Ausgabe Juni 1999

Die Luftangriffe sofort beenden und mit der Logik der Kriegsführung brechen - Antrag von Christian Ströbele u.a. (Wortlaut)

Beschlußlage der Bundesdelegiertenkonferenz von Bündnis 90/ Die Grünen in Bielefeld am 13. Mai 1999

Die Bielefelder Bundesdelegiertenkonferenz der Bündnisgrünen am 13. Mai 1999 befaßte sich ausschließlich mit dem Kosovokrieg. Dazu lagen dem Parteitag mehr als hundert Anträge vor. In der Schlußrunde der Abstimmung obsiegte mit 444 Stimmen ein Antrag des Bundesvorstandes, in dem eine einseitige, zeitlich befristete Unterbrechung der NATO-Luftangriffe gefordert wird. Auf den unterlegenen Antrag von Christian Ströbele, Claudia Roth und anderen, der ein sofortiges und bedingungsloses Ende der NATOBombardierungen verlangte, entfielen 318 Stimmen. Wir dokumentieren den Beschluß wie den abgelehnten Antrag im Wortlaut. - D. Red.

Frieden und Menschenrechte vereinbaren! Für einen Frieden im Kosovo, der seinen Namen zu Recht trägt - Beschluß der Bundesdelegiertenkonferenz (Wortlaut)

Im Kosovo führt das Milosevic-Regime einen Vernichtungs- und Vertreibungskrieg gegen die große albanische Bevölkerungsmehrheit. Es wiederholen sich die Greueltaten und humanitären Katastrophen des Krieges in Bosnien, für die auch hier vor allem die serbische Regierung und ihre Handlanger die Verantwortung tragen. Seit dem 24. März bombardieren NATO-Einheiten Ziele in ganz Jugoslawien mit dem erklärten Ziel, ein Friedensabkommen zwischen Repräsentanten der kosovo-albanischen Mehrheit und der jugoslawischen Regierung zu erzwingen und so die jahrzehntelange Unterdrückung der Albaner zu beenden, die schon lange begonnenen Vertreibungsaktionen zu unterbinden und eine Autonomie-Regelung durchzusetzen.

Mit größerer Verhandlungsbereitschaft hätte der jugoslawische Präsident Milosevic die Luftangriffe stoppen können. Statt dessen hat er die Vertreibungsaktionen zu einem ungeheuren Feldzug gegen die gesamte kosovanische Zivilbevölkerung gesteigert. Bündnis 90/Die Grünen haben sich in ihrem Verständnis von Außenpolitik immer an zwei Grundlinien orientiert: Entmilitarisierung der Politik und Absage an Gewalt sowie Wahrung und Durchsetzung der Menschenrechte. Diese beiden Grundlinien geraten bei der Bewertung des Kosovo-Konfliktes in einen Zielkonflikt. Verschärft wird der Konflikt durch schwerwiegende völkerrechtliche Einwände und Gegenargumente, vor allem wegen des Fehlens eines UN-Mandats für das militärische Vorgehen der NATO. Wir stehen schließlich noch vor einem weiteren Dilemma. Einerseits muß die rot-grüne Außenpolitik wirksame Strategien gegen die völkermörderische Politik des Milosevic-Regimes entwickeln. Andererseits aber ist sie vor eine Situation gestellt, die durch seit zehn Jahren begangene Fehler und Versäumnisse des Westens mitgeprägt und bei Regierungsübernahme bereits so weit eskaliert ist, daß Konzepte ziviler Konfliktprävention offenbar nicht mehr greifen können. Die Entscheidung über die Unterstützung oder die Ablehnung einer Intervention in Jugoslawien gegen die menschenverachtende Politik der jugoslawischen Regierung war wohl für die meisten von uns die schwierigste politische Entscheidung ihres bisherigen politischen Wirkens.

Für viele wurde deutlich, daß es nicht darum gehen kann, zu entscheiden, welches Prinzip grüner Politik einen höheren Stellenwert besitzt: die Wahrung und der Schutz der Menschenrechte oder das Bekenntnis zu Pazifismus und Antimilitarismus. Bündnisgrüne Außenpolitik muß den Anspruch erheben, eine Vereinbarung dieser beiden Prinzipien zu finden - unter Berücksichtigung der möglichen Folgen und der langfristigen Verbesserung der Bedingungen für eine friedenstiftende Politik der internationalen Staatengemeinschaft. In dieser Situation gibt es nicht die eine, objektiv richtige Antwort. Wir respektieren an diesem Punkt ausdrücklich, daß Mitglieder unserer Partei zu unterschiedlichen Schlußfolgerungen kamen. Wir sprechen keiner Seite weder die politische Ernsthaftigkeit noch den moralischen Willen ab. Wir sind überzeugt, daß wir auf der Grundlage des gegenseitigen Respekts trotz der gewichtigen politischen Differenzen weiter zusammenarbeiten können. Uns eint die Abscheu vor den politischen Verbrechen, den Mordtaten, Folterungen und Vergewaltigungen, der Geiselnahme von Zivilbevölkerung und der ethnischen Vertreibungspolitik. Uns eint der Wille, die Gewalt und die hunderttausendfache Verletzung von Menschenrechten zu beenden. Uns eint der Einsatz dafür, Deutschland zu einem offenen Land für Flüchtlinge aus der Region zu machen. Für uns steht die moralische Legitimation dafür außer Zweifel, dem Handeln des Milosevic-Regimes Einhalt zu gebieten.

Gleichwohl lehnen wir es ab, dessen Vertreibungs- und Völkermordpolitik durch historisch fragwürdige Gleichsetzungen mit dem deutschen Faschismus darzustellen. Zweifellos trägt der Westen und insbesondere auch die Bundesregierung Deutschland große Mitverantwortung für das Entstehen der Zwangssituation, in der wir uns seit Oktober 1998 befanden. Als verhängnisvoll erwies sich die Politik von Kohl und Genscher bei der Anerkennung ehemaliger jugoslawischer Teilrepubliken. Weder hat der Westen in den letzten Jahren zu einem gemeinsamen mittelund langfristigen Vorgehen gegenüber Milosevic gefunden, noch gab es eine klare Linie auch nur der wichtigsten europäischen Verbündeten zur Eindämmung der serbischen Politik, noch gab es eine Gesamtstrategie für den gesamten südosteuropäischen Raum. Die Unentschiedenheit, Wankelmütigkeit und Sprunghaftigkeit der westlichen Politik führte im zerfallenden Jugoslawien in den letzten zehn Jahren mehrfach dazu, daß zu wenig zu spät unternommen und damit die Aggressivität des staatsterroristischen serbischen Regimes im Effekt sogar noch ermuntert wurde.

