Politik, verstanden als Herstellung von und Auseinandersetzung um kollektiv verbindliche Entscheidungen in einem Gemeinwesen, droht von der – im Kernbereich ihrer Funktionsweise überhaupt nicht „neuen“ – Weltökonomie unterworfen zu werden. Darin sind sich eher kritische Autoren wie Bourdieu, Guéhenno, Altvater, Roß durchaus mit den Ideologen des Turbokapitalismus wie Hank, Dornbusch, Sprenger, Straubhaar einig. Die Politik wird gezwungen, sich den „Gesetzen“ der kapitalistischen Ökonomie sehr viel direkter und strikter zu unterwerfen, als dies im Verhältnis von Ökonomie und bürgerlichem Staat seit je der Fall war. Dazu gehört u.a., den Staat zu „verschlanken“, ihn von sozialen Ansprüchen zu „entlasten“ und ihn wie eine Firma zu führen. Das kritisieren die einen, das fordern die anderen, aber die Entwicklungsrichtung selber wird sehr ähnlich beschrieben.
Bei dieser – keineswegs auf Deutschland beschränkten, aber z.B. in Frankreich von Intellektuellen und von Teilen der Regierungsmehrheit viel kritischer reflektierten – Tendenz zur Einschnürung der Politik droht Demokratie bzw. Volkssouveränität[1] als Gestaltungsprinzip eines Gemeinwesens gleich dreifach unter die Räder zu kommen: Erstens, wenn Politiker nichts mehr entscheiden, macht auch deren Auswahl durch das entscheidungsbetroffene Volk nicht mehr viel Sinn. Effektiver als öffentliche Wahlen wären dann wohl auch in der Firma Deutschland die in der übrigen Wirtschaft üblichen Personalauswahlmethoden für Führungskräfte, z.B. durch assessment centers. Schumpeters elitäre Demokratietheorie, die die Volkssouveränität auf die regelmäßige Bestellung regierungsbefugter Führer durch öffentliche Wahlen beschränkte, ging immerhin noch davon aus, dass die gewählten Führer relevante Entscheidungen treffen und dafür dann bei der nächsten Wahl auch belohnt oder bestraft werden, nicht aber dass sie sich um einen Job als Geschäftsführer der qua ökonomischer Position Mächtigen bewerben. Zweitens sind diejenigen Funktionen, die dem Staat noch übrig bleiben, ziemlich genau diejenigen, die ihn schon im 19. Jahrhundert auszeichneten: Absicherung gesellschaftlicher Ungleichheit durch Repression; Sicherung allgemeiner, u.a. infrastruktureller, Reproduktionsbedingungen für das Kapital – Funktionen eher eines autoritären als eines demokratischen Staats. Sofern er als Firma agiert, steht er zudem unter dem Zwang, auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig zu werden oder zu bleiben („Standort“). Das globale Kapital ist scheu und schnell flüchtig, die Finanzmärkte, zu Akteuren mythisiert, „bestrafen“ schnell und hart. Da muss oft rasch entschieden werden, und für diskursive, deliberative Demokratie fehlt die Zeit. Drittens leidet die Demokratiehoffnung darunter, dass sie auch auf den ihr mittlerweile von Kommunitaristen und Zivilgesellschaftstheoretikern angesichts der Misere der Staatspolitik angebotenen Ausweichfeldern – der Demokratisierung von gesellschaftlich mächtigen Organisationen oder der Kreation neuer Räume bürgerlichen Engagements, sofern es sich nicht ohnehin um Placebos für umfassende Demokratie handelt – auf dieselben Hindernisse stößt wie bei der Demokratisierung des Staates: Marktadäquat und standortfördernd sind eher Individualisierung und verschärfte Konkurrenz, nicht aber kollektive Teilhabe oder gemeinschaftliche Selbstorganisation.
Ist es heute also ein fast schon revolutionärer, jedenfalls aber ein demokratisch gebotener Akt, die Möglichkeit von Politik überhaupt zu verteidigen? Rot- Grün als Wahlprojekt jedenfalls weckte 1998 Hoffnungen, der politische Gestaltungsrahmen solle ausgedehnt werden. Es gab Massendemonstrationen für einen „Politikwechsel“. Zugleich aber ließ Kanzlerkandidat Schröder plakatieren, er wolle nicht alles anders, sonder einiges besser machen als Kohl. Es gelang, dem Wähler vorzugaukeln, es gebe keinen Gegensatz zwischen einer neoliberalen und einer sozialdemokratischen Wirtschafts-, Sozial- und Beschäftigungspolitik, keinen Gegensatz zwischen Schröder und Lafontaine. Die Wahlkampf- SPD von 1998 war eine besonders erfolgreiche, hybride Variante dessen, was Otto Kirchheimer als cach-all-party beschrieb. Als es aber ums Regieren ging, brach der Kampf zweier Linien sofort aus. Lafontaine boxte zunächst das Leichtgewicht Stollmann, Schröders parteilos-neoliberalen Unternehmer als Ministerkandidaten, weg, kein halbes Jahr später wurde er selber von Hombach und Schröder aus dem Weg geräumt. Sein Buch nach dem Abschied schrieb er „gegen den radikalen Kurswechsel der rot-grünen Koalition zum Neoliberalismus und gegen das Vom-Tisch-Nehmen der Wahlversprechen“.[2] Hat Lafontaine Recht?
