Ausgabe April 2006

Abriss als Chance?

Das Scheitern des Stadtumbau Ost

In Ostdeutschland grassiert das Vakuum, etwa 1,3 Millionen Wohnungen stehen leer. Das sieht nicht nur schlecht aus, sondern führt auch zu enormen Problemen bei Wohnungsunternehmen, Immobilienbanken und Infrastrukturbetreibern. Um dem Leerstand Abhilfe zu schaffen, haben Bund und Länder vor vier Jahren ein 2,7 Mrd. Euro schweres Programm „Stadtumbau Ost“ aufgelegt, mit dem bis 2010 rund 350000 Wohnungen abgerissen werden sollen. Dieses Abrissprogramm hat mittlerweile fast überall in Ostdeutschland begonnen und beschränkt sich bei weitem nicht auf die Beseitigung von ein paar Bausünden – in vielen Städten stehen ganze Wohngebiete zur Disposition.

Die Herangehensweise ist dabei gleich in mehrfacher Hinsicht neu. Erstens handelt es sich nicht um eines der zahlreichen „Nachholprogramme“, die Ausstattungslücken zwischen ost- und westdeutschen Bundesländern schließen sollen; der „Stadtumbau Ost“ reagiert vielmehr auf eine Problemlage, die in dieser besonderen Ausprägung erst durch die Fehlleistungen der bundesdeutschen Transformationspolitik der 90er Jahre entstand. Zweitens fördert das Programm – erstmals in der Geschichte der deutschen Wohnungspolitik – den ersatzlosen Abriss von Wohnungen und nimmt damit, zumindest für einen begrenzten Sektor, Abschied von der Wachstumslogik der bisherigen Förderpolitik. Drittens beansprucht es, dieses Vorgehen mit der Zielorientierung einer „nachhaltigen Stadtentwicklung“ zu verbinden.

Insofern kann man den Stadtumbau Ost in der Tat als grundlegenden Richtungswechsel in der Stadtentwicklungspolitik bezeichnen: von der Förderung und Steuerung des Wachstums hin zur Gestaltung der Schrumpfung. Er stellt nicht nur entscheidende Weichen für die Zukunft ostdeutscher Städte, sondern dürfte angesichts demographischer Entwicklungen auch in einer Reihe westdeutscher und europäischer Städte Nachahmer finden.

Nach vier Jahren Stadtumbaupraxis ist es an der Zeit, eine erste Zwischenbilanz zu ziehen. Welche Erfahrungen sind bislang in der Praxis gemacht worden? Werden die Probleme des ostdeutschen Wohnungsmarktes gelöst? Gelingt nach den frustrierenden Erfahrungen der 90er Jahre in Ostdeutschland nunmehr eine „nachhaltige Stadtentwicklung“? Erweist sich der Osten damit gar als „Avantgarde“1 für eine Stadtentwicklung ohne Wachstum? Blickt man nur zehn Jahre zurück, kann man feststellen, dass in der ostdeutschen Stadtentwicklung eine Kehrtwende vollzogen wurde. Noch Mitte der 90er Jahre stand vor allem der schnelle Ausbau des Wohnungsangebotes – die Sanierung der verfallenden Altstädte und die Errichtung neuer Wohnparks und Eigenheimsiedlungen – ganz oben auf der Prioritätenliste der Politik. Aufgrund der damals noch vorhandenen Wohnungsknappheit und gefördert durch enorme Steuererleichterungen und massive staatliche Zuschüsse wurde überall gebaut. Zwischen 1991 und 1999 entstanden auf diese Weise 773368 neue Wohnungen – zu 85 Prozent als Neubauten, meist „auf der grünen Wiese“.

Dieser Bauboom verlief allerdings gegenläufig zu den Basistrends der ostdeutschen Volkswirtschaft, die nach der Währungsunion 1990 in sich zusammenbrach. Die Folge des wirtschaftlichen Niedergangs war eine Abwanderungswelle in die prosperierenden Regionen Westdeutschlands. Allein durch den Wegzug „in den Westen“ hat Ostdeutschland zwischen 1989 und 1999 rund 1,2 Millionen Einwohner, etwa acht Prozent der Bevölkerung, verloren. Zu der Abwanderung gesellten sich demographische Probleme: Da auch die Geburtenzahlen ab 1990 rapide zurückgingen, verringerte sich die Bevölkerung um weitere 700000 Einwohner.

