Ausgabe Juli 1998

Das Castordebakel der Atombranche

Auch ohne Anti-Castor-Blockaden wird gelegentlich deutlich, daß es im Umgang mit radioaktivem Müll enorme Probleme gibt. Ausmaß und "Bewältigungs"-Rituale des Castorskandals erinnern an die Transnuklearaffaire vor zehn Jahren. Es müssen allerdings nicht einmal - wie damals - 21 Mio. DM Bestechungsgelder fließen, damit erkennbar wird, daß die Atommüllentsorgung ein großes Geschäft ist und daß das Entsorgungsdilemma der Atomwirtschaft Geheimniskrämerei und Vertuschungsenergie hervorbringt. In den 80er Jahren waren von der Hanauer Atomtransportefirma Transnuklear (TN) die Sicherheits- und Strahlenschutzbeauftragten in verschiedenen deutschen Atomkraftwerken und des belgischen Atomzentrums Mol, aber auch Mitarbeiter der Kernforschungszentren in Jülich und Karlsruhe mit kleinen und großen Geschenken bedacht worden.

"Nützliche Aufwendungen" wie Videorecorder, Autos, Urlaubsreisen, Bordellbesuche und Heimorgeln wurden nach einem "Schlüssel" gezahlt: Grundlage waren die Mengen an Atommüll, die von den Nuklearanlagen zur Abfallbehandlung nach Mol geschickt wurden, und der Generaltransporteur war die TN. Zurück kamen die konditionierten Abfälle, meist waren sie falsch deklariert, bisweilen wurde schwach aktiver Müll mit illegalen Beimengungen von Plutonium und Kobalt 60 zurückgeschickt. Derartige Fässer landeten u.a. in einer Lagerhalle in Gorleben. Die strafrechtliche Bewältigung verlief im Sande. 80 bis 100 Ermittlungsverfahren wurden angestrengt, gingen aber mangels Straftatbestand ins Leere. (1991 stellte man gegen hohe Geldbußen Strafverfahren ein, weil eine persönliche Bereicherung, so die staatsanwaltschaftliche Diktion, bei den spendablen ehemaligen TN-Managern nicht nachweisbar war.) Es gab Kündigungen - und Tote. So nahm sich Hans Holtz, einer der hauptbeschuldigten TNManager, im Dezember 1987 im Gefängnis das Leben. Auch ein Mitarbeiter der Preussen-Elektra, Klaus Ramcke, der eine sechsstellige Schmiergeldzahlung von der Kraftanlagen AG Heidelberg (KAH) angenommen hatte, verübte Selbstmord. Die KAH hatte in Mol gemeinsam mit der Muttergesellschaft der TN, der Hanauer Firma Nukem, eine Anlage zur Verglasung von Atommüll gebaut, diese Anlage ("Pamela") wurde von zwei Angestellten des TÜV aus Mannheim begutachtet, die ebenfalls einige Geschenke erhielten, was folgenlos blieb. Praktikanten in Mol kamen indes aus den einstigen Atomschwellenländern Südafrika und Pakistan.

Der Verdacht, daß die Nukem gegen den Atomwaffensperrvertrag verstoßen hätte und möglicherweise proliferationsrelevante Nukleartechnologie nach Pakistan und Libyen verschoben hätte, ließ sich aus Sicht der Ermittler allerdings nicht bestätigen. CDU und FDP beklagten damals den Ansehensverlust der Atomwirtschaft. Die Junge Union deklarierte die Atomenergie zur "Übergangstechnologie". Der "Spiegel" schrieb zur Jahreswende 1987/88: "Die Affaire trifft eine Atomwirtschaft, die noch immer den Schock von Tschernobyl verarbeiten muß. Nach dem GAU in der Ukraine hatten die bundesdeutschen Atommangager gerade noch einmal die Kurve gekriegt, indem sie, eher willkürlich, zwischen östlicher und westlicher Kerntechnik unterschieden ... Und nun das." Heute sagt der Präsident des Deutschen Atomforums, Wilfried Steuer, die 1998 bekannt gewordenen überhöhten Strahlenwerte hätten der Atomwirtschaft "enormen Schaden" zugefügt. In der öffentlichen Meinung, so glaubt Steuer, hätte sich die Kernenergiegerade etwas im Aufwind befunden. Nun sei sie ähnlich schwer getroffen wie nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl.