Der Frage, ob und in welcher Weise die Schröder-Fischer-Regierung auf dem Wege ist, Politik abzuschaffen oder einzuschränken, soll im folgenden auf vier Ebenen der Regierungs-Performance nachgegangen werden: 1. ideologische Hegemonie, 2. sachpolitische, vor allem längerfristig wirksame Entscheidungen, 3. Politikstil und Strukturwandel im politischen System, 4. soziale und elektorale Verankerung der Regierungspolitik.
Ideologische Hegemonie
Seit Gramsci wissen wir, dass es hier nicht einfach um „Überbau“ geht, sondern um Formeln, unter denen sich politische Kräfte konzentrieren, um andere auszuschließen. Es kommt darauf an, was politisch außer Streit gestellt und was umstritten gemacht wird. Auf diesem Gebiet ist der Befund eindeutig: Durch die programmatische Rhetorik der Schröder-Fischer-Regierung ist seit der Ausbootung Lafontaines die ideologische Vorherrschaft von Neoliberalismus und nationalem Wettbewerbsstaat verstärkt und ausgeweitet worden. Einen Höhepunkt bildetete das Schröder-Blair-Papier vom Juni 1999 mit Sätzen wie: „Die Steuerungsfunktion von Märkten muß durch die Politik ergänzt und verbessert, nicht aber behindert werden.“[3] Außer Streit gestellt wird mit solchen und verwandten Formeln
- das strikte Primat der – globalisierten – kapitalistischen Ökonomie gegenüber dem staatlichen Handeln; - die These, der Staat und die Sozialversicherungen nähmen den Bürgern zuviel Geld aus der Tasche;
- die These, private Lösungen ökonomischer und auch sozialer Aufgaben seien prinzipiell staatlichen Lösungen vorzuziehen;
- die These, dass soziale Gerechtigkeit, als „Ergebnis-“ oder „Leistungsgerechtigkeit“, mit wachsender sozialer Ungleichheit vereinbar sei;
- die These, dass Arbeitslosigkeit im Kern durch Angebotspolitik, d.h. durch Anreize für Unternehmer (Deregulierung, Steuer- und Abgabensenkung) und nicht durch Arbeitsumverteilung, aktive Arbeitsmarktpolitik und öffentliche Beschäftigungsprogramme zu bekämpfen sei;
- die These, dass die Globalisierung dem gegenwärtigen Nationalstaat keine Chance lässt, als sich auf gnadenlose Konkurrenz im Standortwettbewerb einzulassen;
- ein Verständnis von „Reform“ und „Modernisierung“ ausschließlich als Anpassung an ökonomischen Wandel, Globalisierung, Flexibilisierung, Privatisierung, Deregulierung, Individualisierung, Verbesserung der Standortfaktoren.
Ob Krieg gegen Jugoslawien, Steuer- oder Rentenpolitik: Schröder, Eichel und Fischer wurden nicht müde, ihre jeweiligen Politiken als „alternativlos“ zu rechtfertigen. Auch der Mainstream in der Presse betonte immer wieder, dass die neue Regierung das fortführe, was Kohl&Co angefangen oder gewollt haben, es der Opposition also jetzt an inhaltlichen Alternativen mangle. Ohne Alternativen aber gibt es keine Politik. Wäre mithin die These, dass diese Regierung einen großen Schritt zur Abdankung der Politik gegenüber der Ökonomie getan hat, und zwar nicht notgedrungen, sondern mit voller Absicht, schon bewiesen? – Wohl nicht ganz.
Denn das Außerstreitstellen neoliberaler Dogmen bedeutet notwendig, dass Teile des bisher von allen getragenen politisch-gesellschaftlichen Basiskonsenses der Bundesrepublik Deutschland in Frage und in Streit gestellt werden. Dabei geht es nicht nur um Überzeugungen, sondern auch um deren Materialisierung in Institutionen: etwa des Sozialstaats in Form einer staatlichen Verpflichtung zur Korrektur der Marktergebnisse, zur Gewährleistung kollektiver Rechte der Arbeitnehmer und zur Sicherung eines menschenwürdigen Lebens für Arme. Konkret geht es zum Beispiel um Ansprüche auf Sozialleistungen, das Paritätsprinzip in den Sozialversicherungen, die Mitbestimmungsrechte in Betrieben und Unternehmen, die Tarifautonomie, den Kündigungsschutz und harte Quotierungen zur Frauengleichstellung. Vergleichbar institutionalisierte Konsense sind auch von der Umweltbewegung und den Grünen in den letzten beiden Jahrzehnten erstritten worden; auch sie stellen sich als staatliche Regulierungskompetenzen, Genehmigungpflichtigkeiten und Ansprüche auf Betroffenenbeteiligung einem Programm für Entstaatlichung, Deregulierung und mehr Unternehmerfreiheit entgegen.
Wer als Regierung ein solches Programm verfolgt, hat etablierte Institutionen abzuschaffen oder zu verändern. Und dabei gibt es selbstverständlich Spielräume für Alternativen zwischen harten und weichen, schnellen und langsamen, konsensualen und direktiven, (de-)regulativen und distributiven Politikmöglichkeiten, selbst wenn die Richtung erfolgreich als alternativlos vermarktet wird. Politik als Streit um Alternativen des Staatshandelns findet also weiterhin statt. Gleichwohl sieht dieser Streit unter einer von der Regierung beförderten und akzeptierten ideologischen Hegemonie des Neoliberalismus (samt Standortnationalismus) anders aus als zuvor.
