Ausgabe September 2002

9/11: Haben wir irgendetwas gelernt?

Ein brennender Turm des World Trade Center nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 (IMAGO / Newscom World / Carol Bernson / Black Star)

Bild: Ein brennender Turm des World Trade Center nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 (IMAGO / Newscom World / Carol Bernson / Black Star)

Wenn ich frage, ob wir in irgendeiner Hinsicht klüger geworden sind, so meine ich jene Art Klugheit, ohne die es keine erfolgreiche Politik gibt: Ein Erbe unter veränderten geschichtlichen Bedingungen zu bewahren, indem man es anpasst. Das Erbe, das ich erhalten möchte, lässt sich nur bewahren, indem man es ausweitet. Es handelt sich um das doppelte Erbe von Aufklärung und Demokratie. Die Amerikanische Revolution, der britische Chartismus, die Französische Revolution mit ihren europäischen Ausläufern, der emanzipatorische Nationalismus des 19. Jahrhunderts in Europa und Lateinamerika - sie alle orientierten sich an Kategorien wie der Selbstbestimmung des Menschen, der Volkssouveränität und der Republik der Citoyens. Dem entsprach ein Verständnis der Politik als Prozess fortwährender Erziehung, Führung als pädagogisches Amt. Der Antikolonialismus und Antiimperialismus eroberter Völker im 19. und 20. Jahrhundert übernahm ein Großteil seiner Ideen aus den Metropolen der Eroberer. Diese Ideen prägten den Sozialismus, in seinen christlichen ebenso wie in seinen marxistischen Versionen.

Indem sie die Unausweichlichkeit der Herrschaft von Menschen über Menschen bestritten, verwarfen seine Verfechter auch die Reduktion der Politik auf Ökonomie, die Hinnahme einer von moralischen Konflikten freien, mechanisch funktionierenden Sphäre menschlicher Beziehungen (letzteres ein quälend schwieriger Punkt für die Nachdenklicheren sowohl unter Wirtschaftsliberalen wie unter Marxisten). Sie setzten sich mit der politischen Bedeutung der Kultur auseinander, besonders im Hinblick auf die Religion. Wenn Altar, Besitz und Thron in einer unheiligen Allianz miteinander standen, in der Obskurantismus die Brutalitäten der Macht legitimierte, dann gehörte die Religion in der Tat abgeschafft. Andererseits heiligte die Religion Gemeinschaften und Individuen, verwarf gröbere Formen des ökonomischen und politischen Determinismus und inspirierte oft auch weltliche Reformbewegungen. Sie war (und ist) sowohl Verbündeter als auch Gegenspieler der Aufklärung. Sie steht geradezu im Epizentrum der Debatten über kulturelle Folgen der wirtschaftlichen und politischen Globalisierung, und dies mit gutem Grund, denn die unterschiedlichen Religionen bilden in ihrer jeweiligen Eigenart Knotenpunkte des Widerstands gegen eine weltweite Vereinheitlichung.

Man fühlt sich an die paradoxe Beobachtung Theodor W. Adornos beim Anblick der glänzenden Fassade scheinbarer Normalität in der frühen Bundesrepublik Deutschland erinnert: Selbst das altmodische Bekenntnis zum Humanismus, meinte er, komme unter solchen Umständen einem Akt heroischen Widerstandes nahe. In keinem anderen Land äußern diese Konflikte sich derart scharf wie in den Vereinigten Staaten. Sicher, diese führen eine weltweite Koalition an, deren Ziel in der Konsolidierung einer Art Marktgesellschaft, einer plebiszitären Konsumdemokratie besteht. Ein Großteil der für die Weltwirtschaft unentbehrlichen (und deren Funktionieren zugleich aufgrund ihrer schnellen Bewegung immer wieder störenden) Kapitalströme kommt aus den Vereinigten Staaten oder wird dort umgesetzt. Ein keineswegs verborgenes System wirtschaftlicher, ideologischer und politischer Bündnisse verbindet die amerikanischen Eliten mit denen anderer Länder. Aber Vorsicht: Eine universelle Kompradorenklasse nimmt nicht notwendigerweise eine Position der Abhängigkeit ein. Sie wird von ihren nordamerikanischen Partnern genauso gebraucht, wie sie deren militärischen und politischen Schutz und die wirtschaftliche Kooperation mit ihnen braucht. Und diese amerikanischen Partner herrschen ja nicht wie selbstverständlich über verwirrte oder eingeschüchterte Untertanen. Sie müssen mit der stets gegenwärtigen Möglichkeit rechnen, dass die amerikanische Tradition des Kampfes um wirtschaftliche und soziale Gleichheit, für eine Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums, für einen breit angelegten Wohlfahrtsstaat wieder aufbricht.

