Die Debatte über Opfer nimmt häufig die Form eines Duells an: auf der einen Seite stehen diejenigen, die ein stärkeres Bewußtsein der Gesellschaft für eine sich immer weiter ausdehnende Anzahl von Opfern verlangen, auf der anderen die, die Bedenken gegen diesen Ansatz äußern, weil solche Forderungen ganz grundsätzlich die Bedeutung von Eigenverantwortung in Frage stellen. Die Ereignisse der letzten Zeit deuten darauf hin, daß der Kult der Verletzbarkeit in Großbritannien über den Rahmen des bisherigen hinausgeht. Dieser Kult hat sich als Schlüsselelement in einem Modernisierungsprogramm erwiesen, das jeden Aspekt des gesellschaftlichen Lebens berührt. Die Vorgänge nach dem Tod von Prinzessin Diana zeigen, daß die Kultivierung der öffentlichen Zurschaustellung von Gefühlen einen bedeutenden Teil der britischen Bevölkerung erfaßt hat. Die Kultur des Opfertums kann zu einer wirksamen Waffe werden, wenn man sie politisiert. Der neuen politischen Klasse Großbritanniens lieferte Dianas Tod eine Gelegenheit, sowohl zu trauern als auch zu feiern. "Als erstes möchte ich sagen, wie stolz ich am Samstag war, Brite zu sein", verkündete Premierminister Tony Blair seinem Publikum nach der Beerdigung Dianas.
In der September-Ausgabe plädiert Lea Ypi für eine Migrationsdebatte im Sinne der Aufklärungsphilosophie. Cinzia Sciuto fordert, der zunehmenden Aushöhlung des Völkerrechts mit einer entschiedenen Verteidigung desselben zu begegnen – und nicht mit Resignation und falschem Realismus. Für Georg Diez markieren die Kriegsverbrechen in Gaza und die fehlenden Reaktionen darauf einen Epochenbruch; sie stünden für nicht weniger als den Verrat des Westens an der Humanität. Herfried Münkler analysiert, wie Kriege historisch endeten und Friedenszeiten begannen und was das mit Blick auf den Ukrainekrieg bedeutet. Simone Schlindwein deckt auf, wie Russland junge Afrikanerinnen mit falschen Versprechen für die Kriegswirtschaft rekrutiert. Warum die grüne Digitalisierung ein Mythos ist und was der KI-Boom den Globalen Süden kostet, erläutern Ingo Dachwitz und Sven Hilbig. Und Eva-Maria Klinkisch sowie Markus Rieger-Ladich zeigen auf, wie Long Covid-Betroffene von der Gesellschaft und dem Gesundheitssystem systematisch ignoriert werden – und was dagegen zu tun ist.