Sachpolitische, vor allem langfristig wirksame Entscheidungen
Die ersten vier Monate nach dem Regierungswechsel 1998 waren eher untypisch. Da wurden einige Wahlversprechen gegenüber der „Politikwechsel“-Klientel realisiert (z.B. Rücknahme von Verschlechterungen bei Lohnfortzahlung und Kündigungsschutz in Kleinbetrieben, Stopfen von Steuerschlupflöchern) sowie ein sehr maßvoller Einstieg in die Öko-Steuer in Angriff genommen. Trittin durfte den Atomkonzernen mit gesetzlichem Zwang drohen und Lafontaine der Bundesbank bzw. der EZB mit Hinweisen auf deren gesamtpolitische Verantwortlichkeit. Am Tag aber, nachdem Schröder im Kabinett verkündete und nach außen verlauten ließ, eine Politik gegen die Wirtschaft sei mit ihm nicht zu machen, trat Lafontaine zurück.
Seither gibt es keine Politik der Regierung mehr, die auch nur in einem wesentlichen Detail den Interessen der großen Unternehmensverbände oder den Interessen einzelner Großunternehmen zuwiderläuft. Vielmehr wird das Bündnis mit dem Kapital oder dessen Zustimmung auch in Fragen gesucht, bei denen frühere Regierungen (und erst Recht sozialdemokatische und grüne Parteien) politisch-moralische oder demokratisch-grundrechtliche Gesichtspunkte als vorrangig erachtet hätten, etwa bei der schäbigen Abfindungsregelung der Opfer von NS-Zwangsarbeit, deren Aushandlung allein vom Ziel der Verteidigung der deutschen Wirtschaft gegen einklagbare Ansprüche der Opfer bestimmt war. Oder bei den Stellungnahmen zum Rechtsradikalismus, die den Schaden für die deutsche Wirtschaft als Hauptargument gegen Gewalt und Mord an fremdartig aussehenden Menschen hervorheben.
Auch die Einwanderungspolitik war um Wirtschaftskonformität bemüht. Sie gewann an Schwung, wenn sie sich, wie bei der Green-Card-Debatte dieses Jahres, mit dem Arbeitgeberinteresse an – Ausbildungskosten eingerechnet – billiger Import-Arbeitskraft verbinden konnte. Dagegen hatte das Einbürgerungsgesetz von 1999 solche Rückendeckung nicht. Damals ging es im wesentlichen um mehr Rechte für hier schon lebende ausländische Arbeitskräfte, einschließlich der doppelten Staatsbürgerschaft. Die Regierung knickte nach dem Verlust der Hessen-Wahl im Februar 1999 sofort ein, angeführt übrigens von Lafontaine.
Bei kurzfristigen und medienwirksamen Aktionen erlaubte der Chef sich schon einmal augenzwinkernd populistische Verstöße gegen neoliberale Glaubenssätze: Holzmann wurde in kurzem Direktdurchgriff des Retterkanzlers auf Staatskosten vor dem Konkurs bewahrt (und ganz nebenbei die Geltung von Tarifverträgen demonstrativ durchlöchert); Mannesmanns Übernahme durch Vodafone hat Gerhard Schröder mit nationalistischen Tönen kritisiert, aber nicht verhindert. Symbolische Politik, die wenig kostet.
Bei langfristigen Entscheidungen hielt sich die Schröder-Fischer-Regierung dagegen strikt an den ihr von Kapitalinteressen gesetzten Rahmen und tat dabei im vorauseilenden Gehorsam manchmal sogar mehr, als von ihr erwartet wurde. Dass Veräußerungsgewinne an Unternehmensbeteiligungen, wie von Eichel und Schröder in der Steuer„reform“ 2000 durchgesetzt, vollständig steuerfrei bleiben sollten, hatten selbst die interessierten Verbände und Unternehmen in dieser Radikalität vorher gar nicht gefordert.
Die beiden Langfristprogramme, Umbau des Steuersystems und Neuordnung der Rentenversicherung, sind strikte Umsetzungen der neoliberalen Ideologie von Entstaatlichung und Entkollektivierung. Die Steuerreform bringt Steuersenkungen für alle, insbesondere auch für Besserverdienende und Unternehmen, lädt zum Aufmischen der Eigentumsstrukturen in der Wirtschaft nach Shareholder- Interessen ein und führt zu langfristigem Spar- und Kürzungszwang bei öffentlichen Aufgaben: Öffentliche Armut als Dauerstress. Diese „Reform“ erhöht kurzfristig die Nettoeinkommen auch der Beschäftigten, aber sie hält die auf staatliche Transferleistungen und Infrastrukturen Angewiesenen weiterhin knapp. SozialhilfeempfängerInnen, Arbeitslose, RentnerInnen, Studiernde – aber auch Beamte und Angestellte im öffentlichen Dienst sind die Verlierer. Ziemlich viele Menschen, deren Kaufkraft sinkt.
Die Wirkung des neoliberalen Dogmas zeigt sich besonders markant in der aktuellen Debatte um die Verwendung der durch die Auktion von UMTS-Lizenzen in die Staatskasse gespülten 100 Milliarden Mark. Dieser bemerkenswert hohe Beitrag des privaten Kapitals zu den öffentlichen Kassen, dessen Volumen alle vorangegangenen politischen Streitigkeiten über Steuer- und Ausgabenpolitik im Nachhinein als peanuts erscheinen lässt, wird völlig antipolitisch nach dem Brüningschen Prinzip Staat=Privathaushalt verplant: alles für die Entschuldung des Bundeshaushalts – wobei den neugläubigen Neoliberalen bei den Grünen sogar 100 Milliarden nicht reichen, es müssen 101 Milliarden sein – , nichts zusätzlich für öffentliche Aufgaben wie Infrastruktur, Sanierung des Schienensystems der Bahn, Bildung/Ausbildung, öffentliche Beschäftigungsprojekte zu Umweltschutz und -verbesserung. Herbert Ehrenberg, der unerschrockene Alt-Keynesianer und einstmals rechte Sozialdemokrat, der ohne Positionsänderung allein durch die Verschiebung seines Umfeldes zum Linken geworden ist, wird mit seinem Vorschlag, 60 der 100 Milliarden für solche Zwecke einzusetzen, nicht einmal gehört.