Die langjährige Mißachtung und Nichtunterstützung des zivilen albanischen Widerstandes durch das Ausland war eine wesentliche Ursache für das Aufkeimen (groß)albanischer Nationalisten und die Verschärfungen der Spannungen im Kosovo in den letzten zwei Jahren. Wir Grüne haben in dieser Zeit die gewaltfreie Politik Rugovas aktiv unterstützt und uns für die gemeinsame Einbeziehung des ganzen südosteuropäischen Raumes in den europäischen Einigungsprozeß eingesetzt. Wir haben die falsche Politik des Westens gegenüber dem Milosevic-Regime immer wieder kritisiert und auf die drohenden verhängnisvollen Konsequenzen hingewiesen. Leider haben wir mit unseren Vorschlägen zu rechtzeitigen zivilen Konfliktpräventions- und Interventionsstrategien keine Mehrheit im Parlament gefunden und deshalb mit unseren Warnungen weitgehend recht behalten. Dieses ändert aber nichts daran, daß wir mit Rahmenbedingungen konfrontiert wurden, die wir nicht zu verantworten hatten, die uns nun aber in der neuen Rolle als Regierungspartei vor einen Entscheidungsdruck stellten. Die Außenpolitik der neuen Bundesregierung hatte maßgeblich zum Verhandlungsprozeß von Rambouillet geführt. Dieser war der Versuch, den geringen noch vorhandenen Spielraum für einen grünen Politikansatz zu nutzen. Ohne dies wäre es bereits früher zur militärischen Intervention gekommen. Nach dem Scheitern des Rambouillet-Prozesses hat sich die Mehrheit der bündnisgrünen Mandats- und EntscheidungsträgerInnen für den Einsatz militärischer Gewalt ausgesprochen.

Das Verhalten des Milosevic-Regimes ließ zu dieser Zeit in der politischen Realität eine andere als die getroffene Entscheidung nur um den Preis zu, daß der bereits angelaufenen massenhaften Vertreibung und dem Morden nichts hätte entgegengesetzt werden können. Viele Mitglieder unserer Partei und - so die Meinungsumfragen - viele WählerInnen haben die Luftangriffe in der Hoffnung mitgetragen, daß die Vertreibung und Ermordung tausender Kosovo AlbanerInnen dadurch verhindert oder wenigstens begrenzt werden könnte. Aber die Politik der NATO, der Bundesregierung und unsere Politik muß sich bei jedem Schritt nicht nur an ihren Absichten, sondern auch an ihren Ergebnissen messen lassen. Die Entscheidung muß darauf hin ständig neu abgewogen werden. Werden alle vorhandenen nicht militärischen Spielräume genutzt oder bestimmt die militärische Logik die Politik? Werden die Ziele erreicht? Gibt es eine Chance für die Beendigung der militärischen Gewalt? Die UNO und ihr Gewaltmonopol sind politisch schwer beschädigt worden. Die neue NATO-Strategie mit ihrem erweiterten Sicherheitsbegriff und der Erklärung, künftig in "Ausnahmefällen" auch ohne UN-Mandat eingreifen zu wollen, verstärken den Eindruck, die NATO wolle sich selbst an die Stelle der UNO setzen. Das Vorgehen der NATO im Kosovo erscheint dafür als vorweggenommener Präzedenzfall. Ohne ausdrückliche Signale zur Stärkung der UNO - ob über Einbindung des Generalsekretärs Kofi Annan als Vermittler im Balkankonflikt oder durch vorzeitige gemeinsame Krisenbewältigung im UN-Sicherheitsrat - bleibt die UNO geschwächt.

Die anfängliche Hoffnung auf eine Verhinderung der humanitären Katastrophe hat sich nicht erfüllt. Die NATO unterlag offenkundig einer Fehleinschätzung, was die Dauer des Krieges und die Auswirkung der Bombardierung angeht. Heute ist festzustellen: Die humanitäre Katastrophe wurde beschleunigt, sie wurde größer, als die meisten wirklich befürchtet hatten, und sie dauert immer noch an. Wie wenig vorbereitet die Staatengemeinschaft auf diese Entwicklung war, zeigt sich auch daran, daß keine ausreichenden Vorkehrungen zur Versorgung der Flüchtlinge getroffen waren. Die angrenzenden Aufnahmeländer waren und sind völlig überfordert und leiden als Folge daraus unter innenpolitischen Spannungen. Dies trug zu wachsenden Zweifeln an der Legitimität des Bombenkrieges ebenso bei wie die zunehmenden menschlichen Opfer und die zivilen Schäden, die er verursachte. Die militärischen Angriffe der NATO aus der Luft haben zwar den Militär- und Gewaltapparat des Milosevic-Regimes massiv geschwächt, sie haben aber auch aus der Illusion des chirurgisch präzisen Luftkrieges einen bitteren Hohn gemacht, politisch negative Wirkungen ausgelöst und eine Reduktion aufs militärische Denken gefördert (dieses wird besonders deutlich angesichts der Bombardierung der chinesischen Botschaft in Belgrad).

Wir Grüne haben dies von Anfang an thematisiert und immer mehr kritisiert. Wir kritisieren weiterhin, daß die NATO politische Chancen nicht ausgetestet hat, die in befristeter Aussetzumg von Luftangriffen liegen können. Dies wäre mehrfach sinnvoll gewesen, um diplomatische Aktivitäten zu verstärken beziehungsweise die Versorgung der Binnenflüchtlinge zu ermöglichen. Eine politisch ebenfalls sinnvolle Einschränkung der Ziele der Luftangriffe wurde von der NATO nicht in Erwägung gezogen. Angriffe im Montenegro oder auf offensichtlich zivile Ziele in Serbien sind für die meisten von uns kaum nachvollziehbar. Dies alles macht die Suche nach einer politischen Lösung des Konfliktes immer zwingender. Nachdem die humanitäre Katastrophe nicht verhindert werden konnte, müssen die humanitären Ziele in der neuen Situation neu bestimmt werden. Im Kern muß es darum gehen, daß die Flüchtlinge und Vertriebenen möglichst bald in ihre Heimat zurückkehren können, sowie darum, daß nicht auch noch die verbliebenen Kosovo-AlbanerInnen aus dem Land getrieben werden.

