Ausgabe Oktober 2010

Muslima in Sarrazinland

Seit gut einem Monat hat dieses Land nicht nur einen neuen „Helden“ im Kampf für die Meinungsfreiheit (so die neueste Kampagne der „Bild”-Zeitung), sondern auch einen neuen Islam-Experten. Sein Name: Thilo Sarrazin. Einige mögen sich über ihn und sein neues Buch ärgern. Andere mögen entsetzt sein, mit welcher Chuzpe er Gehässigkeiten von sich gibt. Doch der eigentliche Skandal ist nicht Sarrazin. In Deutschland gilt das Recht auf freie Meinungsäußerung; unsere Demokratie muss auch die Parolen der NPD ertragen.

Besorgniserregender und gefährlicher für das gesellschaftliche Gefüge sind all jene, die Sarrazins chauvinistische Darlegungen hoffähig machen und seine kruden Weisheiten unter dem Deckmantel der Integrationsdebatte unters Volk bringen. Das eigentlich Erschütternde ist der breite Raum, der Sarrazin geboten wird. Wann hat jemals eine große Boulevard-Zeitung einem Buch eine ganze Woche lang täglich eine ganze Seite frei geräumt, um darauf zentrale Auszüge abzudrucken, völlig frei von begleitender Kritik? Warum so viel Ehre für einen Mann, der Frauen als „Importbräute“ denunziert und kalt nach ihrem ökonomischen Wert in nützlich und nutzlos einteilt?

Feindbild Islam

Die enorme Resonanz auf die Sarrazin-Debatte hat einen Grund: Schon seit Jahren stehen wir Muslime in der deutschen Öffentlichkeit schlecht da.

Gewiss hat und bereitet ein Teil der muslimischen Bevölkerung in Deutschland Probleme. Keiner würde dies ernsthaft bestreiten; es braucht keinen Sarrazin, um das zu sehen. Selbstverständlich haben Türken und nicht etwa Koreaner die größten Integrationsdefizite. Das liegt aber zum Teil einfach daran, dass Türken die größte Migrantengruppe stellen. So können sie sich problemlos in „Parallelgesellschaften“ zusammenfinden. Wie sollte das den wenigen Koreanern im Lande gelingen? Doch solche Hinweise verfangen derzeit nicht. Die Welt lechzt angesichts der neuen Unübersichtlichkeit förmlich nach einfachen Erklärungen und Bildern.

Eine undifferenzierte und diffamierende „Islamkritik“ einerseits und dogmatische Ansichten übereifriger Muslime andererseits zeichnen seit Jahren das fundamentalistische Zerrbild eines gefährlichen und rückständigen Islam. Die liberale, weltoffene Form muslimischen Lebens wird dagegen viel zu selten wahrgenommen. Freilich ist eine offene, differenzierte und lebensnahe Sicht auf den Islam weit weniger spektakulär als die Skandalisierung islamischer Terror-Kids (gar mit dem Namen Dschihad) oder „Ehrenmörder“. In den öffentlichen Islam-Debatten, in denen sich vermeintliche Experten die Köpfe heiß reden, geht die liberale Perspektive daher regelmäßig unter.

Tatsächlich aber geht die gefährliche Unterscheidung zwischen Deutschen und Muslimen, die in der Sarrazin-Debatte massiv befördert wird, an der Lebensrealität von Millionen von Menschen vorbei. In den 60er Jahren, als die ersten Muslime einwanderten, war man in der Tat entweder „deutsch“ oder „muslimisch“, aber spätestens in der zweiten, dritten und vierten Einwanderergeneration sind wir „deutsch“ und „muslimisch“. Wir können gläubige Muslime und gleichzeitig loyale Staatsbürger dieses Landes sein. Es ist möglich, die eigene Stimme gegen einen Dogmatismus und Fundamentalismus im Islam zu erheben, ohne seinen islamischen Glauben preiszugeben und zum „säkularen Kulturmuslim“ zu mutieren.

Nach langjährigen Erfahrungen als „Berufsmuslimin“, die ich in der islamischen Theologie und als eine der ersten islamischen Religionspädagoginnen in der Bundesrepublik sammeln konnte, kann ich allerdings auch keine Entwarnung geben. Zu viel läuft bei der Integration von Muslimen in Deutschland immer noch schief. Dafür sind jedoch Muslime ebenso wie Nicht-Muslime zu kritisieren, die Politik ebenso wie gesellschaftliche Entwicklungen. Nur eine fundierte und differenzierte Kritik kann uns wirklich weiterbringen – weiter als die pauschalen Anklagen, die die Debatte gegenwärtig dominieren.