Außerdem kam niemand, mit Ausnahme von Satirikern, darauf zu fragen, ob sich solche staatlichen Einnahmequellen angesichts der weiterhin bestehenden Unterfinanzierung öffentlicher Aufgaben nicht vielleicht systematisch und planmäßig auftun lassen. Wenn die Unternehmen und die Reichen sich der nationalen Besteuerung durch Standortflucht entziehen, kann ihnen dann nicht erfolgreich eine Gegenrechnung in Form von Lizenzrechten für ihre profitablen Aktivitäten auf den Territorien der Nationalstaaten präsentiert werden? Wie stehen die Chancen für ein Kartell der zu Marktteilnehmern degradierten nationalstaatlichen Standortkonkurrenten in dieser Frage? – Die Regierung und ihr massenmediales Unterstützerpotential haben es geschafft, solche Fragen außer Streit zu stellen. Das ist ein Beitrag zur Entpolitisierung der staatlichen Einnahmen- und Ausgabenpolitik. Und die Begründung, ein entschuldeter Staat habe mehr Handlungsspielraum, erweist sich als Schutzbehauptung[4].
In der Rentenpolitik ist die langfristige Umpolung auf Kapitalinteressen noch eindeutiger: Es soll, möglichst im Konsens mit der CDU/CSU, die dagegen ja auch prinzipiell nichts hat, eine neue „Säule“ in das Alterssicherungssystem eingebaut werden, nämlich die „Kapitaldeckung“, also im Prinzip die private Lebensversicherung. Die durch Beiträge und staatliche Zuzahlungen (zuletzt 100 Mrd. jährlich) gesicherte Rente dagegen soll für künftige Rentner auf ein Niveau gesenkt werden, das eine Wahrung des Lebensstandards nicht mehr zulässt.
Es ist eine gigantische Umverteilung von unten nach oben: Die Arbeitgeber müssen für den standardisierenden „Kapitaldeckungs-“Zusatz zur Alterssicherung keinen paritätischen Beitragsanteil mehr zahlen. Zugleich werden Arbeitnehmer zur Alterssicherung auf Pensionsfonds verwiesen, die, wie das US-Beispiel zeigt, die krassesten Agenten von Shareholder Value und Arbeitsplatzvernichtung sind. Das Ganze begründet man mit der Notwendigkeit der Lohnkostensenkung für die – angeblich allein arbeitsplatzschaffenden – Unternehmer.
Alternativen wie die der Gewerkschaft BAU, die eine Finanzierung der Renten durch alle Beschäftigten und eine Umpolung der Sozialabgaben von Arbeit auf Wertschöpfung vorsehen, werden ebensowenig zur Kenntnis genommen wie die Frage, weshalb ein Beitragssatz unter 20% für die Rente als Naturgesetz gelten soll. Rudolf Dressler hat in seiner Abschiedsrede als Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen der SPD daran erinnert, dass 1989 ein parteiübergreifender Konsens bestand, einen Beitragssatz von 26% (Arbeitgeber und Arbeitnehmer also je 13%) in der Altersversicherung im Jahre 2020 für ökonomisch verkraftbar und politisch tragbar zu halten.[5] – Wir sind keineswegs an eine objektive Belastungsgrenze gestoßen, aber die Problemwahrnehmung der sozialen Frage durch die Gesellschaft und durch ihre meinungsbildenden Politiker und medialen Dogmenproduzenten hat sich geändert. Was eine Gesellschaft für die Bezahlung des arbeitslosen Einkommens der ökonomisch Schwachen, etwa Rentner, Kranke, Arbeitslose, Großfamilien, ImmigrantInnen, aufwenden will, ist eine politische Frage, die danach entschieden wird, wieviel arbeitsloses Einkommen der ökonomisch Starken, vor allem der Kapitalbesitzer, für legitim und deshalb steuer- und abgabenfrei gehalten wird. Die Regierung hat sich in der Rentenfrage entschieden, langfristig das arbeitslose Einkommen der Schwachen zu vermindern, ein Ungleichheitsimpuls, der durch die geplanten Subventionen für die private Altersvorsorge unterer Einkommen nur gemildert, aber nicht kompensiert wird.