Dieses Ziel ist nur auf dem Verhandlungswege zu erreichen. Nach den bisherigen Erfahrungen mit Milosevic erscheint es äußerst zweifelhaft, daß dieser ohne Druckausübung zu Verhandlungen bereit ist. Wie der Verlauf des Krieges zeigt, ist es allein mit militärischem Druck allerdings auch nicht zu erreichen. Deswegen teilen wir einerseits nicht Forderungen nach einem generellen Ende der militärischen Aktionen der NATO, wie wir andererseits Tendenzen in der NATO zu einer unflexiblen, ultimativen Politik kritisieren. Die Rückkehr zur Politik und der Ausstieg aus der militärischen Eskalationsspirale sind zwingend geboten. Wir sind überzeugt, daß der Fischer-Plan die Kernelemente einer politischen Lösung enthält. Deshalb unterstützen wir ihn. Der grüne Außenminister hat nicht nur als erster verantwortlicher Politiker im Westen einen konkreten Vorschlag zur diplomatischen Lösung entwickelt, seit dem G8-Treffen in Bonn ist dieses Konzept zur gemeinsamen Perspektive des Westens und Rußlands geworden. Die Abkehr von der Implementierung der Rückkehr der Flüchtlinge durch NATO-Truppen hin zu einer Absicherung eines Friedenskonzepts für den Kosovo durch eine Friedenstruppe unter Mandat der UNO nach Kapitel VII der UN-Charta wird von uns positiv bewertet und unterstützt. Wir begrüßen es besonders, daß die Bundesregierung sich auch durch diesen Schritt intensiv um die Einbindung Rußlands in die Lösung des Konfliktes bemüht. Ohne die Beteiligung Rußlands gibt es für den Kosovo und den ganzen südosteuropäischen Raum keine Friedensperspektive. Bei dem G8-Außenminister-Treffen Anfang Mai in Bonn wurde ein substantieller Schritt vorwärts zu einer politischen Lösung gemacht. Die erreichte gemeinsame Haltung Rußlands und des Westens macht klar, daß Milosevic mit seiner Politik der Vertreibung und des Völkermords nicht durchkommen wird. Das Ergebnis des G8Treffens beinhaltet auch ein Angebot an die Belgrader Führung. Wir fordern daher die Staatsführung Jugoslawiens auf, diese Chance nicht zu verpassen. Um die diplomatische Chance zu verstärken, die derzeit vorhanden ist, sollte die NATO einen befristeten Stop der Bombenangriffe erklären. In der so entstehenden Zeit muß die jugoslawische Seite die Vertreibungen einstellen und mit dem Rückzug ihrer bewaffneten Kräfte beginnen. Die Waffenpause kann verlängert werden, wenn die Belgrader Führung dieses vollzieht.

Die Unterbrechung der Luftangriffe kann auch einhergehen mit einem humanitären Waffenstillstand, der dem IKRK die Gelegenheit gibt, die Linderung des dramatischen Flüchtlingselends der Binnenvertriebenen im Kosovo anzugehen. Gänzlich falsch wäre es im Gegensatz dazu, der militärischen Eskalationslogik zu folgen und auf einen Bodenkrieg zu setzen. Ein NATO-Bodenkrieg im Kosovo oder in anderen Teilen Jugoslawiens liegt aus unserer Sicht aus vielen Gründen jenseits einer Grenze, die nicht überschritten werden darf. Es ist sehr fragwürdig, ob und wann er den Vertriebenen helfen wurde. Es ist auch fraglich, ob nicht die humanitären Folgen und die politischen Gefahren eines Bodenkrieges größer und gefährlicher wären als alles, was bisher geschehen ist. Wir lehnen ihn deshalb ab und wurden einem Einsatz deutscher Truppen dafür nicht zustimmen. Die Selbstmandatierung der NATO kann viele Länder der Erde in weiterer Aufrüstung bestärken. In zahlreichen ost- und südosteuropäischen Staaten besteht die Gefahr, daß militante nationalistische Strömumgen die Oberhand gewinnen. Es besteht die Gefahr eines Flächenbrandes in Europa. Wir haben eine große Verantwortung gegenüber den Opfern des Kosovo-Krieges, gegenüber den Opfern auf beiden Seiten. Eine erste Konsequenz gegenüber den vertriebenen Kosovo-AlbanerInnen muß darin bestehen, großzügig in unserem Land Flüchtlinge aufzunehmen und dafür zu streiten, daß dies auch in anderen europäischen Ländern geschieht. Im Rahmen eines Stabilitätspaktes, wie ihn die Bundesregierung vorgeschlagen hat, werden wir zusammen mit unseren EU- und NATO-Partnern auch eine wirksame Aufbauhilfe für die ganze Region leisten müssen.

In der vor uns liegenden Grundsatzdebatte werden wir uns vielen fundamentalen Fragen nach der Orientierung unserer Außen-, Sicherheits- und Friedenspolitik stellen müssen. Die grundsätzliche Orientierung am Pazifismus werden wir nicht aufgeben. Wir wollen ihn entfalten als politischen Pazifismus, der sich zum Ziel setzt, die Anwendung von Gewalt in den internationalen Beziehungen durch die Herausarbeitung eines wirksamen Gewaltmonopols der Vereinten Nationen zurückzudrängen. Dazu gehören konkretisierte Schritte zur UNO-Reform und zur Stärkung der OSZE. Wir müssen unsere programmatischen Ansätze zur UN-Reform und zur Weiterentwicklung des Völkerrechts im Sinne der Geltung der Menschenrechte auf die Ebene der praktischen Politik bringen. Wir müssen dafür sorgen, daß die grüne Regierungsbeteiligung bei der Institutionalisierung und Anwendung neuer Instrumente von Konfliktprävention und ziviler Konfliktbearbeitung konkrete Ergebnisse zeitigt. Die Glaubwürdigkeit grüner Außenpolitik wird sich in Zukunft auch daran messen lassen müssen, wie wir menschenrechtliche Kriterien in anderen Weltgegenden und unter anderen politischen Rahmenbedingungen praktisch ernst nehmen. Schließlich - und nicht zuletzt - hat sich im vorliegenden Konflikt auch wieder gezeigt, wie wichtig die Aussage des Europawahlprogramms ist, daß die europäischen Länder in Zukunft mehr gemeinsame außen- und sicherheitspolitische Verantwortung übernehmen müssen.