Auf der einen Seite wurden also fast 800000 Wohnungen neu gebaut, auf der anderen Seite sank die Zahl derjenigen, die Wohnungen nachfragen konnten, um fast zwei Millionen. Eine solche Rechnung konnte nicht aufgehen, und so folgte auf den Bauboom bereits Ende der 90er Jahre die große Ernüchterung. Die Ersten, die die nun anstehende Schrumpfung zu spüren bekamen, waren die großen Wohnungsunternehmen. Bei ihnen führte die Schere zwischen wachsendem Angebot und sinkender Nachfrage zu einem rasant anwachsenden Wohnungsleerstand, der sich in einer deutlichen Verschlechterung des Verhältnisses von Einnahmen und Kosten niederschlug.

„Mehr Stadt durch weniger Häuser“

Um das Problem klarer zu analysieren, aber auch als Ergebnis intensiven Lobbyings der organisierten Wohnungswirtschaft, setzte die Bundesregierung schließlich 1998 eine Expertenkommission ein, die mit dem alarmierenden Befund für Furore sorgte, dass in Ostdeutschland rund eine Million Wohnungen, also etwa ein Sechstel des Gesamtbestandes, leer stünden.2 In der Folge wurde die Auseinandersetzung mit den Problemen ostdeutscher Städte nach jahrelanger Tabuisierung auch zu einem bundespolitischen Thema. Bund und Länder reagierten schnell und legten im Herbst 2001 ein neues Förderprogramm auf, das erstmals den ersatzlosen Abriss von Wohnraum bezuschusste.

Stadtentwicklungspolitisch bewegte man sich damit allerdings auf dünnem Eis: Neu war nicht nur ein Bevölkerungsrückgang in dieser Größenordnung, sondern zugleich die damit verbundene Frage, wie die nun anstehende „Schrumpfung“ gesteuert werden sollte. Denn auch wenn die Notwendigkeit von Abrissen kaum zu bestreiten war, stellte sich doch die Frage, wie die konkreten Abrisse in ein Konzept von Stadtentwicklung sinnvoll würden eingebettet werden können. Schließlich stellen Abrisse nach Gusto der jeweiligen Hauseigentümer grundsätzlich etwas anderes als „nachhaltige Stadtentwicklung“ dar.

Mit dem Bund-Länder-Programm „Stadtumbau-Ost“ versucht die Stadtentwicklungspolitik daher einen Spagat: Einerseits war der Stadtumbau als Konsolidierungsprogramm für den lokalen Wohnungsmarkt gedacht. Dieses strebte die rasche Beseitigung von Marktüberhängen an. Andererseits beinhaltete es – vor allem dank der entschiedenen Intervention einiger Stadtplaner – eine ganze Reihe ambitionierter Ziele, die dafür sorgen sollten, dass die geplanten Abrisse in die Stadtstrukturen eingebettet und die betroffenen Viertel nicht schlechter, sondern attraktiver gestalten würden. Dementsprechend war das Programm von Anfang an zweigeteilt: Um die Wohnungsangebotsüberhänge abzubauen, fördert es zwar einerseits maßgeblich den Abriss von Wohnraum; dieser soll aber gleichzeitig mit einer Aufwertung der Verbleibebestände, des Umfeldes und der Infrastruktur einhergehen. Der Slogan „Mehr Stadt durch weniger Häuser“ brachte diese Zielsetzung prägnant zum Ausdruck.

Um die Verknüpfung von Rückbau-, Umbau- und Aufwertungsmaßnahmen durchzusetzen und um sicherzustellen, dass sich geplante Gebäudeabrisse in das jeweilige Stadtgefüge einpassen, verbinden Bund und Länder die Vergabe von Fördermitteln mit der Verpflichtung zur Vorlage „integrierter Stadtentwicklungskonzepte“. Ziel dieses Vorgehens war es, „die einzelnen Maßnahmen des Stadtumbaus zu einem zukunftsfähigen, sinnvollen Ganzen [zu] verbinden“3 und damit die Chance zu nutzen, durch sinnvolle Gestaltung von Abrissen und Nachnutzungen eine höhere städtische Wohn- und Lebensqualität zu schaffen.