Es gibt also nicht viel Widerspruch zwischen programmatischer Theorie und langfristiger Praxis bei der Schröder-Fischer-Regierung. Wir haben es schon mit einem sozialdarwinistischen politischen Projekt zu tun, dessen Einzelmaßnahmen in sich stimmig sind. Diese Regierung hat die Ablösung von den Traditionen des „rheinischen Kapitalismus“ und des keynesianischen Wohlfahrtsstaates ein gutes Stück vorangebracht. Sie konnte Projekte durchsetzen, zu denen die Vorgängerregierung wegen des Widerstands von links (Gewerkschaften, politisch-soziale Bewegungen, Teile der SPD-geführten Landesregierungen) nicht in der Lage war. Sie vermag diesen Widerstand einzubinden oder zu neutralisieren, ohne ihm substantielle Konzessionen zu machen. Kein Wunder, dass die Unternehmerverbände im Sommer 2000 mit der rot-grünen Leistung hoch zufrieden waren und im Streit um die Steuern die CDU zum Einschwenken auf Regierungskurs drängten.[6] Politikstil und Strukturwandel um politischen System Bekannt und oft beschrieben worden ist, dass Gerhard Schröder sich in der Art seiner Medienauftritte, seiner Telegenität, seines Medienmanagements, seiner engen Verbindungen zu Journalisten, ganz grundlegend von seinem Vorgänger Helmut Kohl unterscheidet. Das Beispiel hat vermutlich strukturbildende Wirkung. Political Communication, womit im wesentlichen die Fähigkeit von Politikern, sich der Massenmedien zu bedienen, gemeint ist, hat nun auch in Deutschland als Gewerbe und praxisnaher Unterzweig der Politologie erheblich zugelegt. Spin doctors als Ingenieure dieser Art von – komplett einseitiger – Kommunikation werden zu entscheidenden Politikformulierern. Medien und Messages werden ununterscheidbar, wie es sich beim Schröder-Blair-Hombach- Mandelson-Papier besonders deutlich zeigte: Ob es mehr auf die Botschaft oder mehr auf den Inhalt ankäme, darüber durften sich alle Interpreten trefflich streiten.
Oberflächlich und kurzschlüssig wäre es aber, von einer „Mediokratie“ in dem einfachen Sinne zu reden, dass künftig alle Spitzenpolitiker eben bestimm- te Show- und Entertainer-Talente (bzw. guten Kontakt zu entsprechenden Trainern und Regisseuren) haben müssten (weshalb z.B. der auf diesem Gebiet so mitleiderregend talentlose Rudolf Scharping von Natur aus keine Chance habe). Wie die Beispiele showbegabter Verlierer politischer Ausscheidungskämpfe, z. B. Oskar Lafontaine oder Thomas Ebermann, zeigen, kommt es nicht nur auf Talent, sondern auch auf die den Medienunternehmern konforme Richtung an. Mediokratie bedeutet nichts anderes als das schon beschriebene Primat der Kapitalinteressen, zumal seit der Förderung des Privatfernsehens unter der Ägide von Helmut Kohl und Peter Glotz.
Als Struktureffekt bleibt eine Personalisierung und Entsubstantialisierung der Politik und ein vermutlich dauerhafter und auch direkt nutzbarer Machtzuwachs des Medienkapitals (siehe Berlusconi). Das mindert die Bedeutung der klassischen und gewachsenen Parteien. Wahlmaschinen können medial und mit viel Geld sehr rasch auf die Beine gestellt werden (Ross Perrot in den USA, Berlusconi in Italien und Gerhard Frey mit seiner DVU in der Bundesrepublik). Die SPD ist zwar auch unter Schröder eine Mitglieder- und Programmpartei geblieben – aber die Kommunikation mit den Mitgliedern, unter anderem über die programmatische Richtung, findet zunehmend stärker über den massenmedialen Direktkontakt und weniger über diskursiv angelegte Willensbildungsstränge der Partei statt. Dasselbe gilt für die Grünen. Gleichwohl sind die Organisationen beider Parteien nicht einfach aus- oder gleichgeschaltet. Sie werden für die Wahlkämpfe als Mobiliserungsagenturen auch weiterhin benötigt, wie sich in den Landtagswahlkämpfen von 1999 besonders klar zeigte. Und die Debatte um ein neues Grundsatzprogramm der SPD verläuft bislang in sehr herkömmlichen Bahnen.
Mindestens ebenso wichtig wie der Machtzuwachs der Medien ist der in den zwei Jahren Schröder-Fischer-Regierung eingetretene, ja herbeigeführte Bedeutungs- und Machtverlust des Parlaments. Die „Kanzlerdemokratie“: Kaum je in der Geschichte der Bundesrepublik hat ein Regierungschef sie so vollendet praktiziert. „Machtworte“ des Kanzlers wurden öffentlich verlangt und dann auch gesprochen, solange, bis man dem Herrn dieser Worte deren Inflationierung als Zeichen von Führungsschwäche auslegte. Die Verfassungsordnung, nach der das Parlament und nicht der Kanzler die gesetzgebende Gewalt ist, geriet dabei in Vergessenheit und faktisch außer Kraft. Gleichwohl könnte es sein, dass der Machtverlust auch der Regierungsfraktionen – bei den Grünen funktioniert das ja nach demselben Muster: Regierungsstützen ist oberstes Prinzip –, eher ein ephemerer und personenbedingter als ein struktureller Effekt ist.
Gilt dasselbe für die Etablierung einer weiteren, im Prinzip das Parlament umgehenden, korporatistischen Regulierungsinstanz, für das „Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit“? Hier bemühte man sich sehr um Strukturbildung. Eine ganze Bürokratie, das heißt „ein Netzwerk“ aus Steuerungs-, Benchmarking- und sonstigen Gruppen wurde aufgebaut, das Teile der Verbandsapparate aus Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden beschäftigte und dem langfristigen Ziel der Vertrauensbildung dienen sollte. Gleichwohl ist auch hier in den ersten zwei Jahren keine wirklich neue Institution mit Dauerperspektive entstanden – anders als zum Beispiel in den Niederlanden, Norwegen oder Italien. Das hat viele Gründe, vor allem wohl ein – mehr als berechtigtes – Mißtrauen der Gewerkschaften gegenüber der Kooperationswilligkeit und Verpflichtungsfähigkeit der Arbeitgeberseite. Dieser schwebt immer mal wieder die Alternative einer radikalen, nicht-korporativen reinen Marktlösung nach angloamerikanischem Muster vor, also einer Vernichtungsstrategie gegen Gewerkschaften und kollektive Interessenvertretungen der Beschäftigten. Außerdem hat die Regierung überhaupt kein institutionelles Konzept zum „Bündnis“. Sie könnte zum Beispiel versuchen, neben dem Parlament einen Wirtschafts- und Sozialrat, nach österreichischem Muster, einzurichten, der zu allen sozial und ökonomisch wichtigen Fragen der Gesetzgebung ein Recht der Initiative und der Stellungnahme hat. Dies würde sogar einer freilich etwas angestaubten aber – vor allem auf regionaler Ebene – aktualisierungsfähigen Forderung der deutschen Gewerkschaften entsprechen. Doch Schröder ist von solchen Ideen weit entfernt. Vielleicht möchte er das „Bündnis“ lieber als flexible ad-hoc-Reserve in Machtkämpfen aufrechterhalten.
