Die Debatte über Opfer nimmt häufig die Form eines Duells an: auf der einen Seite stehen diejenigen, die ein stärkeres Bewußtsein der Gesellschaft für eine sich immer weiter ausdehnende Anzahl von Opfern verlangen, auf der anderen die, die Bedenken gegen diesen Ansatz äußern, weil solche Forderungen ganz grundsätzlich die Bedeutung von Eigenverantwortung in Frage stellen. Die Ereignisse der letzten Zeit deuten darauf hin, daß der Kult der Verletzbarkeit in Großbritannien über den Rahmen des bisherigen hinausgeht. Dieser Kult hat sich als Schlüsselelement in einem Modernisierungsprogramm erwiesen, das jeden Aspekt des gesellschaftlichen Lebens berührt. Die Vorgänge nach dem Tod von Prinzessin Diana zeigen, daß die Kultivierung der öffentlichen Zurschaustellung von Gefühlen einen bedeutenden Teil der britischen Bevölkerung erfaßt hat. Die Kultur des Opfertums kann zu einer wirksamen Waffe werden, wenn man sie politisiert. Der neuen politischen Klasse Großbritanniens lieferte Dianas Tod eine Gelegenheit, sowohl zu trauern als auch zu feiern. "Als erstes möchte ich sagen, wie stolz ich am Samstag war, Brite zu sein", verkündete Premierminister Tony Blair seinem Publikum nach der Beerdigung Dianas.
In der November-Ausgabe ergründen Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey die Anziehungskraft des demokratischen Faschismus. Frank Biess legt die historischen Vorläufer von Trumps autoritärer Wende offen – ebenso wie die Lebenslügen der Bundesrepublik. Daniel Ziblatt zieht Lehren aus der Weimarer Republik für den Umgang mit den Autokraten von heute. Annette Dittert zeigt, wie Elon Musk und Nigel Farage die britische Demokratie aus den Angeln zu heben versuchen. Olga Bubich analysiert, wie Putin mit einer manipulierten Version der russischen Geschichte seinen Krieg in der Ukraine legitimiert. Ute Scheub plädiert für die Umverteilung von Wohlstand – gegen die Diktatur der Superreichen. Sonja Peteranderl erörtert, inwiefern sich Femizide und Gewalt gegen Frauen mit KI bekämpfen lassen. Und Benjamin von Brackel und Toralf Staud fragen, ob sich der Klimakollaps durch das Erreichen positiver Kipppunkte verhindern lässt.