Ausgabe Juni 2010

Appell an die Vernunft

Aufruf der Gruppe "JCall - Europäisch-jüdischer Appell an die Vernunft" vom Mai 2010 (Wortlaut)

Am 3. Mai d.J. trat in Brüssel eine – nach dem Vorbild der US-amerikanischen „J-Street“ gegründete – Gruppe europäischer Jüdinnen und Juden an die Öffentlichkeit. Im Gründungsaufruf bekennt sich „JCall“ zur Verbundenheit mit Israel, kritisiert aber zugleich scharf die israelische Siedlungspolitik im Westjordanland und in Ost-Jerusalem. Wir dokumentieren den inzwischen von über 5700 Menschen, darunter Daniel Cohn-Bendit (MdEP) sowie die Philosophen Alain Finkielkraut und Bernard-Henri Lévy, unterzeichneten Appell. – D. Red.

Wir sind europäische Bürger jüdischer Herkunft, die aktiv in das politische und gesellschaftliche Leben unserer jeweiligen Länder involviert sind. Was immer auch unsere persönliche Agenda sein mag, ist die Verbindung mit dem Staat Israel Teil unserer Identität. Die Zukunft und Sicherheit dieses Staates, mit dem wir unverbrüchlich verbunden sind, besorgt uns sehr.

Wir stellen fest, dass die Existenz Israels erneut gefährdet ist. Die Gefährdung von außen ist nicht zu unterschätzen, doch ist diese nicht die einzige Gefahr. Eine Gefährdung liegt auch in der Besatzung und in dem Auf- und Ausbau der Siedlungen im Westjordanland und in den arabischen Vierteln Ost-Jerusalems, die ein moralischer Fehler und ein politischer Irrtum sind und die unter anderem zu dem inakzeptablen Vorgang der Delegitimierung Israels als Staat führen.

Aus diesem Grunde haben wir beschlossen, uns basierend auf folgender Grundlage zu engagieren:

1. Die Zukunft Israels bedingt notwendigerweise die Schaffung des Friedens mit dem palästinensischen Volk und die Gründung eines palästinensischen Staates gemäß dem Prinzip „zwei Staaten für zwei Völker“. Wir alle sind uns dessen bewusst, dass dieses Anliegen dringend ist. Bald wird Israel sich mit zwei katastrophalen Alternativen konfrontiert sehen: Entweder werden die Juden eine Minderheit in ihrem eigenen Land sein oder es wird im Lande ein Regime entstehen, das Israel beschämen und die Gefahr eines Bürgerkrieges
heraufbeschwören wird.

2. Es ist daher von größter Wichtigkeit, dass die Europäische Union gemeinsam mit den Vereinigten Staaten von Amerika Druck auf beide Parteien ausübt und ihnen hilft, eine vernünftige und schnelle Regelung des israelisch-palästinensischen Konflikts zu erreichen. Trägt doch Europa angesichts seiner Geschichte die Verantwortung für diese Weltregion.

3. Die endgültige Entscheidung liegt bei den Israelis, dennoch soll die Solidarität der Juden weltweit die Israelis dazu ermutigen, die richtige Entscheidung zu treffen. Die systematische Identifizierung mit der Politik der israelischen Regierung ist gefährlich, weil sie im Gegensatz zu den echten Interessen des Staates Israel stehen kann.

4. Wir möchten eine europäische Bewegung gründen, die die Stimme der Vernunft zum Ausdruck bringt. Diese Bewegung möchte über den traditionellen Meinungsverschiedenheiten stehen und setzt sich die Zukunft Israels und seine Koexistenz mit einem souveränen und lebensfähigen palästinensischen Staat zum Ziel.

In diesem Geiste rufen wir dazu auf, unseren Appell zu unterschreiben.

Aktuelle Ausgabe September 2025

In der September-Ausgabe plädiert Lea Ypi für eine Migrationsdebatte im Sinne der Aufklärungsphilosophie. Cinzia Sciuto fordert, der zunehmenden Aushöhlung des Völkerrechts mit einer entschiedenen Verteidigung desselben zu begegnen – und nicht mit Resignation und falschem Realismus. Für Georg Diez markieren die Kriegsverbrechen in Gaza und die fehlenden Reaktionen darauf einen Epochenbruch; sie stünden für nicht weniger als den Verrat des Westens an der Humanität. Herfried Münkler analysiert, wie Kriege historisch endeten und Friedenszeiten begannen und was das mit Blick auf den Ukrainekrieg bedeutet. Simone Schlindwein deckt auf, wie Russland junge Afrikanerinnen mit falschen Versprechen für die Kriegswirtschaft rekrutiert. Warum die grüne Digitalisierung ein Mythos ist und was der KI-Boom den Globalen Süden kostet, erläutern Ingo Dachwitz und Sven Hilbig. Und Eva-Maria Klinkisch sowie Markus Rieger-Ladich zeigen auf, wie Long Covid-Betroffene von der Gesellschaft und dem Gesundheitssystem systematisch ignoriert werden – und was dagegen zu tun ist. 

Zur Ausgabe Probeabo

Weitere Artikel zum Thema