Diese Traditionen wurzeln genauso im nationalen Selbstverständnis der Nordamerikaner wie der Marktdogmatismus der Wirtschaftselite. Die Vereinigten Staaten bilden keine Nation, die der denkwürdigen Begriffsbestimmung Renans entspräche: als Erinnerungsgemeinschaft. Da immer neue Einwanderungswellen ihre Bevölkerung ständig erneuern, handelt es sich eher um eine Art Kirche, deren Mitgliedschaft man durch die Übernahme ihrer Glaubenssätze erlangt. Tocqueville bemerkte schon vor hundertsiebzig Jahren die Konformität ihrer Auffassungen. Die tief sitzende Überzeugung von der Einzigartigkeit (exceptionalism) und dem weltumfassenden Auftrag der Vereinigten Staaten findet sich quer durch unser gesamtes politisches Spektrum. Der Linken mit ihrer Kritik am übergewichtigen Einfluss des Kapitals auf unsere Politik, an der Unterwerfung aller Lebensbereiche unter den Markt, hält man gern mangelnden Patriotismus vor. In Wahrheit geht der Patriotismus der nordamerikanischen Linken so weit, dass sie der Nation enorme Veränderungen zutraut, die Mobilisierung geistiger Kräfte, wie sie die Reformen der Progressives, Franklin Roosevelts New Deal, Lyndon Johnsons Great Society, die Bürgerrechtsbewegung und die Kampagne gegen den Vietnamkrieg antrieben. (Die Letztgenannte hält durchaus dem Vergleich mit der britischen Bewegung für die Unabhängigkeit Indiens und dem französischen Widerstand gegen den Algerienkrieg stand.) Diese Energien hatten ähnlich wie die Antriebskräfte sozialer Proteste und Reformbewegungen heute - sehr oft religiösen Charakter. Katholische Solidaritätsvorstellungen, protestantisches Gewissen und jüdischer Erlösungsglaube flossen in der Abwehr der atomisierenden Härte des nordamerikanischen Kapitalismus zusammen. Und tatsächlich begründen die Verfechter des Säkularismus die Trennung von Kirche und Staat, und den kulturellen Pluralismus, als ein institutionelles Arrangement, das die Integrität religiöser Wertvorstellungen schützt. In diesem Sinne ist unsere Modernität so alt wie unsere Nation - und in der Tat einzigartig, was die frühzeitige Anerkennung einer Konfliktkultur als originär demokratischer Kultur anbetrifft. (Der sklavenhaltende Süden betrachtete sich vor dem Bürgerkrieg zunehmend als völlig andere Nation.)

Ein neues Modell amerikanischer Wirtschaftsmacht

Natürlich gibt es in den Vereinigten Staaten ein - gegenwärtig von unserem Präsidenten angeführtes - politisches Lager, das die Moderne bekämpft. Es verwirft die moralischen Gründe für Umverteilung und Wohlfahrtsstaat, beharrt auf der "Eigenverantwortung" des Einzelnen, verficht traditionalistische Vorstellungen individueller Moral und fürchtet sich zutiefst vor den Ideen des Feminismus im Besonderen und eines für neue Erfahrungen offenen kulturellen Pluralismus ganz allgemein. Den harten Kern dieses Lagers bilden protestantische Fundamentalisten, denen es gelungen ist, Bündnisse mit katholischen Gegnern des 2. Vatikanischen Konzils und Juden, die der Säkularisierung misstrauen, zu schließen. Diese breite kulturelle Gruppierung (die mindestens ein Drittel der Nation erfasst) hat sich mit den Markt-Republikanern verbündet, ungeachtet der Tatsache, dass diesen wenig heilig ist - man denke an Inhalt und Niveau unserer Fernsehprogramme.

Die Markt Republikaner, gebildeter, kosmopolitischer und in der Regel wohlhabender, interessieren sich nicht für die endemischen Kulturkriege im Lande - nutzen sie aber geschickt zu ihrem politischen Vorteil. Die meisten Verfechter pluralistischer und säkularistischer Positionen gehören der demokratischen Partei an, und deren Problem besteht darin, solche kulturpolitischen Vorstellungen mit den wohlfahrtsstaatlichen Prioritäten der großen demokratischen Wählerblöcke zu versöhnen, deren Mitglieder sich an viel handfesteren materiellen Interessen orientieren. Zur Hochzeit des Kalten Krieges, als über ein Drittel der Beschäftigten Gewerkschaften angehörte, schmiedeten New Deal-Demokraten (Truman, Kennedy, Johnson) einen Warfare-Welfare-State. Die Öffentlichkeit unterstützte eine hegemoniale Außenpolitik und kam dafür in den Genuss eines steigenden Lebensstandards, der weniger auf umfassenden Staatsprogrammen als auf ausgehandelten Sozialleistungen in den großen Betrieben der Privatwirtschaft und auf privatem Konsum beruhte. Republikanische Präsidenten wie Eisenhower und Nixon rüttelten nicht an diesem Sozialmodell, ja Nixon baute es sogar noch aus.

Was den Konsens des Kalten Krieges von innen heraus zersetzte, waren die kumulativen Auswirkungen der Bürgerrechtsbewegung und des weißen Widerstands gegen diese, die Bewegung gegen den Vietnamkrieg und ihr chauvinistisches Echo, aber auch Johnsons Entschlossenheit, das Werk Franklin Roosevelts mit einem weiteren New Deal, dem Programm der Great Society, fortzusetzen. Dieses bot durchaus ansehnliche Leistungen für jedermann, aber weniger als spezifische Programme für bisher entrechtete und unterprivilegierte Gruppen. Das Bestreben, solche Programme abzubauen oder ganz rückgängig zu machen, gehört seither zum Kernbestand republikanischer Politik (und fasziniert die Neuen Demokraten, die geistigen Vettern New Labours, die sich für die sozialpolitische Kompetenz der eigenen Partei nicht interessieren).

Hinzuweisen wäre in diesem Zusammenhang auch auf die Langzeitwirkungen der wirtschaftlichen Erholung Europas und Japans nach dem Zweiten Weltkrieg, deren zunehmende Exporterfolge auf dem amerikanischen Markt sowie die beschleunigte Abwicklung jener Industrien der Nachkriegszeit, die zur Prosperität des Landes wesentlich beigetragen hatten. Das schwächte, sehr zum Wohlgefallen der amerikanischen Geschäfts- und Finanzwelt, Mitgliederzahlen und Macht der Gewerkschaften erheblich, was dem ideologischen Erbe des New Deal noch mehr Boden entzog. Nixons Bruch mit dem Finanzsystem der Nachkriegszeit und die Abwertung des Dollar schlossen diesen Prozess ab und eröffneten einen anderen: die Errichtung eines neuen Modells amerikanischer Wirtschaftsmacht, das auf Kapitalimporten zur Finanzierung des US-Inlandskonsums basiert, und eine mit brutaler Gründlichkeit betriebene Rationalisierung des Arbeitsmarkts. Die seinerzeitige Finanzkrise kann großenteils der Weigerung Präsident Johnsons zugeschrieben werden, den Vietnamkrieg durch die Erhebung zusätzlicher Steuern zu bezahlen, mit anderen Worten: der Tatsache, dass die Vereinigten Staaten die Kriegskosten einerseits den einfachen Bürgern des Landes, andererseits den Gesellschaften ihrer reichsten Verbündeten aufbürdeten. Die hohen Zinssätze der späten 70er Jahre saugten Auslandskapital an, machten aber weitere Sozialinvestitionen im Inland, von Umverteilungsmaßnahmen gar nicht zu reden, unmöglich. Es folgte der Reaganismus mit seinem Rüstungskeynesianismus, der die Vorrangstellung des Dollar wiederherstellte.