Was soll und darf eigentlich im „Bündnis“ Thema sein und was nicht und warum? Jedesmal muß um die Tagesordnung gekämpft werden. Die Arbeitgeber würden gerne genau zu jenen Themen etwas vereinbaren, die nach Auffassung der Gewerkschaften nicht zur „Bündnis“-Agenda gehören. Die Regierung wiederum bringt ihre zentralen Zukunftsprojekte zu Steuern und Renten, die zweifellos Wirkungen auf „Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit“ haben, nicht in das „Bündnis“ ein, sondern zieht sie an ihren gewerkschaftlichen Bündnispartnern vorbei durchs Parlament – etwa die Steuer„reform“ samt Freistellung von Beteiligungsverkäufen. Umgekehrt wird der Referentenentwurf zur Renten„reform“ kurz vor seiner Präsentation auch nicht im „Bündnis“, sondern im Gewerkschaftsrat der SPD (!?) verhandelt und verändert.
Die Verschiebung des politischen Raums durch die Schröder-Fischer-Regierung findet also bisher nicht viele Entsprechungen in den Strukturen des politischen Systems und im Verhältnis der politischen Institutionen und Organisationen zueinander. Gewiss gibt es Tendenzen zu mehr Personalisierung, massenmedialer Verdummung und Manipulation, zum Abbau innerparteilicher Demokratie, zur Entparlamentarisierung und Transparenzverweigerung mittels Direktkontakt der Regierung und des Kanzlers zu mächtigen Interessengruppen. Aber das alles gab es schon unter Adenauer.
Soziale und elektorale Verankerung der Regierungspolitik
Alle Wahlen im Jahr 1999 endeten mit tiefen Einbrüchen für Sozialdemokraten und Grüne. Im Vergleich zur Bundestagswahl vom September 1998 hatten CDU und FDP nirgends an Stimmen zugelegt, aber ihre Wähler einigermaßen gehalten, während die Wählerinnen und Wähler von SPD und Grünen massenhaft zu Hause blieben. Für die sozialdemokratische Stammklientel tat sich eine Gerechtigkeitslücke auf. Und Grünen-Wähler streikten, weil sie im NATO-Krieg ihre Prinzipien verraten sahen, weil die Regierung sich in ökologischen Fragen, zum Beispiel Autorecycling, Atomausstieg, dem Diktat der Großkonzerne beugte, oder weil sie die rasante Hinwendung der Partei zu einem dogmatischen Neoliberalismus samt Staatsverschlankung nicht mittrugen – schließlich entstammt ein großer Teil des grünen Unterstützerpotentials dem Humandienstleistungsbereich, und der lebt weitgehend von öffentlichen Mitteln.
Statt an Traditionswählern versuchten insbesondere die Sozialdemokraten sich an einer „neuen Mitte“ zu orientieren. Soziologisch blieb dieser Begriff meist konfus, oder er wurde mit der kleinen Gruppe der neuen Aufsteiger, der Modernisierungsgewinner, der Internet-Generation gleichgesetzt. Die aber machen, wie die Hannoveraner Forschungsgruppe agis ermittelt hat, nur rund 7% aus, weniger als das von Rot und Grün völlig im Stich gelassene Milieu der sozial Unterprivilegierten (12%). Die am stärksten besetzten Milieus in der agis-Analyse, die daher als „Mitte“ gelten können, sind Arbeitnehmermilieus mit Leistungsbewußtsein aber auch Erfahrungen von Statusverlust oder -bedrohung. Diese „Mitte“-Wähler „wollen, arbeitend und Steuern zahlend, etwas leisten, verlangen aber auch Gegenleistungen. Gegen Abstriche sind sie nicht – aber nur wenn sie gerecht begründet sind“.[7] Eben daran ließ es die Regierung schmerzlich fehlen.