In der Umsetzung landeten die hohen Ansprüche jedoch schnell auf dem harten Boden der Realität. Schon in der Planungsphase häuften sich die Probleme. So wurden die kommunalen Planungsämter – innerhalb eines knapp bemessenen Zeitraums von weniger als einem Jahr – nicht nur dazu verpflichtet, neue Einwohnerprognosen vorzulegen, sondern sie sollten diese Vorhersagen auch mit einer Einschätzung der wirtschaftlichen Entwicklung, einer Untersuchung der Infrastruktur und einer Reflexion des regionalen Kontextes verbinden. Die Analyse war dabei gleichzeitig so konkret zu halten, dass sie die Ableitung von Maßnahme-, Umsetzungs- und Finanzierungskonzepten ermöglichte. Sie sollte außerdem mit den wichtigsten Eigentümern abgestimmt, in Kooperation mit den Umlandgemeinden erarbeitet und mit den Bürgerinnen und Bürgern beraten werden. Salopp formuliert, wurden die auf „Stadtumbau-Ost“-Gelder angewiesenen Kommunen also genötigt, mit knappen Planungsressourcen, bei notwendig unsicheren Prognosen, ungenügendem Informationsstand und ungeklärter Umsetzung, innerhalb kürzester Zeit eine völlig neuartige Planung vorzulegen. Diese sollte zudem die Mitwirkung eigeninteressierter Dritter (Wohnungsunternehmen, Umlandgemeinden) einbeziehen und einen Konsens herstellen, der einen „nachhaltigen Stadtumbau“ möglich macht.

In der Praxis konnten solche hochfliegende Planungsanforderungen von kaum einer Gemeinde bewerkstelligt werden – was wenig überrascht. Im Gegenteil ergaben sich derart mannigfaltige Prognose- und Planungsprobleme, dass die eigentlich als Zielorientierung gedachten „integrierten Stadtentwicklungskonzepte“ vom zuständigen Ministerium heute nur noch als „Einstieg in das Thema“ behandelt werden. Schon bald wurden also die für die Förderung des Abrisses zu erbringenden Ansprüche auf eine Neuausrichtung der Stadtentwicklung deutlich abgespeckt. Diese Entwicklung hat sich in den letzten vier Jahren weiter fortgesetzt, wenn nicht gar beschleunigt. Mit fatalen Konsequenzen: Wenn heute Ministerialbeamte über den Fortschritt des Stadtumbaus berichten, sprechen sie fast immer vor allem von der Höhe der Abrisszahlen. In einer ganz eigenen „Tonnenideologie“ gilt dabei ein möglichst hohes Abrissvolumen oft bereits als Beleg für den Erfolg des Stadtumbaus. Auch in der Förderpolitik dominiert inzwischen die Orientierung auf eine schnelle Bereinigung des Wohnungsmarkts. Insbesondere in Sachsen und Sachsen-Anhalt wird der Löwenanteil der Fördermittel heute für den Abriss ausgegeben; Mittel für die Aufwertung – wie beispielsweise der Rückbzw. Umbau von Schulen und Kindertagesstätten oder die Nach- und Umnutzung der freigelegten Abrissflächen – stehen kaum noch zur Verfügung. In der Folge nimmt der Stadtumbau eine immer anspruchslosere Form an. Projekte zur Umnutzung oder zum Umbau von leer stehenden Wohngebäuden können kaum noch realisiert werden.

Eigentümer-Mikado

Neben der problematischen Zielausrichtung erweist sich auch die Einbeziehung der Hauseigentümer, die mit ihrem Eigentum quasi über eine Vetomacht im Stadtumbau verfügen, vielerorts als Pferdefuß. Weil es theoretisch für jeden einzelnen Eigentümer am besten ist, wenn alle anderen Eigentümer ihre Bestände vom Markt nehmen, bis wieder genügend Nachfrage für die eigenen leeren Bestände vorhanden ist, ergibt sich hier ein klassisches Trittbrettfahrerproblem: Da einerseits alle Marktteilnehmer von der Marktbereinigung profitieren, andererseits aber nur diejenigen die Kosten dieser Maßnahme tragen, die den Rückbau selbst durchführen, kommt der Trittbrettfahrer am günstigsten weg. Angesichts des Umstands, dass diese Kalkulation für alle gleichermaßen gilt, müsste es eigentlich zu einer allgemeinen Handlungsblockade kommen, die sich in Analogie zum bekannten Gesellschaftsspiel als Mikado beschreiben lässt: Wer sich als Erster bewegt, sprich: abreißt, hat verloren.