Allerdings diente diese jetzt anderen Zwecken: Der Dollar fungierte weniger als ein Instrument globaler Stabilisierung im Rahmen der einvernehmlichen Arbeitsteilung der Bretton-WoodsInstitutionen, sondern eher als Werkzeug wirtschaftlicher und politischer Vorherrschaft. Das Ende des Kalten Krieges, der Europa und Japan von den Vereinigten Staaten militärisch abhängig gemacht hatte, brachte diesen Regionen nicht mehr, eher weniger wirtschaftliche Selbständigkeit. Dass Washingtons Finanzministerium Europäern und Japanern amerikanische Kosten des Golfkrieges in Rechnung stellte, erscheint ebenso bezeichnend wie die Tatsache, dass diese bezahlten. Es entwickelte sich, ökonomisch wie politisch, eine neue internationale Arbeitsteilung. Der Rest der Welt lieh den Vereinigten Staaten Geld, diese boten im Gegenzug militärische Unterstützung und politischen Schutz - während die Bürger des Landes sich ihrerseits bei amerikanischen Banken verschuldeten und Kredite oder Hypotheken auf ihre Häuser aufnahmen, um weiter importierte Konsumgüter kaufen zu können. Während sie Kapital importierten, exportierten die Vereinigten Staaten wiederum Finanzdienstleistungen, High Tech-Produkte, Agrarerzeugnisse und Rohmaterialien. Die Präsidentschaften Clintons, Reagans und des älteren Bush unterscheiden sich beträchtlich. Clinton gefiel Schwarzen, kulturell Interessierten, Frauen und - trotz des extremen Minimalismus seines Wirtschafts- und Sozialprogramms - den Gewerkschaften, weil sie für sich keine Alternative zu ihm sahen.

Clinton machte viel Aufhebens von der Einhaltung der Menschenrechte und übte tatsächlich auf einige widerspenstige Regierungen mit Erfolg Druck aus, wenn sie zu schwach waren zu widerstehen. Aber in der Wirtschaftspolitik herrschte ein hohes Maß an Kontinuität. Die Demokraten machten sich die Auffassung von der Schädlichkeit staatlicher Defizite zu Eigen. Die Rationalisierung in der amerikanischen Wirtschaft schritt voran, mit enormen Technologie-Investitionen in den 90er Jahren. Billige Arbeitskräfte (und etwas kostspieligere Nobelpreisträger) wurden bei zunehmender Einwanderung, vor allem aus Asien und Lateinamerika, importiert. Die Expansion des Freihandels führte zu Konflikten mit den Gewerkschaften. Das Multilaterale Handelsabkommen scheiterte. Zum wichtigsten Vertreter der Clinton-Administration avancierte Robert Rubin, der als Finanzminister das internationalistischste Segment der Wall Street repräsentierte. Mit dem republikanischen Notenbankpräsidenten Greenspan handelte er eine Art friedlicher Koexistenz aus. Während die Demokraten sich die republikanische Verteufelung des Deficit Spending zu Eigen machten, boomte die Wirtschaft.

Systematische Entpolitisierung

Für Beschäftigte der mittleren und unteren Einkommensstufen sprang nicht allzu viel dabei heraus, weder in Gestalt verbesserter Sozialleistungen noch einer Ausweitung öffentlicher Dienste beziehungsweise der staatlichen Infrastruktur. Es gab gewisse Einkommenszuwächse, und die Arbeitslosigkeit sank. Die obersten 20 Prozent der Einkommensskala verbesserten ihre Position spürbar. Ob die viel gepriesenen Produktivitätszuwächse in den USA tatsächlich so großartig ausfielen, steht nicht fest: Nicht wenige Beschäftigte leisteten nämlich unregistrierte Überstunden. In Ermangelung gewerkschaftlicher Vertretung mussten die meisten Amerikaner doppelt so schnell laufen, um nicht zurückzufallen. Die Marktideologie avancierte zum nationalen Glaubensartikel. Die Demokraten verloren ihren Status als Mehrheitspartei und die Kontrolle sowohl über das Repräsentantenhaus wie den Senat, aber auch parlamentarische Mehrheiten in Einzelstaaten und Gouverneursposten.

Clintons Vizepräsident Al Gore konnte sich nicht entscheiden, mit welchem Profil er um die Nachfolge kämpfen solle. Als New Democrat, der in den besseren Vierteln punktet, indem er Staatsausgaben und Umverteilungswünschen abschwört, oder als Demokrat mit einem Projekt, neuen Aufgaben für eine Regierung im Interesse der Allgemeinheit und einer umfassenderen Definition des Bürgerstatus? Tatsächlich erhielten Gore und der Kandidat der Sozialdemokratie, Nader, bei der letzten Wahl 52 Prozent der Wählerstimmen. Dabei ging in diesem Land, dessen Medien die Politik erfolgreich ihres Inhalts entleert hatten, nur die Hälfte der Wahlberechtigten zu den Urnen. Judikativer Diebstahl, begünstigt durch Gores Mangel an Kampfgeist, besorgte den Rest. Von anfänglicher Empörung abgesehen, fand der Vorwurf, Bushs Präsidentschaft sei in Wirklichkeit illegitim, kaum ein Echo. Seine ersten innenpolitischen Schritte erwiesen ihn als engen Verbündeten des Kapitals - was er übrigens nie bestritten hatte.