Den Vergleich zur Transnuklearaffaire zieht Steuer natürlich nicht heran. Damals versprach Bundesumweltminister Klaus Töpfer "tiefe Schnitte" bei der Neuordnung der Atommüllentsorgung. Der Betrieb der TN und der Nukem wurde wegen mangelnder Zuverlässigkeit storniert, die TN schließlich aufgelöst, an ihre Stelle trat die Gesellschaft für Nuklearservice (GNS), von der noch die Rede sein wird. Ungeschoren blieben die großen Gesellschafter der Nukem, das Rheinisch-Westfälische Elektrizitätswerk (RWE) und der Frankfurter Chemiekonzern Degussa. Am Ende der "Neuordnung" und "Entflechtung" der Hanauer Betriebe stand deren Übernahme durch die Siemens-Tochter Kraftwerk-Union (KWU). Die Grundregel Töpfers für die Neuorganisation der Entsorgung von schwach- und mittelaktivem Müll lautete: Wer Abfall behandelt, darf ihn nicht transportieren, und umgekehrt. Die Bundesbahn sollte als Spediteur die unternehmerische Führung für den Transport von Nuklearmüll übernehmen.

Wie man die Betriebserlaubnis verwirkt

Die Firmennamen wechselten, das Problem blieb. Zehn Jahre später ergeben sich mannigfaltige Parallelen, zeigt sich erneut die Unfähigkeit einer Atomaufsicht, für Kontrolle und Transparenz zu sorgen. Das 10-Punkte-Programm der angeschlagenen Bundesumweltund Reaktorministerin Angela Merkel könnte Wort für Wort aus Klaus Töpfers Feder stammen. Denn auch Merkel spricht immer noch von Entflechtung, Kontrolle und Transparenz - und plädiert gleichzeitig für den Weiterbetrieb der Atomkraftwerke. Das Eisenbahnbundesamt, zuständig für den Transport, führt nur stichprobenartig Messungen bei Atomtransporten durch. Nun soll nach besagtem Plan die Bahn alle Meßprotokolle der seit 1995 vorgenommenen Messungen offenlegen und prüfen, "ob rechtliche Schritte gegen Verantwortliche einzuleiten sind", heißt es im Punkt 9. Dazu muß man wissen, daß vor 1995 nur 30% der Transporte durch die Bahn kontrolliert wurden. Jetzt sind es rund 70%.

Die Atomwirtschaft schlägt neuerdings zur Verbesserung der Kontrollen vor, eine eigenständige Firma zu gründen, die allein mit der Transportabwicklung befaßt ist. Als wenn es die nicht gäbe, es ist die GNS. Die Gesellschaft für Nuklearservice (GNS) avancierte 1988 zum einzigen Entsorger für sämtliche schwach- und mittelaktiven Abfälle aller bundesdeutschen Atomanlagen. In jenem Jahr wurde ihr Stammkapital von 240 000 DM auf 6 Mio DM aufgestockt. Gesellschafter sind die Atomstromer RWE, Preussen Elektra, Bayernwerke, HEW und VEW. Die GNS hat sich auf die Entwicklung, den Einsatz und die Wartung von Castorbehältern für den Brennelementtransport und von Mosaikbehältern für den Transport anderer hoch- und mittelaktiver Abfallstoffe spezialisiert. Sie ist auch Atomschrotthändlerin. "Freigemessene" Metallteile aus atomtechnischen Anlagen werden eingesammelt und in der Gießerei der Krefelder Firma Siempelkamp eingeschmolzen. Aus dem Atomschrott werden u.a. auch die Mosaikbehälter gebaut, sie dürfen immerhin mit 200 Becquerel pro Gramm strahlen, seien aber nach Firmenangaben nur mit rund 20 Bq/g belastet. Das macht übrigens - bezogen auf das Gesamtgewicht eines Behälters von 5 Tonnen - die erkleckliche Summe von 50 Mio. bis einer Mrd. Becquerel aus. Da wäre doch die Frage zu klären, ob die Castorbehälter mit oder ohne strahlende Beigabe gefertigt werden.

Die Konditionierungsanlage in Gorleben wird im Auftrag der GNS gebaut, sie ist Muttergesellschaft der Brennelementzwischenlager in Ahaus und Gorleben, und am liebsten wäre sie auch in Greifswald eingestiegen, als dort die überdimensionierten Lagerhallen errichtet wurden, in denen der Abrißmüll samt Brennelementen aus der atomaren Hinterlassenschaft des DDR-Atomprogramms gestapelt werden soll. Die dortigen Elektrizitätswerke Nord (EWN) - ein Staatsunternehmen, das dem Bundesfinanzministerium untersteht wickeln dieses Projekt ab. Ihr Chef ist der ehemalige GNSMitarbeiter Dieter Rittscher. Werden die EWN privatisiert, hat die GNS bereits ein Bein in der Tür. Die in den neuerlichen Skandal verstrickte Hanauer Transportfirma NTL (Nukleare Transport Leistungen) ist ebenfalls eine GNS-Tochter. In einem Interview merkelt die Bundesumweltministerin an: "Besonderns genau werden wir uns die Hanauer Transportfirma NTL anschauen, die die Transporte abwickelt. Denn die hat ja alle Daten aus Frankreich bekommen - und stillgehalten." ("Frankfurter Rundschau", 25.5.1998) Wer stutzt nicht, wenn er nun doch wieder auf Hanau verwiesen wird? Die GNS war in den 80er Jahren das Konkurrenzunternehmen der TN. 1977 gründete deren ehemaliger Geschäftstührer Dr. Baatz zusammen mit einigen TN-Kollegen die Firma. Baatz ist ein nuklearer Haudegen. In den 60er Jahren transportierte er Plutonium im Kofferraum seines Privat-PKW von Mol in die Bundesrepublik. "Die GNS war immer schneller. Wir hinkten hinterher", beklagte sich der TN-Manager Hans Holtz in den Vernehmungen ("die tageszeitung", 15.3.1988).

