allen Deserteuren und Kriegsdienstverweigerern eine Generalamnestie gewährt wird.

"Es ist schön, kriminellen Befehlen nicht Folge zu leisten." (Anatole France) Schön aber schwierig. Schaffen wir überall ein Empfangs- und Unterstützungsnetz für Deserteure, und führen wir eine Kampagne, um unsere Regierungen dazu zu bringen, ihre Taten endlich mit ihren Reden in Einklang zu bringen. Den Verfassern des Aufrufs ist bewußt, daß die Bezeichnung "Deserteur" nicht überall und unter allen Umständen gleich verstanden wird. Sie verwenden sie im Sinne der Resolution des Europäischen Parlaments (siehe P. 3) für alle Menschen, die sich weigern, an einem Krieg teilzunehmen, "der weder die Integrität des Einzelnen noch der Gemeinschaft achtet und im eklatanten Widerspruch zur Tradition von Zusammenleben und kulturellem Austausch zwischen den Völkern steht".

ErstunterzeichnerInnen: Albanien: Ismail Kadare, Schriftsteller. Belgien: Georges Henri Beauthier, Anwalt; Vincent Decroly, Politiker; Pierre Mertens, Schriftsteller, Sabine Missistrano, Präsidentin der Liga für Menschenrechte; Freddy Sarens, Abgeordneter; Roger Somville, Kunstmaler; Isabelle Stenghers, Philosophin; Hugo van Dienderen, Abgeordneter; Lode van Outrive, Abgeordneter im Europaparlament. Dänemark: Hans L. Martensen, Katholischer Bischof von Kopenhagen; Anker Jorgensen, ehemaliger Ministerpräsident, Abgeordneter; Jens Glebe-Moller, Professor, Dekan der theologischen Fakultät der Universität Kopenhagen. Deutschland: Reinhold Andert, Autor und Liedermacher; Lothar Baier, Schriftsteller; Klaus Bednarz, Moderator WDR; Franz Josef Degenhardt, Liedermacher; Eugen Drewermann, Theologe; Günter Grass, Schriftsteller; Dietrich Kittner, Kabarettist; Künstler in Aktion e.V., Köln, Felicia Langer (Israel/Deutschland) Anwältin Trägerin des Alternativen Friedensnobelpreises 1990; Siegfried Lenz, Schriftsteller; Udo Lindenberg, Sänger; H. Pawloswski, Theologe, Publik Forum; Käthe Reichel, Schauspielerin; Maria Schell, Schauspielerin; Albrecht Schönherr, Altbischof v. Berlin; Johannes Mario Simmel, Schriftsteller; Günter Wallraff, Autor. Frankreich: Lucie Aubrac, Widerstandskämpferin 1939-45; Michel Cardoze, Journalist; Jean-Jaques De Felice, Rechtsanwalt, Vicepräsident der französischen Liga für Menschenrechte; Daniel Jacoby, Rechtsanwalt, Präsident der FIDH (Internationale Föderation der Menschenrechtsligen); Ernest Pignon, Kunstmaler; Yves Poulain, Pastor, International Fellowship of Reconciliation; Renaud, Sänger und Liedermacher; Etienne RodaGil, Autor; Thierry Sechan, Autor. Großbritannien: Stephan Berger, Historiker, Schriftsteller. Holland: Mies Bouhuys, Schriftsteller; Wim Klinkenberg, Journalist, Präsident der holländischen Journalistenunion; Truus Menger-Overstegen, Bildhauer; Awraham Soetendorp, Rabbiner (Liberale, Jüdische Gemeinde); Dr. Ernst Stern, Schriftsteller, Altpräsident der Liga für Menschenrechte; Jan Terlaak, Pax Christi; Dr. Albert van den Heuvel, AltVizepräsident des N.O.S. (Nationaler Rundfunk), Willem van der Zee, Generalsekretär des Kirchenrates. Irland: Barry Desmond, Abgeordneter des Europäischen Parlaments. Italien: Umberto Eco, Schriftsteller. Norwegen: Johan Galtung, Friedensforscher. Österreirh: Ilse Aichinger, Schriftstellerin; Senta Berger, Schauspielerin; Peter Handke, Schriftsteller, Elfriede Jelinek, Schriftstellerin; Peter Patzak, Regisseur; Erika Pluhar, Schauspielerin, Autorin. Peru: Alfredo Bryce Echenique, Schriftsteller. Portugal: Antonio Ramalho Eanes, General, ehem. Präsident Portugals. Schweden: Lars Gyllensten, Schriftsteller; Astrid Lindgren, Schriftstellerin. Schweiz: Max a. Ambühl, Vizepräsident der Europa-Union (Schweiz) und der Internationalen Europäischen Bewegung; Peter Bichsel, Schriftsteller; Max Bill, Maler und Bildhauer; Mario Botta, Architekt; Christiane Brunner, Vorsitzende der Gewerkschaft SMUV (Schweizerischer Metall- und Uhrenarbeiterverband); Dimitri, Clown; Thomas Fleiner, Direktor des Institutes für Föderalismus in Freiburg; Adolf Muschg, Schriftsteller; Leni Robert, Abgeordnete; Jaques Stadelmann, Bürgermeister von Delemont, Präsident von "Gemeinden Gemeinsam" -Schweiz; Lukas Vischer, Theologieprofessor; Otto F. Walter, Schriftsteller. Spanien: Mariano Aguirre, Direktor des C.I.P. (Zentrum für Friedensforschung); Rosa Montero, Schriftstellerin, Journalistin; Alberto Piriz, General des C.I.P.; Joaquin Ruiz-Jimenez, Präsident der Internationalen Juristenkommission (Genf), Vizepräsident der spanischen Flüchtlingskommission. Südafrika: Breyten Breytenbach, Schriftsteller, Türkei: Nedim Gürsel, Schriftsteller. Ungarn: György Konrad, Schriftsteller, ehemaliger Präsident des Internationalen PEN-Clubs. Europäische Koordinationsstelle: Europäisches Bürgerforum, Postfach 42, F-04300 Forcalquier, Frankreich.

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