In der Außenpolitik verfocht er nicht weniger offen seine unilateralistische Einstellung in Sachen Abrüstung, Umwelt, Menschenrechte und Völkerrecht. Die außenpolitische Elite debattierte darüber, aber die breitere Öffentlichkeit schenkte diesen Fragen keine Aufmerksamkeit mehr. Ihre Behandlung in den Medien war so provinziell wie flach: De Rest der Welt schien ipso facto in großen Schwierigkeiten zu stecken, denn e war nun einmal nicht die Vereinigten Staaten. Während der Technologie-Investitionszyklus sich verlangsamte und die Arbeitslosigkeit zunahm, griff Bush auf ein politisches Mittel zurück, mit dem er (und erfolgreiche Republikaner wie Nixon und Reagan vor ihm) stets beste Erfahrungen gemacht hatte: die Pflege einer systematischen Entpolitisierung. Vor allem verfiel schon der bloße Hinweis auf wirtschaftliche und soziale Ungleichheit dem Verdikt, er ziele auf die Einführung des "Klassenkampfes" ins Leben der Amerikaner. Eine Variante dieser Formel hatte bereits Bush senior im 1988er Wahlkampf benutzt: Soziale Klassen gebe es in Europa, aber nicht in den USA. Und Bush junior attackierte, obwohl selbst ein recht erfolgreicher Innenpolitiker, schlichtweg "die Politik". Zutiefst gespalten zwischen umverteilungs- und wirtschaftsorientierten Gruppierungen, wussten die Demokraten darauf keine Antwort. Die unvorsichtigeren New Democrats hatten den ökonomischen Boom der 90er Jahre absurderweise für irreversibel erklärt. Die Sozialstaatsanhänger sahen sich auf die Verteidigung der Gruppeninteressen ihrer Wählersegmente reduziert.

Schwerer Schlag

In diese Situation platzte der Angriff vom 11. September. Sicher, schon zuvor hatten Islamisten dieser oder jener Provenienz Anschläge auf amerikanische Botschaften und militärische Einrichtungen im Nahen Osten verübt. Aber diesmal reagierte die Öffentlichkeit eindeutig. Der Selbstsicherheit der Nation war ein schwerer Schlag versetzt worden, jenem Gefühl der Unverwundbarkeit, das wir aus unserer Geschichte geerbt haben, selbst solche Menschen, die sie kaum kennen. Der psychologische Schock ging einher mit einem zweiten, psychopolitischen, der Frage nämlich: "Warum hassen sie uns?" Das Wörtchen "sie" erfasste schon bald jede Person, Gruppe oder Nation, die anzudeuten wagte, sie betrachte die Vereinigten Staaten angesichts ihres internationalen Auftretens und inneren Zustands nicht unbedingt als die Idealgesellschaft. Auf Unverständnis stießen natürlich auch inneramerikanische Kritiker oder Dissidenten (ein absurder Begriff unter den Bedingungen scheinbar schrankenloser Freiheit, aber schon dass er Verwendung findet, verdeutlicht den monolithischen Charakter öffentlicher Meinungsbildung in den USA). Das Land verfiel einem Rausch aus Kriegslüsternheit, Chauvinismus und verletztem Stolz - versetzt mit einer Dosis weinerlichen Selbstmitleids. "Wer nicht für uns ist, ist gegen uns" - was der Präsident für alle Welt verfügte, galt gleichermaßen für Amerika selbst. Unter passiver Duldung oder Komplizenschaft der Demokraten und äußerst serviler Medienbegleitung nutzten Bush und seine Administration den Angriff aus, um einen kalten Staatsstreich zu vollziehen. Ein einziges Kongressmitglied (Barbara Lee aus Oakland, Kalifornien) wagte es, gegen die Ausstattung der Bundesregierung mit verfassungsmäßig extrem zweifelhaften Notstandsvollmachten zu stimmen.

 

Der Rüstungshaushalt wurde kräftig erhöht - für Waffensysteme ohne jeden Nutzen bei der Bekämpfung des organisierten Terrorismus. Eine gleichzeitige Steuersenkung für die höheren Einkommensgruppen (in Verbindung mit einer von der Regierung geduldeten laxen Behandlung der Wirtschaft durch die Washingtoner Finanzbehörden) beugte jeder Erörterung sozialer Programme, seien ihre finanziellen Anforderungen auch noch so bescheiden, wirkungsvoll vor: Das Geld, hieß es, sei ganz einfach nicht da. Und der außenpolitische Apparat der Bush-Administration frönte seinem Unilateralismus noch hemmungsloser, auch in Bereichen, die mit dem Angriff vom 11. September überhaupt nichts zu tun haben. Schwer zu sagen, was abstoßender wirkt: Die Annahme, das Interesse der Republikgründer an der "guten Meinung der Menschheit", wie sie es nannten, zähle nicht mehr - oder der Glaube, diese lasse sich straflos beleidigen und jede Art Lüge vorsetzen (wie etwa die Leugnung einer amerikanischen Verwicklung in den gescheiterten Versuch, den venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez zu stürzen). Auf wessen aktive Unterstützung kann Bush zählen? Wir haben eine Außenpolitik-Elite, die aus Wissenschaftlern, Kongressmitgliedern und ihren Mitarbeitern, Beamten, Militärs, Wirtschaftsmanagern und Freiberuflern mit Auslandsinteressen sowie Publizisten besteht. Die Frage, ob Bushs Kurs klug ist, spaltet diese Elite zutiefst, aber die Zweifler sprechen mit gedämpfter Stimme. Sie wenden sich lieber an die wirtschaftlich oder politisch Mächtigen als an die Öffentlichkeit (ein Begriff, der in den USA zusehends zum Mythos verblasst).