Fakt ist: Etliche TN-Mitarbeiter waren zuvor zur GNS gewechselt. Klaus Ramcke von der Preussen Elektra, jener zweite Tote des Transnuklearskandals, gab bei den Vernehmungen am 22. Juni 1987 zu Protokoll: "Wir sind Besseres gewöhnt als kleine Geschenke". Und nannte die GNS. Wer für wirksame Kontrolle, tiefe Schnitte und Transparenz eintritt, muß den AKW-Betreibern, die nachweislich die Grenzwertüberschreitungen verschwiegen oder gar vertuscht haben, die Betriebserlaubnis entziehen. Wozu gibt es eigentlich ein Atomgesetz, welches die Voraussetzungen für den Betrieb einer kerntechnischen Einrichtung an die Zuverlässigkeit der Betreiber koppelt? Die GNS und ihre Tochter NTL gehören ebenso auf den Prüfstand, denn hier laufen die Fäden zusammen. Mit der Untersuchung aber ausgerechnet die Gesellschaft für Reaktorsicherheit zu beauftragen, wie es die Ministerin tat, heißt den Bock zum Gärtner machen. Wir stehen vor zwei großen Problemen. Das eine ist sachlicher Natur und betrifft die Schwierigkeiten im Umgang mit strahlenden Abfällen. Es geht um die verschiedenen Stationen der Atommüllspirale - von der Uranerzgewinnung, über die Anreicherung, den Reaktorbetrieb bis hin zur Entsorgung und den dafür vorgesehenen Einrichtungen. Eine echte Kontrolle findet bisher nicht statt, da helfen auch keine "10 Punkte".

Das Bundesamt für Strahlenschutz, die Töpfer-Neuerung nach Transnuklear, macht da keine Ausnahme. Hohe Beamte wie der zuständige Leiter für Zwischen- und Endlagerung Collin, Mitglied der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO), sind eng mit der Nuklear- Community verstrickt. Wirksame Kontrollen sind lästig, die Transporte sollen laufen wie geschmiert - auch ohne zusätzliche Schmiergelder -, denn sie sind ein Riesengeschäft. Auch andere sachliche Probleme wie die radiologische Belastung des Begleitpersonals, derjenigen, die den Castor putzen, die ihn rangieren oder als Polizist "sichern", bleiben ungelöst. Vor allem die biologische Wirksamkeit der Neutronenstrahlung ist Thema von Fachkongressen geworden und bereitet allenthalben Kopfschmerzen. Gedeckt wird durch Bundesbehörden auch die Praxis, die Behälterintegrität von Castoren nur noch zu berechnen. Die letzten Fall- und Crashtests mit Behältern der "deutschen Castorfamilie" gab es Ende der 70er/Anfang der 80er Jahre.

Das zweite Problem ist politischer Natur. Denn weder ging der Minister, der vor zehn Jahren die "tiefen Schnitte" ankündigte, noch geht die Ministerin, die sich heute schützend vor die Atomindustrie stellt, das Entsorgungsdilemma wirksam an. Offenbar ist von einer CDU-geführten 13 Bundesregierung nichts anderes zu erwarten. Die Festung Atomkraft muß nach der Bundestagswahl geknackt werden. Doch mit dem möglichen Regierungswechsel im Herbst kommt auf die Nachfolger von Rot-Grün ein herkulisches Problem zu: Wie sollen die schmutzigen Hinterlassenschaften der Nuklearindustrie und diese selbst entsorgt werden? Die bisher bekannten Konturen eines möglichen Ausstiegsgesetzes der Bündnisgrünen oder das angestaubte Kernenergieabwicklungsgesetz der SPD geben darauf noch keine umfassende Antwort. Das wäre, nach 40 Jahren "innerlicher Nutzung" der Atomtechnologie in der BRD, auch etwas viel verlangt. Ein Ausstiegsgesetz begrenzt allerdings nur das Atommüllvolumen, es macht die zu bewältigende Aufgabe überschaubarer - immerhin. Aber das wäre nur der erste vernünftige Schritt. Die Frage der Entsorgung bleibt.

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