Dreh- und Angelpunkt für die Beendigung des Krieges ist die Wiederherstellung des Gewaltmonopols der UNO. Dazu muß das Gewaltmonopol im Kosovo an eine neutrale Friedenstruppe mit UN-Mandat delegiert werden. Diese Truppe könnte sowohl den Auftrag zum peace-keeping (friedenserhaltenden Maßnahmen) als auch zum peace-enforcement (friedenserzwingenden Maßnahmen) haben, kann aber nach Lage der Dinge nicht unter NATO-Kommando stehen. Sie muß von jenen Staaten entscheidend geprägt sein, die sich nicht an den laufenden Kriegsaktionen beteiligen. Die Stationierung von NATO-Truppen im Kosovo oder ein NATO-Oberkommando über UNO-Truppen zur Bedingung eines Waffenstillstandsabkommens zu machen, könnte nur als Versuch gewertet werden, eine Verhandlungslösung zu torpedieren. Das Gleiche gilt für die wechselseitigen Forderungen Jugoslawiens und der NATO, die Einstellung der Kampfhandlungen und den Abzug der Truppen durch die jeweils andere Seite zur Vorbedingung einer Verhandlungslösung zu machen. Die ersten Schritte lassen sich nur reglen, wenn klar ist, daß am Ende eine Friedenstruppe unter UN-Mandat in den Kosovo einrücken wird.

Angesichts der Notwendigkeit und der genannten Chancen, den Kosovo-Krieg durch Verhandlungen zu einer politischen Lösung zu führen, fordert die Bundesversammlung von Bündnis 90/Die Grünen die Bundesregierung auf, sich dafür einzusetzen, daß

- die NATO einseitig eine Unterbrechung der Luftangriffe auf Jugoslawien erklärt, mit dem Ziel, den Beginn des Rückzuges der serbischen Einheiten aus dem Kosovo und einen sofortigen überprüfbaren Waffenstillstand aller Seiten zu erreichen;

- nach Eintreten der Waffenruhe umgehend die Versorgung der Flüchtlinge im Kosovo aufgenommen wird;

- für beide Seiten akzeptable Vermittler Verhandlungen mit Jugoslawien auf der Basis des Friedensplans Joschka Fischers sowie Kofi Annans aufnehmen;

- in Zusammenarbeit mit der UNO entsprechend der Vereinbarung des G8-Außenminister-Treffens durch eine internationale Friedenstruppe unter Mandat der UNO die Rückkehr der Flüchtlinge gesichert wird; in einem Abkommen mit Jugoslawien muß auch Vorsorge getroffen werden, daß nicht m anderen Teilen der BR Jugoslawien (z.B. Vojvodina) eine Politik der ethnischen Vertreibung vorbereitet und praktiziert wird.

- der Einsatz von Bodentruppen weiterhin ausgeschlossen bleibt. Wir erwarten von der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen, daß sie rechtzeitig und mit allem Nachdruck einen interfraktionell getragenen Beschluß des Bundestages herbeiführt, der die Beteiligung deutscher Soldaten an einem Einsatz von Bodentruppen außerhalb einer Friedensmission der Vereinten Nationen definitiv ausschließt. Auch einen Bodenkrieg der NATO ohne direkte Teilnahme deutscher Truppen lehnen wir ab;

- bis zur Beendigung der militärischen NATO-Intervention keine völkerrechtswidrigen Waffen eingesetzt werden, auch keine mit abgereichertem Uran bestückte Munition;

- über das bisherige Kontingent hinaus Flüchtlinge in Deutschland aufgenommen werden;

- die anderen europäischen Staaten ihrerseits der humanitären Verpflichtung zur weiteren Aufnahme von Flüchtlingen nachkommen; - serbische Deserteure in Deutschland politisches Asyl erhalten; die demokratische Opposition in Serbien und im Exil zu unterstützen;

- im Rahmen der Familienhilfe und -zusammenführung die Aufnahme von zusätzlichen Flüchtlingen in Privatfamilien ermöglicht wird;

- eine internationale Balkankonferenz einberufen und etabliert wird, mit dem Ziel, einen Stabilitätspakt für den gesamten südosteuropäischen Raum zu erreichen.

 

Die Luftangriffe sofort beenden und mit der Logik der Kriegsführung brechen

Durch einen Waffenstillstand einer Verhandlungslösung eine neue Chance verschaffen

Im Kosovo führt das Milosevic-Regime einen brutalen Vertreibungskrieg gegen die große albanische Bevölkerungsmehrheit. Es wiederholen sich die Greueltaten des Krieges in Bosnien-Herzegowina, für die auch hier vor allem die serbische Regierung und ihre Handlanger die Verantwortung tragen. Der Anteil der UCK an der Entwicklung hin zum Krieg und an den Menschenrechtsverletzungen darf hierbei aber auch nicht verschwiegen werden. Bündnis 90/Die Grünen eint die Verurteilung der Verbrechen gegen die Menschenrechte, der Morde, Folterungen und Vergewaltigungen und der ethnisch begründeten Vertreibungspolitik. Uns eint der Wille, die Gewalt und hunderttausendfache Verletzung von Menschenrechten zu beenden. Uns eint der Einsatz dafür, Deutschland zu einem offenen Land für die Flüchtlinge aus der Region zu machen. Für uns alle steht die Notwendigkeit des politischen Handelns gegen das Milosevic-Regime außer Zweifel. Wir wenden ums gegen Parallelsetzungen der mörderischen Verbrechen des Milosevic-Regimes und dem Holocaust. Dies bedeutet eine unzulässige Relativierung des Nazifaschismus und des Völkermordes an den europäischen Juden. Verbale Voraussetzung für Friedenspolitik ist eine verbale Abrüstung. Niemand der sich für ein Ende der Bombardierung einsetzt, will wegsehen oder wäscht damit gar den "Faschismus" und Verbrechen weiß. Niemand, der in dieser Situation die Militärintervention als letztes Mittel erachtet hat, ist damit schon ein Kriegstreiber.