Auf ihre Karrieren bedacht und den üblichen Konformitätszwängen unterworfen, nicht durch abweichende Meinungen aufzufallen, haben sie sich eine Selbstzensur auferlegt. Dennoch dringen gelegentlich Hinweise auf den Dissens nach außen: So machten kürzlich Beamte des Außenministeriums keinen Hehl aus ihrer Ablehnung dessen, was sie als einfältigen Reduktionismus der Bush-Berater kennzeichneten. Aber bisher ist niemand zurückgetreten. Kongressmitglieder äußern Zweifel, wenn überhaupt, dann gewöhnlich in ziemlich akademischen Umschreibungen. Eine kleine Gruppe im Progressive Caucas des Kongress formulierte offene Kritik, und einflussreiche Senatoren wie Joseph Biden, der Vorsitzende des Außenpolitischen Ausschusses, deuten gelegentlich höfliche Skepsis an, wenn es um Fragen wie einen möglichen Angriff auf den Irak geht. In den bürokratischen Apparaten sieht man sich außerstande, gegen den Präsidenten zu opponieren, solange aus dem Kongress keine offene und nachdrückliche Unterstützung kommt. Angesichts des herrschenden Schweigens legen alle, die selbst in diese Bürokratie streben (Hochschullehrer etwa, die auf einen Ruf in die Politik hoffen), die gleiche Diskretion an den Tag wie die Bürokraten selbst. Die unilateralistische Fraktion der Außenpolitik-Elite ist auf den höchsten Regierungsetagen vertreten (durch den Vizepräsidenten, den Verteidigungsminister, die Nationale Sicherheitsberaterin und einige ernannte Mitarbeiter des seinerseits nuancierteren Außenministers).

Der Angriff des 11. September hat sie in ihrer Ansicht bestärkt, dass die USA in eigener Regie handeln müssen, um die Mächte der Bedrohung zu zerstören (sie einzudämmen oder auszuschalten genügt ihrem Verständnis von der Allmacht des Landes nicht) Bedrohungen durch den (ziemlich dehnbar definierten) Terrorismus, durch Revolutionen oder revolutionären Wandel und geopolitischen Widerstand jeglicher Art. Ihr Rückgriff auf Adhoc-Koalitionen mit einer Ansammlung nichtdemokratischer Regimes erinnert an den Kalten Krieg. Ihre Vorsicht im Umgang mit China und Russland wirkt gleichfalls vertraut: Selbst die Unilateralisten versuchen, allzu offensichtliche Risiken zu vermeiden. Natürlich verfügen die Unilateralisten über enge Verbindungen mit wichtigen Sektoren der amerikanischen Wirtschaft (wie etwa der Ölbranche und Teilen des internationalen Finanzwesens). Manchmal jedoch bringt ihr Kurs sie in Konflikt mit der Wirtschaft. Amerikanische Unternehmen betrachten China potentiell und schon heute als riesigen Absatzmarkt, während die Ölbranche wenig Begeisterung dafür an den Tag legt, Israel zu unterstützen und dadurch ihre Investitionen in der Region zu gefährden. Doch die außenpolitische Elite zeigt sich von Zeit zu Zeit bereit, diese Interessen zugunsten eines langfristig angelegten Konzepts nationaler Sicherheit zu opfern - wobei sie der Wirtschaft die beträchtliche Kompensation offeriert, von den öffentlichen Aufwendungen zur dauerhaften Unterhaltung eines Garnisonsstaats zu profitieren.

Nationale Sicherheit plus Weltmission

Ideologischer Rückhalt erwächst den Unilateralisten vor allem aus der Verschmelzung einer geopolitischen Definition der "nationalen Sicherheit" mit dem theokratischen (primär protestantischen) Gefühl der Berufung zur Weltmission. Die protestantischen Fundamentalisten begeistern sich für den Unilateralismus, und dies umso mehr, als sie die anderen christlichen Länder (speziell die Westeuropäer) für verweltlicht und dekadent halten, während der Rest der Welt für sie aus Heiden besteht. Ihr Menschenrechtsverständnis erschöpft sich nicht selten darin, auf das Recht protestantischer Missionare zu pochen, in anderen Kulturen Anhänger zu rekrutieren. Gleichzeitig haben die Fundamentalisten ein enges Bündnis mit der Israel-Lobby geschlossen. 1)

