Ausgabe August 2004

Boris Tadic: Kann ich endlich anfangen...?

Erste Ansprache des neuen serbischen Präsidenten vom 27. Juni 2004 (Wortlaut)

27. Juni 2004, zweite Runde der serbischen Präsidentschaftswahlen, diesmal ohne die früher so hinderliche Rate der Wahlbeteiligung - "50-Prozent-plus-eine-Stimme". In der Endausscheidung stehen sich Tomislav Nikolic (*1952), Bauingenieur und Vize-Chef der Serbischen Radikalen Partei (SRS), das heißt Statthalter des Radikalen-Führers Vojislav Seselj, der seit zwei Jahren vor dem UNO-Tribunal in Den Haag angeklagt ist und Boris Tadic (*1958), Psychologe, seit 1990 Mitglied der Demokratischen Partei (DS) und seit Februar 2004 deren Vorsitzender, gegenüber. Nachdem Tadic im ersten Wahlgang am 13. Juni noch hinter Nikolic lag, meldeten die Demoskopen schon kurz nach der Schließung der Wahllokale am 27. Juni das später bestätigte Ergebnis: Tadic hat überzeugend gewonnen. Tadic sieht sich als kreativen Nachfolger des charismatischen DS-Führers Zoran Djindjic, der im März 2003 ermordet wurde. Konkret heißt das, dass er den alten Djindjic-Gegner Premier Kostunica auf eine Djindjic-Linie zwingen wird: Schluss mit dem nationalistischen Geschwätz von Serbiens "Ehre" und "Würde" (das auch Konkurrent Nikolic im Wahlkampf inflationär gepflegt hatte), rückhaltlose Kooperation mit dem Haager Tribunal, "europäische Orientierung" auf EU und NATO, fundamentale Wirtschaftsreformen (denn eine funktionierende Wirtschaft ist die Voraussetzung politischer Stabilität), eine neue Definition von "Patriotismus" als Einsicht in die Notwendigkeiten einer schmerzhaften Transition, Serben-Mut vor internationalen Thronen nur aus berechtigten Anlässen (wie der Kosovo-Politik der UNO). "Kann ich endlich anfangen", rief er der enthusiasmierten Menge seiner Anhänger am Wahlabend zu, die kaum zur Ruhe zu bringen war. In einem weiteren Sinne steht dieser Ruf für den Mann, sein Konzept, seine "Vision" von Serbien. Und der Ruf wurde im Westen gehört: Am 1. Juli strich der Londoner Klub Serbien 1,7 Milliarden Schulden.*

Meine Damen und Herren, ich sehe diese Wahlen als Beweis der Einmütigkeit des demokratischen Serbiens an. Sie haben dessen Fähigkeit offenbart, die historisch entscheidenden Momente zu erkennen, und ich denke, dass der jetzige Moment ein solcher ist. Diese Wahlen demonstrierten, dass in unserem Land ein ausgeprägtes Bewusstsein für die Interessen von Nation und Staat besteht, auch für die Zeit, in der wir leben, desgleichen für die Wünsche der jüngsten Generation unseres Volks. Ich bin überzeugt, dass die Wahlergebnisse und das Wahlverhalten der Bürger nochmals bestätigt haben, dass der Weg Serbiens unumkehrbar am 5. Oktober 2000 (= Sturz Milosevics, A.d.Ü.) bestimmt wurde. Ich möchte allen danken, die mich unterstützt haben, ich danke den serbischen Bürgern, die für diese Politik, diese Ideen und diese politische Orientierung, die lebenswichtig für Serbien und seine Zukunft sind, votierten. Ich danke auch den politischen Parteien und ihren Führern, die zu gewissen Zeiten nicht mit der Demokratischen Partei - deren Vorsitzender ich heute bin, wie es vor mir Zoran Djindjic war - eins waren, dass sie ausreichend Gespür und Bewusstsein der Lebensinteressen dieses Landes und seiner Bürger besaßen und im entscheidenden Moment die Grundideen unterstützten, die den europäischen Weg Serbiens verkörpern. Zu diesem Weg gibt es keine Unterstützung, er erfordert die Unterstützung der Bürger für Konzepte, die wir initiieren.