Dass es unter diesen Bedingungen überhaupt Wohnungsunternehmen gibt, die bereit sind, ihre Wohnungen abzureißen, ist maßgeblich der Subventionierung des Abrisses durch das Programm „Stadtumbau Ost“ geschuldet. Dieses ermöglicht nicht nur, den Abriss kostenneutral zu gestalten, sondern versüßt die Bereitschaft zum Abriss darüber hinaus mit „Aufwertungsmitteln“. Von entscheidender Bedeutung ist außerdem eine 2001 erfolgte Novellierung des Altschuldenhilfegesetzes (ASHG), die es aus der DDR stammenden Wohnungsunternehmen ermöglicht, Altschulden für abgerissenen Wohnraum erlassen zu bekommen. Im Gegenzug zur Bereitschaft, eigenes Vermögen zu vernichten, erhalten diese Unternehmen also die Möglichkeit, sich von einer drückenden Schuldenlast zu befreien, die in den Erblastentilgungsfonds überschrieben und damit dem allgemeinen Staatshaushalt aufgebürdet wird. Anders als alle anderen Wohnungsbesitzer haben die ASHG-Unternehmen dadurch konkret etwas durch den Abriss ihres Vermögens zu gewinnen. Der Abriss rechnet sich für diese Unternehmen ganz besonders, weil nicht nur die Abrisskosten vom Staat übernommen werden, sondern dieser für jeden Quadratmeter abgerissener Wohnfläche auch noch die auf ihm liegenden Schulden in Höhe von durchschnittliche 60 bis 80 Euro übernimmt. Es kann daher nicht überraschen, dass diese Unternehmen, im Gegensatz zu allen anderen Vermietern, gerne bereit sind, auch an eigene Wohnungsbestände Hand anzulegen. In Sachsen, dem Abriss-Spitzenreiter, wurden so zwischen 2000 und 2004 fast 90 Prozent aller Wohnungsabrisse von kommunalen Wohnungsgesellschaften und -genossenschaften getätigt.4 Die Anreizwirkung, die von der Kombination aus Rückbauförderung und Altschuldenentlastung ausgeht, ist dabei so groß, dass die Fördertöpfe regelmäßig ausgeschöpft sind.

Plattenbauviertel als „Spenderstadtteile“

Diese Förderstruktur ist auch die Ursache für eine systematische Schieflage bei der Einbeziehung verschiedener Eigentümergruppen in den Stadtumbau. Diese führt nicht nur zur ungleichen Verteilung der Lasten zwischen verschiedenen Wohnungsunternehmen, sondern auch zu einer sehr spezifischen stadträumlichen Verteilung der Abrisse. Aufgrund der Kopplung von Abrissförderung und Altschuldenentlastung konzentrieren sich die Abrisse auf „die Platte“, die überwiegend von kommunalen und genossenschaftlichen Wohnungsunternehmen verwaltet wird. Plattenbauviertel werden damit zu „Spenderstadtteilen“, die die Last der Wohnungsmarktkonsolidierung stellvertretend für den Rest der Stadt tragen müssen.