Nun lassen sich die Probleme des amerikanischen Umgangs mit dem Rest der Welt, insbesondere mit den Arabern und Muslimen, gewiss nicht auf das Problem der Israel-Lobby reduzieren. Der Einfluss dieser Lobby würde beträchtlich schrumpfen, wenn der außenpolitische Apparat in Washington sich, unterstützt von der Elite, für eine Abschwächung der Allianz mit Israel entschiede. Aber so lange diese Allianz weiterreichenden nationalen (oder, präziser gesagt, imperialen) Zwecken dient, wird die Israel-Lobby sie nutzen. Wie steht es in unserer Demokratie mit dem Einfluss der öffentlichen Meinung auf die Außenpolitik? Erinnern wir uns, dass unsere Öffentlichkeit großenteils privatisiert ist und an der Politik wenig Anteil nimmt. Dabei gibt es zwischen den einfachen Bürgern Amerikas und dem Rest der Welt vielfältige Verbindungen: die Erinnerungen der Einwandererfamilien und deren Besuche in der früheren Heimat, Militärdienst im Ausland und Tourismus, die Ansiedlung ausländischer Unternehmen und die Präsenz ausländischer Besucher, nicht zuletzt Studenten und Austauschschüler. Angesichts der bis zur Lächerlichkeit dürftigen Berichterstattung unserer Medien und des alles durchdringenden Einflusses der Nationalmythologie dienen all diese Kontakte jedoch oft nur der Verstärkung jenes Narzissmus, der zu den wichtigsten Komponenten der kulturellen Psyche Nordamerikas gehört. Was differenziertere Kenntnisse und Einschätzungen anbetrifft: Lasset fahren alle Hoffnung. Mehrheiten verstehen sich nicht besonders gut darauf, die Geschichte ihres eigenen Landes zu bilanzieren. Man sollte nicht verlangen, dass sie sich - beispielsweise - mit der Geschichte der indischen Teilung auskennen. Es stimmt, dass eine skeptische Grundhaltung der Bevölkerung wesentlichen Anteil am Erfolg der Bewegung gegen den Vietnamkrieg hatte (eine Skepsis, die die Moral der US-Truppen in Vietnam untergrub). Zu den Voraussetzungen dieser Entwicklung gehörte jedoch, dass die Opposition eines Teils des außenpolitischen Apparats nach außen und nach unten durchsickerte (vermittels der Kirchen, Massenmedien und Universitäten). Dergleichen gibt es gegenwärtig so gut wie gar nicht, auch wenn man sich einen Wandel vorstellen kann, sogar einen rapiden und dramatischen Wandel. Besondere Aufmerksamkeit verdienen die Kirchen und die Gewerkschaftsbewegung. Die katholische Kirche verfügt über eine lange Tradition des Internationalismus und der sozialen Solidarität. Aus dem Blickwinkel der Unilateralisten handelt es sich bei päpstlichen Enzykliken wie Centesimus Annus oder Sollicitudo Rei Socialis um ziemlich subversive Dokumente. Außerdem haben die Katholiken eine große Anzahl Spanisch sprechender Neueinwanderer zu vertreten - die nicht immer zu den Gewinnern der Konjunkturzyklen gehören. Die im National Council of Churches vertretenen modernen protestantischen Kirchen repräsentieren etwa zwei Drittel der Protestanten (die anderen sind Fundamentalisten). Der modernen Seite machen häufig Widersprüche zwischen den Auffassungen kritischer Theologen und denen der weniger nachdenklichen Kirchgänger zu schaffen, aber das Erwachen des protestantischen Gewissens hat immer wieder in unserer Geschichte tief greifende Veränderungen bewirkt - von der Sklavenbefreiung über die Bürgerrechtsbewegung bis hin zum Widerstand gegen den Vietnamkrieg. Und dann gibt es natürlich auch noch die Gewerkschaften. Deren verzweifelte Bemühungen um Mitgliederzuwachs könnte es begünstigen, wenn einfachen Amerikanern dämmert, was die Rede von den "Opfern", die die Weltmachtstellung Amerikas fordert, in Wahrheit bedeutet: dass allein sie diese Opfer bringen sollen. John Sweeney, der Vorsitzende des gewerkschaftlichen Dachverbandes AFL-CIO, gehört zu den Sozialkatholiken und fungiert insofern als ein Bindeglied zwischen diesen beiden Reservoiren potentieller Opposition.

Sweeney legte großen Wert auf die aktive Teilnahme (und seine persönliche Anwesenheit) bei den Demonstrationen von Seattle und Genua und arbeitet selbstverständlich eng mit dem Progressive Caucas im Repräsentantenhaus und mit den 25 wohlfahrtsstaatlich orientierten Demokraten im Senat zusammen. Widerstand von außen gegen die Hegemonie der Vereinigten Staaten, komme er von Blöcken, Bewegungen oder Staaten, könnte den Einfluss inneramerikanischer Kritiker erheblich verstärken (sowohl der Vertreter begründeter Kritik an der Funktionsweise unserer Gesellschaft als auch verzweifelter Konservativer, die retten möchten, was noch zu retten ist). Ein Beispiel und ein Gegenbeispiel: Als die "Washington Post" am 30. April d.J. über den bevorstehenden Besuch einer hochrangigen EU-Delegation bei Präsident Bush berichtete, betonte das Blatt, die Europäer würden weder irgendwelche Kritik an der US-Politik noch Alternativvorschläge präsentieren: Es gehe ihnen um verstärkte Kooperation. Entsprechend unbemerkt verlief der Besuch. Als dagegen die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) den versuchten Staatsstreich in Venezuela klar verurteilte und als verschiedene lateinamerikanische Diplomaten die Rolle der USA beim Namen nannten - da gab es Schlagzeilen. Sicher, wann immer ausländische Politiker die USA kritisieren, beeilt man sich bei uns amtlicherseits (unterstützt von Wissenschaftlern und Journalisten, die in den amtlichen Bahnen denken), die Öffentlichkeit zu beruhigen. Die Kritik, heißt es dann, sei nicht ernst gemeint: Ihre Funktion bestehe darin, die Öffentlichkeit in den Herkunftsländern der Kritiker ruhig zu stellen. Die Geringschätzung der demokratischen Prozesse in anderen Ländern, die daraus spricht, lässt sich kaum überhören. Wir haben es aber auch mit einem Ausdruck monströser Selbstgerechtigkeit zu tun. Man sieht, warum es unserer Elite so leicht fiel, mit Franco und Salazar, Branco und Pinochet zusammenzuarbeiten - und warum die chinesischen Kommunisten oder der militärische Usurpator in Pakistan durchaus Vergebung für ihr grobschlächtiges Menschenrechtsverständnis finden.

