Ausgabe Juni 2005

Das Ende des Faschismus, nicht aber das Ende der Unterdrückung

Rede von US-Präsident George W. Bush vor den Staatsoberhäuptern der drei baltischen Länder am 7. Mai 2005 in Riga (Auszüge)

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Die baltischen Staaten haben einen der dramatischsten Transformationsprozesse der neueren Geschichte erlebt, die Verwandlung aus captive nations in NATO-Verbündete und EUMitglieder binnen kaum eines Jahrzehnts. Die Völker Lettlands, Estlands und Litauens haben gezeigt, dass Freiheitsliebe stärker ist als imperialer Machtwille. Und heute stehen Sie auch jenseits Ihrer Grenzen für die Freiheit ein, damit anderen das Unrecht erspart bleibt, das Sie erleiden mussten. Das amerikanische Volk bewundert Ihren moralischen Mut im Einsatz für die Sache der Freiheit.

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Das Gedenken an einen Sieg, der sechs Jahrzehnte zurückliegt, macht uns ein Paradox bewusst. Für den größten Teil Deutschlands führte die Niederlage zur Freiheit. Für den größten Teil Mittel- und Osteuropas brachte der Sieg das eiserne Regiment eines anderen Imperiums mit sich. V-E-Day [der Tag des Sieges in Europa] bezeichnete das Ende des Faschismus, nicht aber das Ende der Unterdrückung. Die Übereinkunft von Jalta folgte der ungerechten Tradition des Münchner Abkommens und des Molotow-Ribbentrop-Paktes. Ein weiteres Mal spielte die Freiheit kleiner Nationen keine große Rolle, als die Mächtigen miteinander verhandelten. Doch dieser Versuch, um der Stabilität willen die Freiheit zu opfern, hinterließ einen geteilten und instabilen Kontinent. Der Gefangenschaft von Millionen in Mittel- und Osteuropa wird man sich als eines Unrechts von weltgeschichtlichem Ausmaß erinnern.

Das Ende des Zweiten Weltkriegs stellte mein Land vor unausweichliche Fragen: Hatten wir gekämpft und große Opfer gebracht, um schließlich nur die permanente Teilung Europas in bewaffnete Lager zu erreichen? Oder verlangten die Sache der Freiheit und die Rechte der Nationen mehr von uns? Schließlich kamen Amerika und unsere starken Verbündeten zu einem Entschluss: Wir würden uns mit der Befreiung der Hälfte Europas nicht zufrieden geben – und wir würden unsere Freunde hinter einem Eisernen Vorhang nicht vergessen. Wir verteidigten die Freiheit Griechenlands und der Türkei, versorgten Berlin über eine Luftbrücke und verbreiteten die Botschaft der Freiheit über den Äther. Wir setzten uns für Dissidenten ein und forderten ein Imperium dazu heraus, eine verhasste Mauer niederzureißen.

Schließlich begann unter dem Druck von außen und dem Gewicht seiner inneren Widersprüche der Zusammenbruch des Kommunismus. Wir setzten ihm die Vision eines Europa entgegen, das vollständig, friedlich und frei sein würde – in dem keine Diktatoren mehr aufsteigen und alten Groll ausschlachten können, in dem es nicht immer aufs Neue zu Konflikten und Kriegen kommt.

Während dieser Jahrzehnte des Kampfes und der Entschlossenheit machten die baltischen Völker, erfüllt von Leid und Hoffnung, eine lange Nachtwache durch. Obwohl Sie in der Isolation leben mussten, standen Sie nie allein. Die Vereinigten Staaten weigerten sich, Ihre Besetzung durch ein Imperium anzuerkennen. Die Flaggen des freien Lettland, Estland und Litauen – zu Hause illegal – flatterten stolz über diplomatischen Vertretungen in den Vereinigten Staaten. Und als Sie sich im Protest vereint die Hände reichten und das Imperium zerfiel, da wurde das Erbe von Jalta endlich begraben, ein für allemal. Die Sicherheit und die Freiheit der baltischen Völker bedeuten jetzt mehr als eine edle Hoffnung; sie sind das Unterpfand der Allianz, die uns vereint. Wenn Sie Ihre Freiheit verteidigen, werden Sie niemals allein stehen.

Aus dem Blickwinkel dieses neuen Jahrhunderts erkennen wir das Ende des Kalten Krieges als Bestandteil einer noch breiteren Bewegung in unserer Welt. Von Deutschland und Japan nach dem Zweiten Weltkrieg über Lateinamerika und Asien nach Mittel- und Osteuropa sich ausbreitend ist der Fortschritt der Freiheit die große Erfolgsgeschichte unserer Zeit. Und diese Geschichte hält wichtige Lektionen bereit. Wir haben gelernt, dass freie Nationen mit der Zeit stärker werden, weil sie durch die Kreativität und den Unternehmergeist ihrer Menschen aufsteigen. Wir haben gelernt, dass Regierungen, die ihren Bürgern Rechenschaft schulden, Frieden halten, während Diktaturen Vorurteile und Hass schüren, um von ihrem eigenen Versagen abzulenken. Wir haben gelernt, dass die Skeptiker und Pessimisten sich oft irren, weil sich Männer und Frauen in jeder Kultur, gibt man ihnen nur die Gelegenheit dazu, für die Freiheit entscheiden. Wir haben gelernt, dass die Freiheit selbst nach langem Warten in der Finsternis der Tyrannei plötzlich heraufziehen kann, wie der anbrechende Tag. Und wir haben gelernt, dass das Verlangen, sich selbst zu regieren, oft durch Patriotismus genährt und beflügelt wird, durch die Überlieferungen, durch die Helden und durch die Sprache des Landes, in dem man geboren ist.