Problematisch ist dabei nicht nur, dass Entwicklungsperspektiven für Plattenbauviertel, die immerhin noch rund ein Fünftel des gesamten ostdeutschen Wohnungsbestandes ausmachen, zunehmend aus dem Blick geraten. Anlass zur Sorge bietet auch die Entwicklung in den Umstrukturierungsgebieten selbst, in denen die Abrisse zwar auf Hochtouren laufen, aber oft kaum noch in ein städtebauliches Konzept eingebettet werden (können). Der Grund liegt auch hier in den politischen Fehlleistungen, die in den 90er Jahren bei der Transformation des DDR-Wohnungswesens gemacht wurden. Bedingt durch Restitution und Privatisierungsverpflichtung des Altschuldenhilfegesetzes ist es heute die Regel, dass in ostdeutschen Stadtteilen jedes Haus einer anderen Eigentümergesellschaft gehört, deren Firmensitze über die ganze Bundesrepublik verstreut sind. Selbst in vergleichsweise „homogenen“ Plattenbauvierteln – wie beispielsweise Leipzig-Grünau oder Halle-Neustadt – lassen sich ein bis zwei Dutzend verschiedene Eigentümer finden. Da all diese Eigentümer unterschiedliche Interessen haben, die aus ihrer jeweiligen Betriebsform, Unternehmenspolitik und Finanzlage resultieren, wird die übergreifende Planung und Steuerung außerordentlich erschwert. Die Abrisse waren daher bislang vor allem auf kooperationswillige Eigentümer beschränkt – mit der Folge, dass die Stadtumbaumaßnahmen kaum noch in ein städtebauliches Konzept eingebettet werden können.

Die Konsequenz liegt auf der Hand: Die städtebauliche Struktur löst sich auf. Wer heute beispielsweise durch bestimmte Ecken des Leipziger Ostens oder den westlichen Rand Leipzig-Grünaus fährt, wird ein buntes Nebeneinander von topsanierten Häusern, maroden Ruinen, aufwändig gestalteten Miniparks und gammelnden Brachflächen finden, in dem kaum eine räumliche Logik erkennbar ist. Vom Anspruch auf einen „nachhaltigen Stadtumbau“ ist hier jedenfalls nicht mehr viel erkennbar.

Verfall der städtischen Infrastruktur

Hinzu kommt außerdem eine zunehmende Ausrichtung des Stadtumbaus auf die Probleme der abreißenden Unternehmen. Verfolgt man die Diskussion der letzten Jahre, stellt man fest, dass dagegen die Probleme der Wasser- und Wärmeversorgung, des öffentlichen Personennahverkehrs, der Wohnumfeldund Freiraumentwicklung, Seniorenbetreuung und Bewohnerbeteiligung im Vergleich zu Abrissförderung, Hypotheken und Altschulden kaum noch eine Rolle spielen.

Insbesondere die Anpassung der stadttechnischen Infrastruktur stellt einen viel thematisierten, aber kaum gelösten Bereich dar. Der Rückgang des Verbrauchs an Trinkwasser, Brauchwasser, Energie und Fernwärme verursacht hier wachsende betriebswirtschaftliche und technische Probleme für die Betreiber. Die Netze können nur schwer dem jeweiligen Verbrauch angepasst werden, da sie auch bei sinkender Abnahme in ihrer Gesamtheit aufrechterhalten werden müssen. Ein verringerter Gebrauch des Infrastrukturangebots führt dabei nicht nur zu einem ungünstigeren Verhältnis zwischen Kosten und Umsätzen, sondern auch zu technischen und hygienischen Problemen. Die Verringerung des Trinkwasserdurchflusses und die Erhöhung der Verweilzeiten des Wassers im Netz gefährden die Qualität des Wassers und bedingen die Gefahr von Wiederverkeimung. Beim Abwasser führen geringere Abflussgeschwindigkeiten zu Ablagerungen und Verstopfungen. Die sinkende Abnehmerzahl beeinträchtigt daher nicht nur allgemein die wirtschaftliche Rentabilität der Infrastrukturbetreiber, sondern sie führt ohne immense zusätzliche Investitionen ab einem bestimmten Zeitpunkt direkt zur Funktionsunfähigkeit der Leitungsnetze. Um den Kollaps der Versorgungssysteme zu verhindern, müssen die Leitungssysteme also rückgebaut oder neu verlegt werden. Das wiederum ist für die betroffenen Kommunen sehr kostenaufwändig.