Kann dieser Bindungsverlust durch das von Schröder ins Gespräch gebrachte – schon in der Wortwahl peinlich tautologische – Leitbild der „zivilen Bürgergesellschaft“ samt „aktivierendem Staat“ kompensiert werden? Das aus England importierte Modell enthält eine puritanisch-darwinistische Komponente, denn es unterstellt Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern Faulheit und Missbrauch und droht ihnen – neben dem wie Hilfestellung klingenden Enabling – auch mit Zwang. Wo Unterschichten an ihrer Misere selber schuld sind, erledigen sich Umverteilungsforderungen an die Besserverdienenden von selbst. Es ist aber nicht zu sehen, inwiefern die Aufforderung, selber mehr zur eigenen Altersvorsorge und zu den Krankheitskosten, vielleicht demnächst auch zu den Bildungskosten der Kinder, beizutragen, in jenen großen Arbeitnehmermilieus Zustimmung finden soll, in denen trotz Qualifikation und Leistung die Einkommen nicht steigen und die Unsicherheit des Arbeitsplatzes zunimmt. Was Gerhard Schröder sich sonst noch unter „ziviler Bürgergesellschaft“ vorstellt – Patientenselbsthilfe, Bürgerpartizipation im Stadtviertel, Mäzenatentum anregendes Stiftungsrecht, unentgeltliche Software-Schulung durch nette Computerfreaks[8] – klingt für sich genommen vernünftig und irgendwie menschenfreundlich, aber als Ersatz für bisherige sozialstaatliche Gewährleistungen fällt es reichlich dünn aus. Gewiss wären noch viele Felder denkbar, auf denen bürokratische Reglementierung abgebaut werden kann und mehr Selbstverwaltung, Selbsthilfe und Bürgerengagement wünschens- und fördernswert erscheint. Der Staat kann vieles zur Aktivierung von Bürgersinn und auch von Lebensplanungskompetenz, etwa durch Beratung und Bildung tun. (Diese Seite gehört in der Tat neben den Bestrafungen auch zum „Enabling“-Programm von 8 zum Altruisten mutieren kann, bleibt Schröders Geheimnis. Blairs New Labour.) Allerdings wäre ein derart umfassend verstandenes Programm der Stärkung von Zivilgesellschaft zwar mit einer Umstrukturierung staatlicher Apparate, nicht notwendig aber mit einem Abbau öffentlicher Aufgaben und staatlicher Ausgaben verbunden. Gemeinwohldienliches wäre weiterhin – und vielleicht sogar erweitert – gezielt zu fördern, zu ermutigen und auch professionell von Staats wegen zu betreiben, weil der Markt es von sich aus nicht hervorbringt. Selbsthilfe kann dauerhaft subventionsbedürftig und Bürgerbeteiligung in den Kommunen kostensteigernd sein. Bei Schröders „Anregungen“ indessen handelt es sich weniger um einen neuen kommunitaristischen Demokratieentwurf als um die Rechtfertigung für einen Rückzug des Staates aus sozial- und gesellschaftspolitischen Aufgaben. Wolfgang Streeck, Mitarbeiter im „Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit“ hat diesen neoliberalen Kern von Schröders Botschaft besonders klar formuliert: „Nun geht es heute (...) um den Abschied der deutschen Sozialdemokratie von ihrem staatszentrierten Irrealsozialismus der westdeutschen Wohlstandsperiode. Vom Staat, so die Botschaft, darf man nicht mehr alles, sondern nur noch immer weniger erwarten.“ Ein „Anstieg der gesellschaftlichen Ungleichheit“ ist, so Schröder-Interpret Streeck, angesichts ökonomischer Globalisierung „unvermeidlich“ und auch „grundsätzlich hinnehmbar“.[9]
Es geht nicht um freundliche Visionen von „Bürgergesellschaft“, sondern um Ausreden für Sozialstaatsabbau mit der Folge und sogar dem Ziel der Verschärfung von sozialer Ungleichheit und Spaltung der Gesellschaft. Daher wird das rhetorische Konstrukt die unzureichende soziale und elektorale Verankerung der Schröder-Politik nicht kompensieren können. Es ist allerdings angesichts der noch nicht beendeten Krise der CDU nicht ausgeschlossen, dass die Sozialdemokraten die Konservativen dauerhaft in einigen ihrer Stammwählerbereiche, in die sie schon 1998 eingedrungen waren, beerben. Aber bietet dies einen quantitativen Ausgleich für die von Schröders SPD und den Grünen definitiv abgeschriebenen Wähler aus den großen Gruppen der Modernisierungsverlierer? Hier bildet sich ein wachsendes Potential für politischen Protest, das rechtspopulistisch ausgeschlachtet werden, aber auch soziale Basis für linke Bewegungen und Bündnissen sein kann. Frankreich liefert Beispiele für beide Entwicklungslinien. Die deutsche Regierung scheint sich für die Verlierer eher ein USModell zu wünschen: dauerhafte Wahl- und Protestapathie. So etwas funktioniert übrigens mit einem Mehrheitswahlrecht und dessen eingebautem Zwang zum Werben um die Wechselwähler der Mitte meist besser. Wann fängt der Kanzler der „neuen Mitte“ an, laut über ein Wahlrecht nach britischem Muster nachzudenken, wie es einst zu Zeiten der Bonner Großen Koalition Herbert Wehner und Paul Lücke – und jüngst BDI-Chef Henkel – taten?
Resümee: Zwei Jahre Rot-Grün – Anfang vom Ende der Politik?
Die Rot-Grüne Regierung hat Politik nicht abgeschafft, obwohl das zuweilen in der Logik ihrer Programmatik und Rhetorik lag. Sie hat den Bereich des Politischen, den Bereich der legitimerweise umstreitbaren Entscheidungen, eingeengt und verschoben. Aber die Durchsetzung des Primats der Kapitalinteressen stieß auf gegenläufige Interessen und Wertüberzeugungen, erforderte also politischen Kampf. In diesem Kampf waren Schröder, Fischer & Co relativ erfolgreich, vor allem, weil sie anders als ihre Vorgänger, die in dieselbe Richtung tendierten, nicht oder weniger durch eine Opposition von links und von den Gewerkschaften behindert wurden. Sie haben den Machiavelli-Ratschlag, die größten Grausamkeiten am Anfang zu begehen, nach dem Ausscheiden Lafontaines konsequent befolgt: Steuer„entlastung“, staatliche Sparhaushalte, Privatisierung sozialer Risiken und Umverteilung zugunsten der Unternehmer besonders in der Renten„reform“, Teilnahme am NATO-Angriffskrieg gegen Jugoslawien. Es war die „brutalstmögliche“ Schockbehandlung gegenüber dem linken Anhang in beiden Regierungsparteien. Und dies zeigt eine beklagenswerte Schwäche der deutschen Linken.