Widerstand gegen die amerikanische Hegemonie ist allerdings nicht nur eine Sache der Opposition gegen Washingtons Politik. Zweifellos besteht eine unbeabsichtigte Einheitsfront, die vom islamischen Fundamentalismus bis zum Vatikan und von indonesischen oder philippinischen Bandenkriegern bis zu großen Gruppen im Europäischen Parlament reicht, von randalierenden Jugendlichen auf den Straßen der Welt zu Londoner Leitartiklern und von solchen, die krude Parolen nachsprechen, zum College de France. Es gehören sogar - oder insbesondere - viele kapitalistische Interessen außerhalb der Vereinigten Staaten dazu. Schließlich schrieb kein Geringerer als der Sony-Chef über ein Japan, "das Nein sagen kann" - und es war der Chef einer großen europäischen Bank der mich kürzlich fragte, was man nur tun könne, "um den amerikanischen Moloch zu stoppen". Die Beteiligten dieser unfreiwilligen Einheitsfront haben allerdings nichts miteinander gemein, das zu einem kohärenten Projekt führen könnte. Die amerikakritischen Kapitalisten schauen gleichzeitig ziemlich beunruhigt nach Porto Alegre. Wir haben es mit einer ungeordneten, fragmentierten Welt zu tun, mit einander überkreuzenden, widersprüchlichen und wechselnden Allianzen, widerstreitenden Ideologien, visionären Wahrheitsansprüchen und blockierten oder entstellten Repräsentationsbedürfnissen, Bestrebungen, sich Gehör zu verschaffen. Wenn ich sehe, wie die Nahostkrise sich verschärft und zunehmend außer Kontrolle gerät, fühle ich mich an die Katastrophenserien der Jahre 1938 und 1939 am Vorabend des Zweiten Weltkriegs erinnert.

Die Globalisierung beinhaltet in Wirklichkeit mehr als einen Versuch der USA, der Welt ihre Hegemonie aufzuzwingen. Dieser Versuch ist zum Scheitern verurteilt, teils wegen der inneren Spannungen in der amerikanischen Gesellschaft, die er verschärft, teils wegen der von ihm provozierten Gegenkräfte. Eine Generation bildet schließlich nur einen kurzen Abschnitt der Menschheitsgeschichte: Wir müssen uns nur einmal fragen, welchen Anteil an der Weltwirtschaft und an der weltweiten Machtausübung China und Indien wohl in vierzig Jahren verlangen werden, um uns eine Welt von ganz anderen Dimensionen ausmalen zu können. In Wirklichkeit handelt es sich bei der Globalisierung um das Projekt, die universelle Anerkennung des Marktes zu erzwingen - als die wichtigste menschliche Institution. Dieser Prozess droht, die lebenden Sprachen ähnelnde Spezifik der unterschiedlichen Kulturen in Raum und Zeit einer alles gleich machenden Grammatik zu unterwerfen.

Die Welt ist, wie sie war - nur in stärkerem Maße

In diesem Sinne ist es bezeichnend (und vielleicht eine partielle Bestätigung Huntingtons), dass der Angriff vom 11. September auf muslimische Puristen zurückgeht - die sich mit wichtigen Modernisierungstendenzen im Islam selbst im Krieg sehen. Friedrich Engels sagte mit Blick auf das 16. Jahrhundert in Europa, in einer religiösen Epoche nähmen soziale Konflikte unausweichlich religiöse Ausdrucksformen an. Der Nahostkonflikt, die zwiespältigen Loyalitäten der Ölregimes in Saudi-Arabien und der Golfregion, erfahrene Demütigungen, Verarmung und Ohnmacht der Araber - dies alles löste eine Explosion des Hasses unter jüngeren Arabern aus; ihr marginaler Status, zwischen den Mühlrädern konträrer Zivilisationen, trieb sie zur zwanghaften Wiederaneignung eines Glaubens, den sie von ihren Großeltern und Urgroßeltern im wahrsten Sinne des Wortes borgten. Der Streit, ob sie religiösen oder politischen Motiven folgen, greift zu kurz: Es geht um beides zugleich. Zum Fundamentalismus der Muslime finden sich andernorts interessante Parallelen, im Hinduismus und Judaismus (die hartnäckigsten Gegner der Palästinenser sind von biblischen Visionen besessen), aber auch im Musterland der Modernität selbst, in den Vereinigten Staaten mit ihrer Fülle von Sekten und wiederbelebten Erlösungsreligionen.

Auch die Xenophobie in Europa weist in mancher Hinsicht rückwärts gewandte Züge auf, die fundamentalistischen Denkstrukturen ähneln: Der Wunsch nach Rückkehr in eine reinere, einfachere und ungestörte Vergangenheit. Die neuen Faschismen Europas (oder das Wiederaufleben der alten) lassen sich kaum als das Werk des neuen europäischen Kapitalismus erklären, eher als dessen Konsequenz. Le Pen verkündete nach seinem Wahlerfolg im April d.J., sozial gesehen stehe er links. Es besteht jedoch kein Zweifel, dass ein vulgärer Kapitalismus sich die neuen Faschismen (nach dem Motto panem et circenses) zu Nutze machen kann: als einen Modus politischer Befriedung - oder des politischen Quietismus. Allerdings verblüfft der Kontrast zwischen Berlusconis Allianz mit der Lega Nord und der Zurückweisung Le Pens - als potentiell katastrophal für die Wirtschaft des Landes - durch den Zentralverband des großen Kapitals in Frankreich. Wenn wir die politischen Konsequenzen des 11. September zu bilanzieren versuchen, können wir sagen: Die Welt ist, wie sie war nur in stärkerem Maße. Der Angriff ist entsprechend den politischen Neigungen und Vorurteilen der Massen gedeutet worden, die sich am Fuße unseres ideologischen Turms von Babel drängeln. Er hat der amerikanischen Partei der Ordnung die Gelegenheit geboten, den Sieg über ihre in- und ausländischen Gegner zu suchen. Im Inland fiel ihr ein gewaltiger, aber fast sicher kurzzeitiger Triumph zu. Außenpolitisch steht sie vor einer Serie zu überwindender Hindernisse, die sich als endlos erweisen dürfte. Schon hat sie einige eindeutige Rückschläge zu verzeichnen: den sehr begrenzten Erfolg des Afghanistan-Feldzugs, das blamable Scheitern ihrer Handlanger in Caracas, die schleichende Krise der Blairschen Führung (die sich in dem Maße verschärfte, in dem der Brite die Nähe des Weißen Hauses suchte), vor allem aber die chaotische Situation im Heiligen Land, aus der die Bush-Administration sich - und die Welt - offenbar durchaus nicht herauszuziehen vermag.