Meinem Gegner möchte ich zu den vielen Stimmen gratulieren, die er bekommen hat; ich respektiere dieses Ergebnis vollauf und sehe es als Beleg dafür an, dass Serbien genug hat von politischer Gewalt, politischer Aggressivität, Betrügereien, Lügen. Serbien hatte zu viele politische Konflikte und Auseinandersetzungen, die das ganze vergangene Jahrhundert gekennzeichnet haben, wie auch zu viele Versuche, zu Beginn des 21. Jahrhunderts den Konflikt erneut zum Grundelement unserer Politik zu machen. Ich glaube, dass diese Wahlen die Entschlossenheit der Bürger ausdrückten, eine derartige "Politik" zu besiegen - eine obsolete Politik der Vergangenheit. Wir alle haben heute umso größere Möglichkeiten, je mehr wir uns auf eine andere Politik, eine andere politische Kommunikation, eine andere Kultur stützen, was alles in unserem Volk, in unseren nationalen Werten angelegt ist und von uns erneuert werden muss.

Ich meine, es ist heute an der Zeit, ein paar wichtige Fragen anzusprechen. Ich werde vor allem für die politische Stabilität kämpfen und ich glaube, dass alle Parteien der demokratischen Orientierung in der Verteidigung dieser Stabilität mit dem Präsidenten Serbiens und anderen staatlichen Institutionen zusammenstehen werden. Diese Stabilität gründet sich auf die Beziehungen zwischen den politischen Institutionen, auf die Art des wechselseitigen Umgangs, auf die Definition unserer Prioritäten, auf die Aufteilung unserer Aufgaben und auf die Erfüllung unserer Verpflichtungen. Lassen Sie mich hinzufügen, dass wir heute eine moderne und kraftvolle Verfassung als Rechtsbasis unserer Zukunft benötigen. Die Verabschiedung einer solchen Verfassung gehört zu den Prioritäten, die wir jetzt vor uns haben.

Es ist auch wichtig zu bemerken, dass die Demokratische Partei ihre Politik in einem schweren Augenblick ihrer Existenz bestimmt hat. Erst wurde ihr Gründer (Zoran Djindjic) ermordet, dann strebten politisch die auseinander, die am 5. Oktober 2000 gemeinsam den europäischen Weg Serbiens frei gemacht hatten, schließlich hatten wir Ende letzten Jahres eine Krise eigener Art (= im Gefolge der zwei gescheiterten Präsidentenwahlen, A.d.Ü.) zu überstehen. Wir haben unsere politische Marschrichtung bestimmt, die ganz im Geist des 5. Oktober steht, und wir haben sie bestätigt: Die Demokratischen Partei stellte einen Präsidentschaftskandidaten auf, der ein Repräsentant eben dieser Grundideen und Grundwerte der Demokratischen Partei Zeit ihres Bestehens ist.

Wichtig ist, und das betone ich vor allem, dass dieses Land nicht bei der europäischen Integration zurückfällt, auch nicht bei regionalen und sicherheitspolitischen Integrationen. Die Partnerschaft für den Frieden und die verschiedenen anderen Formen politischer und militärischer Integrationen sind diesem Land nicht oktroyiert worden - sie sind der Wunsch dieses Landes und seiner Bürger. Gerade die jetzigen Wahlen haben meiner Ansicht nach bestätigt, dass es von dieser Auffassung von Politik und politischer Zukunft kein Abrücken gibt und dass die Bürger dieses Landes mehrheitlich für diese Art von Politik sind.