Menschenrechts- und Friedenspolitik sind nicht zu trennen

Die politische Öffentlichkeit in der ganzen europäischen Union ist an der Frage gespalten: Sind die Kriegshandlungen der NATO wirklich eine geeignete, verhältnismäßige und politisch verantworteter Antwort auf die Situation im Kosovo oder sind sie schädlich, unrechtmäßig und nicht geeignet, um die gesteckten politischen Ziele zu erreichen, so daß sie sofort eingestellt werden müssen? Die unterschiedlichen Konsequenzen aus den Grundsätzen von Gewaltfreiheit und Antifaschismus, zwischen antimilitärischer Friedenspolitik, Pazifismus, Durchsetzung von Menschenrechten und Demokratie gegen Diktatur und rassistischen Terror führt uns in dieser Situation in eine politische Zerreißprobe. Die von ums verfolgten Prinzipien des Gewaltverzichts und der Menschenrechte dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Wir wenden uns gegen eine Eskalationslogik, die behauptet: Wer politischen und wirtschaftlichen Druck ausübt sieht hilflos zu; wer bombardiert handelt. Wer erfolglos bombardiert sieht hilflos zu, nur wer Bodentruppen einsetzt handelt. Wer begrenzt Bodentruppen einsetzt sieht hilflos zu, nur wer in Belgrad einmarschiert und Milosevic stürzt handelt. So können wir dem politischen Dilemma, das aus der begrenzten Wirksamkeit des Handelns entsteht, keineswegs entkommen. Die rhetorische Eskalation, mit der die Menschenrechtsverletzungen die kriegerischen Handlungen begründen sollen, ist dazu geeignet, die grundsätzliche Absage an militärische Gewalt zunehmend zu relativieren. Eine undurchschaubare und selektive Informationspolitik trägt hierzu entscheidend bei.

Die Darstellung der Greuel des Krieges darf nicht verhindern, auch eine realistische Bestimmung der Interessen vorzunehmen und die Spielräume für nichtmilitärische Konfliktlösungen immer wieder neu auszuloten. Wer die gegenwärtige Politik von vornherein als alternativlos darstellt, verliert jede Zukunftsfähigkeit. Jede Chance für ein Ende der militärischen Gewalt muß genutzt werden. Aber nicht nur die politische Öffentlichkeit ist an der Frage des "richtigen" Weges gespalten, auch wir als Partei sind es. Die Mehrheit der bündnisgrünen Bundestagsfraktion und auch viele Mitglieder der bündnisgrünen Partei haben die Luftangriffe der NATO trotz eigener massiver Bedenken toleriert oder unterstützt, andere stellten sich von Anfang an dagegen. Viele BefürworterInnen unterstützten die Bombenangriffe trotz der prinzipiellen Zielsetzung der Zivilisierung der Außenpolitik und trotz der grundsätzlichen Absage an militärische Gewalt in unserem "Grundkonsens" und im Wahlprogramm 1998, weil sie der Ansicht waren, den Schutz der Menschenrechte der AlbanerInnen im Kosovo nur noch durch diese militärischen Mittel garantieren zu können. Viele fühlten sich dazu gezwungen in einer Situation, die dadurch charakterisiert war, daß allein die Bombenangriffe durch fast alle westlichen Staaten massiv unterstützt wurden, während zivile Methoden wie ein Ölembargo und Strategien der wirtschaftlichen und politischen Integration der Balkanstaaten sowie die Unterstützung der Opposition über Jahre hin keineswegs mit einem auch nur entfernt vergleichbaren Einsatz an Mitteln verfolgt wurden. Wären die Westmächte in den letzten Jahren in ihrer zivilen Jugoslawienpolitik bis hin zum Embargo so einig gewesen wie sie es jetzt in diesem Krieg sind, sähe die politische Situation in der Region mit Sicherheit ganz anders aus.

Zu den Fehlem der letzten Jahre gehören auch die mangelnde Unterstützung der serbischen Opposition und die halbherzigen Gespräche Europas mit Rugova, dem Vertreter der kosovo-albanischen Mehrheit. Die von grüner Seite aus kontinuierlich geführten Gespräche und die geleistete Unterstützung konnten die Fehler Europas natürlich nicht auffangen. Die Zuspitzung des Kosovo-Konfliktes steht aber auch in Verbindung mit dem Versäumnis, die zivilgesellschaftlichen Strukturen und Ansätze der Demokratisierung in der gesamten Region zu stärken. Eine dauerhafte Friedenslösung hängt nicht nur von einem Friedensabkommen auf der staatlichen Ebene ab, deshalb muß bündnisgrüne Außenpolitik die gesellschaftlichen Grundlagen für eine Verständigung fördern. Sie muß vor allem aber deutlich machen, wie den Menschenrechten in Zukunft mit Mitteln der Konfliktprävention, der zivilen Konfliktbearbeitung und -konfliktlösung Geltung verschafft werden kann. Wir fordern die Bundesregierung auf, daß sie aus dem Verteidigungshaushalt erhebliche Mittel dafür zur Verfügung stellt. Es geht darum, den zivilen Alternativen zu "Militärschlägen" gesellschaftliche Anerkennung sowie Umsetzungsmöglichkeiten zu verschaffen. Die UNO und ihr Gewaltmonopol sind schwer beschädigt worden.

Die neue NATO-Strategie mit ihrem erweiterten Sicherheitsbegriff und der Erklärung, künftig in "Ausnahmefällen" auch ohne UN-Mandat eingreifen zu wollen, verstärken den Eindruck, die NATO wolle sich selbst an die Stelle der UNO setzten. Das Vorgehen der NATO im Kosovo erscheint dafür als vorweggenommener Präzedenzfall. In allen Mitgliedstaaten der NATO ist die Entwicklung und materielle Ausstattung von zivilen Mitteln zur Konfliktprävention und Konfliktlösung absolut unterentwickelt. Ein unerträglich großer - und im Rahmen der neuen NATO-Strategie in Zukunft wieder steigender - Anteil der Ressourcen der westlichen Gesellschaften wird immer noch für Militär verwendet. Hier sind grundlegende Änderungen nötig. Wir fordern die Bundesregierung auf, sich entsprechend der Ankündigung im Koalitionsvertrag für die Stärkung der Mechanismen der Krisenprävention und zivilen Konfliktbearbeitung im Rahmen der UN, der OSZE und der EU einzusetzen. Es müssen überzeugende Vorschläge für einen Beitrag der deutschen Außenpolitik hierfür gemacht werden. Das betrifft die Stärkung des Instrumentariums ziviler Sanktionen - wie Boykotte und Embargos durch einen Unterstützungsfonds für die jeweils benachbarten Staaten. Das betrifft aber auch die Einrichtung eines effektiven Frühwarnsystems, von Dialogforen und die Unterstützung der Arbeit von Friedensfachkräften in Konfliktregionen durch die Bundesregierung.