Der Angriff auf den Irak trägt Züge einer angekündigten Katastrophe - welche anzurichten Washington dank des Widerstands der Araber und der Widerspenstigkeit der restlichen Welt möglicherweise nicht gelingen wird. Nach dem weltweiten Aufschrei der Empörung über den Terror bleibt als konkrete Folge nur Scharons Versuch, die Terrorisierung der Palästinenser durch Israel zu legitimieren, die amerikanische De-facto-Legitimierung der russischen Unterdrückungsmaßnahmen in Tschetschenien und des vergleichbaren Vorgehens der Pekinger Führung in Westchina sowie das Händeringen über die indisch-pakistanische Konfrontation. Buchstäblich jedes Problem, das die Geschichte vor dem 11. September aufwarf, ist uns erhalten geblieben, akuter denn je. Die Unzulänglichkeit der Vereinten Nationen, die Inkompetenz der internationalen Finanzinstitutionen, Versagen oder Unangemessenheit fast aller Entwicklungshilfeprogramme, die Ausbreitung regionaler Krisen und Unruhen - all das springt mehr denn je ins Auge. Die Europäische Union hat sich nicht zu einem Gegengewicht gegen die Vereinigten Staaten entwickelt, einer politischen Macht, die international mehr Rücksicht auf die Realitäten, auf die Bedürfnisse anderer Völker nimmt und sich durch eine sozialere Wirtschaftspolitik auszeichnet.

Sie hat die Rhetorik der christlichen Soziallehren und der Sozialdemokratie mit der Wirklichkeit einer aggressiven Marktgesellschaft kombiniert - und sich in internationalen Fragen kaum unabhängiger von den USA gemacht. "Die Phantasie an die Macht", sagten unsere Studenten - vor einer Generation. Was diese Generation erreicht hat, der Wandel im moralischen Klima und den sozialen Einrichtungen der Gesellschaften des Westens, die USA eingeschlossen, den die 68er Bewegungen herbeiführen halfen, bleibt beträchtlich. Aber was uns heute fehlt, ist genau dies: Phantasie, neue Vorstellungskraft für den Umgang mit den globalen Problemen. Eine neue Art des ökonomischen Denkens wäre gefragt, die quantitative Modellrechnungen durch qualitative ergänzt, und neue Formen staatsbürgerlicher Teilhabe, die über den Wahlakt hinausreichen. Ich bin mir des Einwands bewusst, dass große Teile der Welt (Florida eingeschlossen) korrekte Wahlverfahren als ersten Schritt willkommen heißen würden; doch haben diejenigen, die weiter sind, die Verpflichtung, nicht auf der Stelle zu treten, sondern den Prozess voranzutreiben und auszuweiten, indem sie ausgehend von dem Punkt, an dem sie stehen, neue Möglichkeiten erobern. Es käme auch darauf an, das Lamento über den Niedergang des Nationalstaats durch Vorschläge dafür zu ersetzen, wie auf kritischen Feldern kultureller und wirtschaftlicher Schutzbedürfnisse und sozialer Experimente der staatliche Handlungsspielraum zu erweitern wäre. Dazu passen würden Ideen, wie die Repräsentativität internationaler Institutionen ausgeweitet werden könnte - oder wie neue auszusehen hätten. Ganz wesentlich käme es schließlich auf eine Art kritischer Ökumene des Denkens an - auf die Anerkennung des Eigenwerts der je spezifischen Formen kulturellen und religiösen Bewusstseins und das Bestreben, im fortwährenden Disput den Boden der Ko-Existenz zu bereiten.

1) Vgl. Michael Lind, Die Israel-Lobby in den Vereinigen Staaten, in: "Blätter". 6/2002, S. 685-697 - D. Red.
Zum Thema 9/11 schrieben in den "Blättern" unter anderen: William Pfaff, Drei Lektionen des 11. September 2001, 10/2001 Sibylle Tönnies, Krieg oder Weltpolizeiaktion, 10/2002 Arthur Heinrich, Die Silhouette von New York, 11/2001 Wolfgang Fach, Der amerikanische Ernstfall, 11/2001 Norman Birnbaum, Brief aus Amerika, 11/2001 Ernst-Otto Czempiel, "Das Verständnis von Bedrohung umpolen". Internationale Konsequenzen der Terroranschläge vom 11. September 2001, 11/2001 Claus Offe, Die Neudefinition der Sicherheit, 12/2002 Karl D. Bredthauer, Zivilmacht im Westen, 1/2002 Jürgen Habermas, Fundamentalismus und Terror. Antworten auf Fragen zum 11. September, 2/2002 Immanuel Wallerstein, Amerika und die Welt: Die Twin Towers als Metapher, 5/2002 Sowie zahlreiche Dokumente u. a.: Der "Bündnisfall" nach Art. 5 des Nato-Vertrags, 10/2001 - Resolution 1368 und 1373 des UN-Sicherheitsrats, "Krieg gegen den Terror", Rede von Georg W. Bush am 20. September 2001, Regierungserklärung von Gerhard Schröder am 11. Oktober 2001, 11/2001 * Antrag der Bundesregierung auf Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte sowie Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen und Positionspapier der acht Grünen-Abgeordneten, 12/2001 * "Achse des Bösen, Rede von George W. Bush am 29. Januar 2002, 3/2002 * What we're fighting for - Ein Manifest amerikanischer Intellektueller; "Eine Welt der Gerechtigkeit und des Friedens sieht anders aus" - Eine Antwort auf das Manifest; Ein Brief von US-Bürgern: An unsere Freunde in Europa, 6/2002 * Die 60 Amerikaner antworten den deutschen Kollegen, 9/2002

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