Kosovo-Metohija (=serbischer Name für das Kosovo, A.d.Ü.) ist ein weiteres großes Problem, das unsere politische Handlungsfähigkeit belastet. Ich möchte unser absolutes Eintreten für eine politische Lösung des Kosovo-Konflikts herausstreichen. Ich versichere, dass der Staat Serbien beabsichtigt, mit internationalen Institutionen bei der Suche nach einer solchen politischen Lösung zusammenzuarbeiten und die eigenen legitimen nationalen und staatlichen Rechte auf das Kosovo und die Rechte der Bürger serbischer Nationalität und die aller anderen Bürger des Kosovo zu verteidigen, unter voller Achtung der Resolution 1244 und des Militärisch-Technischen Abkommens von Kumanovo (= Rückzug der damaligen Jugoslawischen Armee aus dem Kosovo, A.d.Ü.).

Von besonderer Wichtigkeit ist der Staatenbund Serbien-Montenegro - eine Frage, die für uns politisch, historisch und funktional wichtig ist. Ich bin für ein funktionales Herangehen an alle staatsrechtlichen Lösungen. Ich glaube einfach, dass politische Projekte, die funktionieren, auch bestehen sollten, während nicht funktionierende bald in Frage gestellt werden. Als Politiker meine ich, dass der Staatenbund Serbien-Montenegro eine Chance verdient. Er soll dem serbischen und montenegrinischen Volk viele Vorteile verschaffen, natürlich auf den Prinzipien der Gleichberechtigung, gegenseitigen Achtung und des ökonomischen Interessenausgleichs. In diesem Sinne möchte ich sagen, dass wir, bevor wir irgendein anderes Land besuchen, das Inland unseres Staatenbunds besuchen werden, vor allem Montenegro. Das wird nicht nur eine symbolische Geste sein, sondern eine sehr reale, die meine Vision von Regionalpolitik widerspiegelt, ein Ausdruck dessen, was die Basis unserer regionalen Zukunft ist.

Bevor ich fortfahre, gebe ich den Fotoreportern Gelegenheit, einen schwitzenden Präsidenten zu knipsen. Mit Reportern muss man ein gutes Verhältnis bewahren, also knipsen Sie. Aber zugeben muss ich schon, dass im Zentrum der Demokratischen Partei bald eine neue Aircondition angeschafft werden sollte, der Wahlkampf hat schließlich genug Schweiß gekostet.

Ich glaube, Serbien hat heute gewonnen. Es war ein großer Sieg. Die Menschen sind heute auf die Straßen gegangen und haben ihre Zufriedenheit geäußert. Nicht meinetwegen, füge ich gleich hinzu, denn es war nicht mein Sieg. Gewonnen hat die Idee Serbien, es war der Sieg unserer gemeinsamen Ideen und unserer gemeinsamen Zukunft - unserer europäischen Zukunft! Ich habe das im Wahlkampf immer wieder gesagt und wiederhole es heute. Und darüber freuen sich auch die Bürger Serbiens. Ich möchte für ein besseres Leben kämpfen, und ökonomische Lösungen stehen an der Spitze aller unserer politischen Lösungen und Absichten. Der Kampf für ein besseres Leben jedes Bürgers und jeder Familie ist eine patriotische Aufgabe. Die höchste Form von Patriotismus ist der Kampf für einen höheren Lebensstandard unserer Bürger. Ich bin kein Politiker, der sich in hohen Träumen verliert. Ich bin ein solider Mensch, ich möchte eine realistische Politik betreiben. Eine wirklich machbare Politik. Aber gemeinsam müssen wir unsere Wirtschaftsziele abstecken, in ökonomischer Hinsicht unsere Gesellschaft reformieren und eine starke, machtvolle Wirtschaftsstruktur aufbauen, die ein Garant aller unserer legitimen politischen Ziele sein wird - in der Außenpolitik, in der Verteidigungspolitik, mit Blick auf Kosovo-Metohija und welche Bereiche sonst noch auf der Tagesordnung stehen.