Wir haben aber auch gelernt, dass Souveränität und Herrschaft der Mehrheit nur die Anfangsgründe der Freiheit ausmachen. Die Verheißung der Demokratie beginnt mit Nationalstolz und Unabhängigkeit und Wahlen. Aber dort endet sie nicht. Erfüllt wird die Verheißung der Demokratie durch Minderheitenrechte, durch Rechtsstaatlichkeit und Rechtsgleichheit, durch eine integrative Gesellschaft, die einen jeden Menschen einschließt. Ein Land, das in feindliche Gruppen zerfällt und über altem Groll brütet, kann nicht vorankommen und läuft Gefahr, in die Knechtschaft zurückzufallen. Ein Land, das all seine Bewohner unter gemeinsamen Idealen vereint, wird seine Stärke und Zuversicht vervielfachen können. Die erfolgreichen Demokratien des 21. Jahrhunderts werden nicht diejenigen sein, die sich durch Blut und Boden definieren. Erfolgreiche Demokratien werden sich durch ein weiter gefasstes Ideal der Staatsbürgerschaft auszeichnen – gegründet auf gemeinsame Prinzipien, gemeinsame Verantwortlichkeiten und die Achtung aller. [...]

Lettland steht vor den Herausforderungen, welche ethnische Diversität mit sich bringt, und es setzt sich mit diesen Herausforderungen durchweg friedlich auseinander. Sie haben jetzt, unbeschadet der historischen Ursachen, eine multi-ethnische Gesellschaft – wie mir mein Besuch zeigt. Kein Unrecht der Vergangenheit sollte Sie jemals spalten oder Ihren beachtlichen Fortschritt verlangsamen dürfen. Während Sie ihre lettische Identität und Sprache bewahren, tragen Sie zugleich die Verantwortung, allen entgegenzukommen, die an der Zukunft Lettlands teilhaben. Eine Geisteshaltung der Aufgeschlossenheit und Toleranz wird Ihrem Land Einheit und Stärke sichern. Und zugleich haben die Minderheiten hier eine Verantwortung zu erfüllen – nämlich Bürger zu sein, die nach dem Wohl des Landes streben, in dem sie leben. Als integrative, friedliche Gesellschaften können alle baltischen Länder einer jeden Nation, die den Weg der Freiheit und der Demokratie beschreitet, Vorbilder sein.

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Alle Länder, die an Russland grenzen, werden von der Ausbreitung demokratischer Werte profitieren – und Russland selbst desgleichen. Stabile, prosperierende Demokratien sind gute Nachbarn, von denen Freiheit ausgeht und keinerlei Bedrohung für irgendwen. Wir Vereinigten Staaten haben nördlich wie südlich von uns friedliche Nationen zu Nachbarn. Wir halten uns nicht für eingekreist, wir betrachten das als Segen. Auch in dieser Region kann das Schüren von Ängsten und die Ausbeutung alter Rivalitäten keinem guten Zweck dienen. Den Interessen Russlands und aller Länder dient die Zunahme der Freiheit, die zu Wohlstand und Frieden führt. Russlands Führer haben bei der inneren Entwicklung des Landes während der vergangenen 15 Jahre große Fortschritte gemacht. Präsident Putin erklärte kürzlich, Russlands Zukunft liege in Europa – und Amerika pflichtet dem bei. Weiter sagte er, dass Russlands demokratische Zukunft nicht von außen bestimmt werden würde – und auch hier pflichtet Amerika bei. Diese Nation wird ihren eigenen Weg gehen, im Einklang mit der eigenen Geschichte. Aber alle freien und erfolgreichen Länder haben einige Charakteristika miteinander gemein: Glaubensfreiheit, Pressefreiheit, wirtschaftliche Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Machtbegrenzung durch checks and balances. Auf lange Sicht wird es die Stärke der russischen Demokratie sein, von der Russlands Größe abhängt. Und ich glaube, die Menschen in Russland schätzen ihre Freiheit und werden sich mit weniger nicht zufrieden geben.

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Heute vor 60 Jahren, am 7. Mai, reagierte die ganze Welt mit Freude und Erleichterung auf die Niederlage des Faschismus in Europa. Am Tag darauf verkündete General Dwight D. Eisenhower, dass "die mächtigste Eroberungsmaschine der Geschichte ganz und gar zerstört" war. Doch die großen Demokratien erkannten bald, dass wir vor einer neuen Aufgabe standen – nicht bloß einen einzelnen Diktator zu schlagen, sondern die Idee der Diktatur auf diesem Kontinent zu besiegen. Während der Jahrzehnte dieses Kampfes mussten einige die Herrschaft von Tyrannen erdulden und alle im Furcht erregenden Schatten des Krieges leben. Aber weil wir den Blick hoben und unseren Grundsätzen treu blieben, siegte die Freiheit.

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