Außenpolitik ist immer auch Interessenpolitik. Dies kann auch die Orientierung an der Durchsetzung der Menschenrechte nicht leugnen. Gerade deshalb ist das Völkerrecht als Grundlage der internationalen Politik unabdingbar. Das Vorgehen der NATO rüttelt an seinen Grundtesten, weil die Luftangriffe ohne UN-Mandat gegen das Gewaltverbot - den entscheidenden Fortschritt in diesem Jahrhundert - verstoßen. Dieses zeigt und forciert auch eine Schwächung der Vereinten Nationen. Es gefährdet auch die Ausbildung und Durchsetzung des humanitären Völkerrechts, denn dies kann sich nur auf der Grundlage der Satzung der Vereinten Nationen und ihres Entscheidungsmonopols entwickeln. Das Fehlen einer völkerrechtlichen Grundlage für eine Intervention läßt sich durch eine moralisch legitimierte Nothilfeargumentation nicht heilen, da damit Ausnahmen und willkürlichen Interpretationen durch andere Staaten Tür und Tor geöffnet und so durch die NATO-Strategie ein gefährlicher Präzedenzfall geschaffen wird. Politisch bedeutet der Verzicht auf eine völkerrechtliche Absicherung schließlich eine völlig neue kontraproduktive Brüskierung und Ausgrenzung Rußlands.

Die Strategie der NATO ist gescheitert gegen die militärische Logik politisch initiativ werden

Seit dem 24. März bombardieren NATO-Einheiten militärische und zivile Ziele in ganz Jugoslawien mit der erklärten Absicht, ein Friedensabkommen zwischen Repräsentanten der kosovo-albanischen Mehrheit und der jugoslawischen Regierung zu erzwingen und so die jahrelange Unterdrückung der Albaner zu beenden, die begonnenen Vertreibungsaktionen zu unterbinden und eine Autonomieregelung durchzusetzen. Mit größerer Verhandlungsbereitschaft hätte der jugoslawische Präsident Milosevic die Luftangriffe stoppen können. Trotz der Bombardierung mußte die NATO hilflos zu sehen, wie Milosevic statt dessen die Vertreibungsaktionen zu einem ungeheuren Vertreibungsfeldzug gegen die kosovarische Zivilbevölkerung eskaliert hat, ohne daß die Bomben der NATO dies verhindern konnten. Die Militäraktionen der NATO gehen weiter. Ein Ende ist nicht in Sicht. Das Risiko der Eskalation und Ausweitung wächst. Seit Wochen wird immer wieder über den Einsatz von Bodentruppen diskutiert. Der Ausstieg aus der Militärspirale wird immer schwieriger und die Kriegsziele immer undeutlicher. Mit jedem weiteren Kriegstag schreitet neben der Zerstörung der Infrastruktur, des Landes und der Umwelt auch die Zerstörung der zivilen Versöhnungsgrundlage weiter fort. Mit jedem weiteren zivilen Opfer werden die Gräben größer.

Es ist höchste Zeit, nach über sieben Wochen Bombenkrieg - ohne Besserwisserei und moralisierenden Vorwürfen - Bilanz zu ziehen:

- Die humanitäre Katastrophe konnte nicht verhindert werden. Der serbische Vertreibungsterror nahm unvorstellbare Ausmaße an.

- Milosevic konnte nicht zur Unterzeichnung des Rambouillet-Friedensabkommens gezwungen werden. Der Vertrag in seiner ursprünglichen Form ist obsolet.

- Die serbische Zivilgesellschaft wurde weitgehend zerstört. Die Aktivitäten der friedensbereiten Kräfte und Nichtregierungsorganisationen auf dem Gebiet der Demokratisierung und für eine Wiederherstellung der Autonomie des Kosovo sind unterlaufen und alle bisherigen Initiativen im Bereich der Verständigung zwischen SerbInnen und Kosovo-AlbanerInnen zum Erliegen gekommen.

- Die innenpolitische Stellung des Milosevic-Regimes und die extrem nationalistischen Kräfte sowohl auf serbischer wie auf kosovo-albanischer Seite wurde bislang durch den Krieg eher gestärkt. Nicht klar st bisher, inwieweit seine militärische Macht geschwächt wurde.

- Die derzeitige Militärintervention hat gravierende, negative Auswirkungen für den fragilen Friedensprozeß in Bosnien-Herzegowina. Das politische Zusammenwachsen der beiden Landesteile (bosniakisch-kroatische Föderation und serbische Republik), das in den vergangenen Monaten ohnehin starken Belastungsproben ausgesetzt war, wird nun zusätzlich erschwert. Die im Zuge der Bombardierung Jugoslawiens um sich greifende antiwestliche Stimmung wird die Zusammenarbeit bei der Flüchtlingsrückführung gerade in die Republika Srpska erheblich erschweren.

- Montenegro, Mazedonien und Albanien sind tiefgreifend destabilisiert worden.

- Die Beziehungen zu Rußland befinden sich in einer großen Krise; in der russischen Gesellschaft sind Tendenzen zur Solidarisierung mir Milosevic zu beobachten. - Das völkerrechtliche Legitimationsdefizit der Luftangriffe droht dauerhaft das System internationaler Organisationen und die völkerrechtliche Ordnung zu gefährden.

- UNO und OSZE werden weiter politisch marginalisiert.

- Von der Begrenzung der Luftangriffe auf ausschließlich militärische Ziele kann in der Realität keine Rede sein. Gezielt werden auch Brücken, Kraftwerke, Sender, Fabriken zerstört. Es wurden auch ein vollbesetzter Eisenbahnzug, ein Flüchtlingstreck, Wohnviertel und sogar zivile Gebäude in Bulgarien getroffen. Die zivilen Opfer der Luftangriffe, die ökologischen und materiellen Schäden nehmen ein immer größeres Ausmaß an.