Was bedeutet für mich ein besseres Leben? Unter einem besseren Leben verstehe ich einen höheren Lebensstandard für unsere Bürger, ein sicheres Leben für die Familien, bessere Renten, höheres Kindergeld. Ich habe doch nicht zufällig im Wahlkampf von Kindern als unseren Erben gesprochen, die unsere Namen und unsere politische, technische und moralische Existenz fortführen. Ich habe davon gesprochen, weil es die normale Vision einer Gesellschaft ist, die es im letzten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts bei uns größtenteils nicht gab. Ein besseres Leben heißt für mich auch, für ein optimistischeres Serbien zu kämpfen, für ein Serbien mit größeren und höheren Idealen und einer ausgearbeiteten Idee seiner Zukunft. Besseres Leben bedeutet auch eine normalere Kommunikation unter politischen Parteien und mit politischen Opponenten - keine Lügen mehr im Dienste politischer Zwecke, keine Unwahrheiten gegen politische Gegner, keine straffreien Anklagen auf zweifelhafter Basis, aber Kampf um elementare Wahrheiten, Achtung der Würde auch des politischen Gegners. Alle Bürger haben gleiche Rechte, aber sie sind nicht alle gleichförmig, müssen jedoch gleiche Chancen haben, um in Abhängigkeit von ihren persönlichen Talenten und Fähigkeiten im Leben voranzukommen. Zu einem besseren Leben gehört auch der energische Kampf gegen Korruption und Verbrechen - es darf doch nicht sein, dass Drogendealer oder Gewalttäter mit zwei, drei Jahren Haft davonkommen. Besseres Leben heißt, dass jeder seine Arbeit verrichtet, dass Ehrlichkeit herrscht und wir alle in einer normalen Gesellschaft leben, die menschliche Werte achtet.

Ich mag es nicht, wenn in der Politik zu viele Versprechen gegeben werden. Aber was ich im Wahlkampf versprochen habe, werde ich halten: Ich werde ein Bürgerbüro (narodna kancelarija) eröffnen, ich werde ein Botschafter der serbischen Wirtschaft sein und dieses Land so im Ausland repräsentieren, und ich werde mich für das Aufkommen einer neuen Politikergeneration einsetzen. Und wenn ein Besserer mich im Amt ablöst, dann ist das völlig in Ordnung. Ich möchte an jenem Projekt beteiligt sein, dessen oberstes Ziel die Schaffung einer strahlenden Zukunft ist. Die jungen Menschen wollen hier leben, und viele, die gegangen sind, haben mich in diesen Tagen angerufen und gefragt, ob sie zurückkommen sollen. Ich habe ihnen gesagt: Kommt zurück! Wir brauchen die Rückkehr junger und begabter Menschen, die ihren Job verstehen. Die müssen wir in unsere politischen Strukturen integrieren, denn auf ihre Talente können wir uns verlassen.

Ich sagte, dass Serbien stolz sein sollte wie Eltern, die stolz auf ihre Kinder sind. Aber wie kann man stolz sein auf Politiker, die große Ideale verbreiten, für die dann die Menschen sterben müssen? Serbien darf nie wieder von Leuten geführt werden, die Verderben brachten für die Bürger und Schrecken für die Jugendlichen, die aus dem Land flüchteten. Serbien braucht keinen Präsidenten für große Taten - es braucht einen Präsidenten, der sein Amt versieht. Ich bin nicht gewählt worden, damit man meinen Namen in Großbuchstaben schreibt. Ich bin für ein Amt gewählt und soll eine Tätigkeit ausüben. Serbien geht großen Schwierigkeiten entgegen - wer anderes behauptet, betrügt die Bürger! Die Schwierigkeiten sind riesig, und im Unterschied zu Präsidenten reicher Länder muss der Präsident dieses Landes eine Riesenarbeit verrichten, wenn er dem Land und seinen Bürgern von Nutzen sein will.

*Einleitung und Übersetzung besorgte Wolf Oschlies. - D. Red.

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