Obwohl Anpassung der städtischen Infrastruktur im Rahmen des Stadtumbau- Programms zu den förderfähigen Maßnahmen zählt, werden bislang nur in sehr geringem Umfang Mittel für den Rückbau der stadttechnischen Infrastruktur eingesetzt. Auch in diesem Bereich bleibt also vom integrativen und „nachhaltigen“ Anspruch, mit dem der „Stadtumbau Ost“ versehen wurde, in der Praxis nur wenig übrig. Hinter dem Wohnungsüberhang ist vielmehr schon jetzt ein weiterer Berg von Problemen absehbar, der in kurzer Zeit nach neuen staatlichen Fördermitteln verlangen wird.

Stadtumbau als Placebopolitik

Fasst man Soll und Haben zusammen, kann die Bilanz des Stadtumbaus nach vier Jahren nur als ernüchternd bezeichnet werden. Die Reparatur von Marktfunktionen durch Abriss von Angebotsüberhängen hat, obwohl sie den Kern der Förderung ausmacht, bislang kaum positive Ergebnisse gezeitigt. Hier zeigt sich, dass „nachhaltige Stadtentwicklung“ in einem kapitalistisch verfassten Wohnungsmarkt offensichtlich nur dann funktionieren kann, wenn auch der Markt selbst funktioniert. Davon kann im Osten Deutschlands jedoch nicht die Rede sein, derzeit und auch in Zukunft nicht.

Der Bevölkerungsrückgang Ostdeutschlands geht nämlich weiter – mit der Konsequenz, dass die Wohnungsunternehmen mehr Mieter verlieren, als sie Wohnungen abreißen können. In einem Bericht der Sächsischen Aufbaubank wird vorgerechnet, dass der Leerstand aufgrund des fortgesetzten Bevölkerungsverlustes auch 2004 immer noch drei Mal so schnell gestiegen ist wie die Abrisszahlen. Dementsprechend müssen die sächsischen Wohnungsunternehmen derzeit im Durchschnitt vier Wohnungen vom Markt nehmen, damit sich der Leerstand um eine Wohneinheit verringert.5 Angesichts dieser Situation kann der Abriss bestenfalls als Notlösung betrachtet werden, um eine weitere Zuspitzung der Wohnungsmarktprobleme zu verhindern. Da aufgrund der demographischen Entwicklung der weitere Einwohnerrückgang bereits heute absehbar ist, wird man im Osten Deutschlands noch über einen langen Zeitraum mit sehr hohen Leerstandszahlen leben müssen. Ob es sich lohnt, diese mit hohem Mittelaufwand um ein paar Prozentpunkte nach unten zu drücken, ist mehr als fraglich. Das Vorhaben, mit Hilfe öffentlich geförderter Abrisse den Wohnungsmarkt so zu konsolidieren, dass er wieder von alleine funktioniert, kann jedenfalls heute schon als Illusion bezeichnet werden – insbesondere für Regionen wie die Lausitz, die Altmark oder das (ehemalige) mitteldeutsche Chemiedreieck. Von einem „Luxus der Leere“ oder einem Aufbruch zur „Lean City“ ist hier bislang wenig zu spüren.6 Auf Dauer ist deshalb mehr als bloße Placebopolitik erforderlich; ohne deutlich höheren Mitteleinsatz und den politischen Willen zu gesteigerter staatlicher Planung und Steuerung wird ein erfolgreicher „Stadtumbau Ost“ nicht möglich sein.

1 Wolfgang Engler, Die Ostdeutschen als Avantgarde, Berlin 2002.
2 Vgl. Expertenkommission 2000, Wohnungswirtschaftlicher Strukturwandel in den neuen Bundesländern. Bericht der Kommission im Auftrag des Bundesministeriums für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, Berlin 2000.
3 Vgl. Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, Wettbewerb Stadtumbau Ost. Für lebenswerte Städte und attraktives Wohnen – Auslobung und Wettbewerbsunterlagen, Berlin 2001.
4 Vgl. Sächsische Aufbaubank, Wohnungsmarktmonitoring 2004/2005, Dresden 2005, S. 22.
5 Vgl. Sächsische Aufbaubank, a.a.O., S. 13.
6 Wolfgang Kil, Luxus der Leere. Eine Streitschrift, Wuppertal 2004, sowie Thilo Lang und Eric Tenz, Von der schrumpfenden Stadt zur Lean City. Prozesse und Auswirkungen der Stadtschrumpfung in Ostdeutschland und deren Bewältigung, Dortmund 2003.

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