Die Menschenrechtsverletzung durch diese militärische Gewalt wird immer gravierender. Die Befürchtung, daß der Militäreinsatz die Massenvertreibungen, Morde und Menschenrechtsverletzungen im Kosovo nicht verhindern kann und zu einer Eskalationsspirale führt, haben sich weitgehend bestätigt. Die Hoffnung, daß "gezielte Luftschläge" schnell eine positive Lösung erzwingen, haben sich nicht erfüllt. Die Rede vom Krieg als "ultima ratio" hat die Hoffnung geweckt, das letzte Mittel sei auch immer effektiv - könnte Menschenrechte schützen und die Vertreibungen verhindern -, es müßte nur konsequent und lange genug angewendet werden. Diese Hoffnung hat sich, selbst nach über 15000 Luftangriffen, nicht erfüllt. Das Scheitern der militärischen Strategie der NATO im Kosovo zeigt, daß dies ein Irrtum ist.

Die Dominanz der militärischen Logik führt auf die schiefe Ebene der Eskalation. Sieg oder Kapitulation - diese Alternative steht nun militärisch im Raum. Das Ziel eines militärischen Sieges bedeutet jetzt den Strategiewechsel zum umfassenden Bodenkrieg in Verbindung mit der Dauerbombardierung der gesamten jugoslawischen Infrastruktur. Die politische Autorität und das Ansehen des größten Militärbündnisses der Welt steht plötzlich auf dem Spiel und droht zu einem zentralen Motiv der Kriegführung zu werden. In dieser Situation gilt es, politische Verantwortung zu zeigen und die Logik der Kriegführung politisch zu brechen. Wir müssen aus der militärischen Eskalationsspirale aussteigen. Dies macht eine definitive Absage an den Einsatz von Bodentruppen ebenso notwendig wie die sofortige Beendigung der Bombenangriffe. Wir verkennen nicht die Schwierigkeiten, dies in der Bundesregierung und in der NATO durchzusetzen. Wir sehen unsere Aufgabe als Partei darin, politischen und gesellschaftlichen Druck für den Ausstieg aus der Eskalationsspirale zu organisieren. Wir begrüßen jeden politischen Schritt in diese Richtung.

Nur einseitige Schritte können die gegenwärtige Eskalationsdynamik durchbrechen. Diese Schritte richten sich nicht nur an Milosevic, die Politik der Vertreibungen zu beenden und an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Sie sollen gleichzeitig das internationale Umfeld beeinflussen, die Rolle Rußlands und anderer Länder sowie der Vereinten Nationen als Vermittler stärken, den Schlüssel für Vermittlungen und Lösung an die Vereinten Nationen zurückzugeben und die serbische Bevölkerung aus dem Druck zur Solidarisierung befreien. Einseitige Schritte erleichtern auch die Zurücknahme der politischen und psychologischen Feindbilder. Angebote des gemeinsamen Wiederaufbaus und gemeinsamer politischer und gesellschaftlicher Strukturen, die sich nicht an den ethnischen Identitäten orientieren, können dabei den langfristigen gesellschaftlichen Versöhnungsprozeß vorbereiten. Den Nicht-Regierungsorganisationen und zivilgesellschaftlichen Akteuren hierbei wieder Handlungsmöglichkeiten zu eröffnen, ist unerläßlich. Ein wichtiger Bereich, in dem bundesdeutsche Außenpolitik zur Stärkung zivilgesellschaftlicher Strukturen in Konfliktregionen beitragen kann, ist die Entsendung von Personal zur Unterstützung solcher Transformationsprozesse.

Ein Weg für einen dauerhaften Frieden besteht darin, in Konfliktregionen sogenannte "peace constituencies" zu schaffen, Friedensallianzen aus einer Vielfalt an zivilgesellschaftlichen Akteuren (aus der Gewerkschaftswelt, aus Berufsverbänden, Kirchen, Medien, privaten Bürgerinitiativen, Erziehungs- sowie Ausbildungseinrichtungen sowie Nichtregierungsorganisationen), die gegen Gewaltkulturen arbeiten und sich am Aufbau von Mechanismen zur friedlichen Konfliktbearbeitung beteiligen. Ausländische Fachkräfte können diesen Prozeß maßgeblich unterstützen. Die zivilgesellschaftlichen Ansätze für Entfremdung zwischen den verfeindeten Lagern und Initiativen grenzüberschreitender Verständigung sind mit nationalen Mitteln und solchen aus der europäischen Union zu unterstützen. Dies gilt insbesondere für Nichtregierungsorganisationen, die sich bei der Wiedereingliederung von Flüchtlingen engagieren. Eine langfristige Friedenskonsolidierung erfordert darüber hinaus Anreize zur Entmilitarisierung der Region (Programme zur Reintegration ehemaliger Kämpfer, Anreize zur Entwaffnung, Minenräumung).

Wichtig für eine effektive und völkerrechtlich legitimierte Politik der zivilen Konfliktbearbeitung und der Friedenssicherung ist eine umfassende Reform der Vereinten Nationen und ein Ausbau der OSZE. Die Beschlüsse der Generalversammlung müssen ausgewertet werden. Der Sicherheitsrat, Exekutivorgan der Generalversammlung, muß alle Regionen angemessen repräsentieren. Seine Entscheidungsstrukturen müssen so reformiert werden, daß die Möglichkeit eines Veto eingeschränkt und durch eine völkerrechtliche Begründumgspflicht seine Handlungsmöglichkeiten ausgeweitet werden. Der Internationale Gerichtshof muß in seinen Möglichkeiten gestärkt werden. Die Wirkung von Sanktionen muß dadurch effektiviert werden, daß ein UN-Sanktionshilfefonds Schäden erstattet, die aus der Beteiligung an Sanktionen entstehen.

Durch einen Stopp der Bombardierung die Eskalationsspirale durchbrechen - den Flüchtlingen im Kosovo helfen

Die Maßstäbe für einen Waffenstillstand und für ein Friedensabkommen müssen getrennt werden, damit ein Waffenstillstand nicht durch die Uneinigkeit über ein Friedensabkommen blockiert wird. Insbesondere die Lage der über 150 000 im Kosovo umherirrenden Flüchtlinge macht einen schnellen Waffenstillstand zur Aufnahme von Versorgungsflügen zum humanitären Gebot. Wenn Hilfe nicht schnell geleistet werden kann, kommt es zu einer weiteren, fast unvorstellbaren humanitären Katastrophe. Trotz der Bombardierung müßte die NATO weiter hilflos zusehen. Ein Stopp der Bombardierung ermöglicht einen Waffenstillstand für die Durchführung von Versorgungsflügen. Nur ein Ende der Bombardierung eröffnet auch neuen politischen Spielraum für Verhandlungen über die Deeskalation des Konfliktes und ein Friedensabkommen.