Andererseits fehlt es bisher der versuchten Unterordnung von Politik unter das Kapitalprimat an Indizien für Dauerhaftigkeit. Nachhaltig könnte diese Eingrenzung der Arena des Politischen nur sein, wenn sie auch sozialstrukturellelektoral und in den politischen Institutionen schon Ausdruck und Verankerung gefunden hätte. Davon ist aber, außer einem Trend zur medialen Kanzlerdemokratie, noch nicht viel zu sehen. Das Beharrungsvermögen von Institutionen ist groß, und die Kreativität der Schröder-Crew richtet sich nicht gerade auf das Erfinden von neuen, auf Dauer angelegten Institutionen. Im Bereich der Institutionenbildung wird man allerdings ohnehin mehr auf die EU-Ebene und global governance- Versuche blicken müssen. Das hatte Lafontaine im Blick – seit Schröders Alleinherrschaft wird nun wieder national bornierter gedacht. Schließlich hat die Politik der Entstaatlichung eine soziale Wählerbasis in der „neuen Mitte“ noch nicht gefunden. Wahlsiege gab es seit September 1998 nur, wenn die CDU in Affären und Machtkämpfe verwickelt war und deren Anhänger deshalb ebenso zu Hause blieben wie die um Gerechtigkeitserwartungen betrogenen SPD-Wähler. Der Schröder-Politik des Abschieds von sozialdemokratischen Traditionen fehlt ein sozialstrukturelles Fundament. Den Grünen, die als Impulsund Bewegungspartei groß wurden, fehlt dieses Fundament nach ihrer raschen Wandlung zur bedingungslosen Mitregierungspartei und zum Neoliberalismus erst recht. Es gibt also Anhaltspunkte dafür, dass die Gesellschaft und das Institutionensystem der Bundesrepublik Deutschland – auch und gerade nach ihrer Erweiterung um die DDR 1990 – resistenter gegen die Unterwerfung der Politik unter das strikte Kapitalprimat sind, als die neuen Regierenden und ihre Berater erwartet haben. Denkbar und machbar scheint es schon, dass die Schrödersche Umformung des Gemeinwesens Bundesrepublik in ein Wirtschaftsunternehmen revidiert werden kann. Die dazu bereiten Kräfte müssten allerdings nicht nur lokal und national, sondern auch EU-weit und weltweit zu politischer Mobilisierung und Druckausübung fähig sein. Da liegen Chancen einer internationalistischen Linken. Aber das wäre ein neues Kapitel, das hier nicht mehr aufgeschlagen werden kann.
[1] Vgl. ausführlicher dazu: Bodo Zeuner, Entpolitisierung ist Demokratisierung. Demokratieverlust durch Einengung und Diffusion des politischen Raums, in: Rainer Schneider-Wilkes (Hg.), Demokratie in Gefahr? Zum Zustand der deutschen Republik, Münster 1997, S. 20-34.
[2] Oskar Lafontaine, Das Herz schlägt links, München 1999, S.9.
[3] Zit. nach: „Blätter“, 7/1999, S.888.
[4] Natürlich gibt es gute Argumente dafür, die hohe Bundesschuld von 1,5 Billionen auf 1,4 Billionen zu vermindern und damit Zinsen und Tilgungslasten aus dem Bundeshaushalt zu reduzieren. Verschuldung für öffentliche Investitionen (die eben auch den Rückzahlern aus künftigen Generationen nützen) galt aber vor Eintritt der neoliberalen Hegemonie als legitimes Argument. Abbau der Staatsverschuldung könnte auch so langsam gehen, wie Ehrenberg sie sich vorstellt, sie muss nicht dem Eichel-Tempo folgen. Politische Gestaltungschancen jedenfalls wurden durch das von Eichel widerspruchslos verfügte Primat der Tilgung vergeben.
[5] „Frankfurter Rundschau“ (FR), 24.6.2000, S.7.
[6] Auch hinsichtlich der Zähmung der Gewerkschaften in den Tarifrunden ist diese Regierung für die Arbeitgeber nützlicher als ihre Vorgängerin. Dazu Alfons Frese im Berliner „Tagesspiegel“ vom 29.4.2000: „Gerhard Schröder ist Millionen wert, auf längere Sicht sogar Milliarden. Jedenfalls für die deutschen Unternehmen. Schröder hat nämlich im ‚Bündnis für Arbeit’ den Gewerkschaften Fesseln angelegt und dadurch recht bescheidene Lohnabschlüsse ermöglicht. Mit einem Kanzler Kohl hätten sich die Arbeiterführer Zwickel und Schmoldt nicht auf das Bündnis-Spiel zu ihren Ungunsten eingelassen.“
[7] Michael Vester, Kennt der Kanzler eigentlich seine „Neue Mitte“?, in: FR, 5.2.2000, S.24.
[8] Gerhard Schröder, Die zivile Bürgergesellschaft. Anregungen zu einer Neubestimmung der Aufgaben von Staat und Gesellschaft, in: „Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte“, 4/2000, S. 200-207. Warum der moderne Computerfreak der seinen rasch veraltenden Wissensvorsprung auch auf dem Markt der Dienstleistungen verkaufen kann und nach herrschenden ökonomischen Theorien auch muss, plötzlich
[9] Wolfgang Streeck, Die Bürgergesellschaft als Lernzielkatalog, in: „Die Mitbestimmung“, 6/2000, S.29 u. S.28.