Oberstes und erstes Ziel ist für Bündnis 90/Die Grünen das Ende der Vertreibung und die Hilfe für die Flüchtlinge. Wir begrüßen die Friedensinitiativen von Joschka Fischer und halten in der momentanen Situation folgende Schritte für notwendig: - Wir fordern die sofortige Beendigung der Bombardierungen, insbesondere auch um Verhandlungen über einen Waffenstillstand im Kosovo zu ermöglichen. - Wir fordern die sofortige Aufnahme von Versorgungslieferungen aus der Luft - wie vom Internationalen Roten Kreuz angeboten für die Flüchtlinge im Kosovo als allerersten Schritt im Zuge der unmittelbar aufzunehmenden Waffenstillstandsverhandlungen. - Wir lehnen den Einsatz von NATO-Bodentruppen ab. - Wir fordern den uneingeschränkten Zugang des UNHCR und des internationalen Roten Kreuzes und anderer Hilfsorganisationen für Hilfsleistungen im Kosovo. - Wir sprechen uns - nach einer entsprechenden Vereinbarung mit Zustimmung der Konfliktparteien - ausdrücklich für die Überwachung eines Waffenstillstandes durch internationale Truppen mit einem Mandat der Vereinten Nationen bzw. der OSZE aus. - Wir fordern die Aufnahme von Verhandlungen über die Umsetzung der Initiativen von Außenminister Fischer, der ukrainischen und russischen Regierung und des UN-Generalsekretärs Kofi Annan für eine dauerhafte Friedensregelung, die eine sichere Rückkehr der Vertriebenen ermöglicht.

Bis zu einem Ergebnis der Verhandlungen fordern wir die Aufrechterhaltung des wirtschaftlichen und politischen Drucks auf das Milosevic-Regimes durch Sanktionen oder andere geeignete Maßnahmen.

- Wir begrüßen ausdrücklich die Bemühungen der Bundesregierung um eine Balkankonferenz und einen Stabilitätspakt für Südosteuropa als Beginn eines umfassenden ökonomischen und politischen Wiederaufbauprogramms für die ganze Region.

- Wir fordern Asyl für alle jugoslawischen Deserteure, eine verstärkte Aufnahme von Flüchtlingen durch die Länder der EU, und wir fordern Bund und Länder auf, einseitig und schnell ohne Kontingentbegrenzung Vertriebene vorübergehend aufzunehmen.

- Wir fordern einen formellen Abschiebestopp für die gesamte Region, die sofortige Erteilung von Visa bei Vorliegen einer Einladung (Verpflichtungserklärung) und keine Zurückweisung an der Grenze. Die Bundesregierung muß dafür die Bedingungen für die Länder und Kommunen verbessern; die Landesregierungen sind in der Pflicht, alle Möglichkeiten zur Aufnahme von Flüchtlingen auszuschöpfen.

- Die Mittel und Maßnahmen für die Versorgung der Flüchtlinge in Albanien, Mazedonien und Montenegro müssen verstärkt werden.

- Wir fordern entsprechend der Ankündigung im Koalitionsvertrag eine Verstärkung der Initiativen zur zivilen Konfliktbearbeitung und -prävention. Das betrifft unter anderem den Aufbau eines funktionierenden Frühwarnsystems, das staatliches und gesellschaftliches ExpertInnenwissen verknüpft, die Unterstützung und Absicherung von einheimischen und deutschen Friedensfachkräften, die in Krisenregionen tätig sind.

- Wir fordern eine erhebliche Ausweitung der Haushaltsmittel für die materielle Absicherung und politische Unterstützung für Projekte des "peace-building" und für Nichtregierungsorganisationen in Krisengebieten. Die BDK beauftragt den Bundesvorstand und die MandatsträgerInnen von Bündnis 90/Die Grünen, sowohl im außerparlamentarischen Bereich wie auch in den Parlamenten, Regierungen, in der Europäischen Union und in der NATO diese Forderungen umzusetzen.

AntragstellerInnen: Roland Appel (KV Bonn), Norbert Doktor (KV Magdeburg), Friedrich Heilmann (KV Oder-Spree), Bärbel Höhn (KV Oberhausen), Sybill Klotz, Dietmar Lingemann, Barbara Oesterheld, Frank Schulz, Christian Ströbele (alle KV Berlin Kreuzberg), Steffi Lemke (KV Dessau), Martin Ottersmann (KV München-Nord), Urs Müller-Plantenberg, Pia Paust-Lassen (beide KV Berlin-Tiergarten), Lisa Paus (KV Berlin-Schöneberg), Claudia Roth (KV Augsburg), Frithjof Schmidt (KV Bochum), Barbara Steffens (KV Mülheim/Ruhr), Wilfried Telkämper (KV Freiburg), Sylvia Voß (KV Potsdam), Frieder O. Wolf (KV Berlin-Schöneberg) u.a.

Aktuelle Ausgabe September 2025

In der September-Ausgabe plädiert Lea Ypi für eine Migrationsdebatte im Sinne der Aufklärungsphilosophie. Cinzia Sciuto fordert, der zunehmenden Aushöhlung des Völkerrechts mit einer entschiedenen Verteidigung desselben zu begegnen – und nicht mit Resignation und falschem Realismus. Für Georg Diez markieren die Kriegsverbrechen in Gaza und die fehlenden Reaktionen darauf einen Epochenbruch; sie stünden für nicht weniger als den Verrat des Westens an der Humanität. Herfried Münkler analysiert, wie Kriege historisch endeten und Friedenszeiten begannen und was das mit Blick auf den Ukrainekrieg bedeutet. Simone Schlindwein deckt auf, wie Russland junge Afrikanerinnen mit falschen Versprechen für die Kriegswirtschaft rekrutiert. Warum die grüne Digitalisierung ein Mythos ist und was der KI-Boom den Globalen Süden kostet, erläutern Ingo Dachwitz und Sven Hilbig. Und Eva-Maria Klinkisch sowie Markus Rieger-Ladich zeigen auf, wie Long Covid-Betroffene von der Gesellschaft und dem Gesundheitssystem systematisch ignoriert werden – und was dagegen zu tun ist. 

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