Der Islam – eine Religion mit Migrationshintergrund

Diskriminierung als „Ausländer“ oder „Migrant“ ist schon immer die alltägliche Erfahrung junger Muslime gewesen, die hierzulande wie ich ihre Heimat gefunden haben. Der Sarrazin-Overkill aber hat nun unzählige Menschen, nicht nur in den Medien, dazu veranlasst, „endlich Klartext“ zu reden. Er lässt dadurch viele Menschen hilflos zurück: Pubertierende muslimische Schüler werden in ihrem Frust bestärkt. Und muslimische Akademiker sind von der Zustimmung für die radikalen Islamkritiker angewidert und sprachlos.

Diese Erfahrung darf aber nicht zu einer Bunker- oder gar Barrikadenmentalität bei den Muslimen führen. Wir müssen vielmehr den Islam für uns so lebbar machen, dass er modernen Werten wie Toleranz, Weltoffenheit und Freiheit nicht widerspricht. Oft ist noch das Gegenteil der Fall, auch aus geschichtlichen Gründen. Der Islam hat in Deutschland ebenso wie seine Anhänger einen Migrationshintergrund. Er reiste im Gepäck der „Gastarbeiter“ nach Deutschland ein und wurde erst so zu einer nennenswerten Kraft im Land. Doch genau wie seine Anhänger verändert sich der Glaube allmählich von Generation zu Generation. Die ersten Folgen werden langsam sichtbar. Das lässt sich besonders in der Schule bei jungen Muslimen aus der dritten Einwanderergeneration beobachten. Sie denken, dass der Islam die wichtigste Rolle in ihrem Leben spielt. Ein Großteil der ersten Gastarbeiter-Generation aus islamischen Ländern dachte völlig anders. Die ersten Einwanderer verstanden die Religion lediglich als einen Mosaikstein ihrer Identität. Fragt man heute bei den Jugendlichen genauer nach, warum der Islam so wichtig für sie ist, bekommt man erstaunlicherweise nicht viel zu hören, außer einigen Floskeln. In etwas ausgefeilteren Antworten lautet der Tenor entweder, dass es eine natürliche, angeborene Selbstverständlichkeit ist, dass der Islam das wichtigste im Leben ist, oder dass Gott der Einzige ist, auf den man sich verlassen kann – denn er ist gerecht.

Verschiedene Faktoren sind für diese ebenso erstaunlichen wie diffusen Aussagen verantwortlich: die Art und Intensität der religiösen Erziehung und der Glaubenspraxis in Elternhaus und Gemeinde; die Rolle der Herkunftskultur, Tradition und Sprache; die Sicht der „Außenwelt“ auf muslimische Jugendliche; mehrfach erlebte Diskriminierung, ob sie einen nun selbst betrifft oder andere Muslime; und insbesondere auch Protest gegen eine vermeintlich feindlich eingestellte Gesellschaft (wie es ihn auch etwa in der Punkbewegung der 80er Jahre gab). Kurzum: Viele der muslimischen Jugendlichen sind zu wenig in der hiesigen Gesellschaft verwurzelt. Aber Jugendliche benötigen einen Halt und einen Anker, den sie auswerfen können und der sie fest an etwas bindet. Diesen „Rettungsanker“ finden sie im Islam, denn in Deutschland fühlen sie sich nicht anerkannt: Hier werden sie noch immer als „Türken“ oder „Ausländer“ bezeichnet. Die Mehrheitsgesellschaft gibt ihnen nach wie vor nicht das Gefühl, Deutsche zu sein.[1] Dabei wissen „die“ Deutschen selbst allzu oft nicht so genau, was ihnen ihr Deutschsein bedeutet.

Das Schweigen der Mehrheitsgesellschaft

Wo man diesem Gefühl der Ausgrenzung entgegentreten könnte, lassen es die Verantwortlichen leider – und lange vor Sarrazin – oft an der dafür nötigen Sensibilität fehlen. Anlässlich der Feierlichkeiten zu 60 Jahren Grundgesetz und damit auch zu 60 Jahren Bundesrepublik verlor Bundespräsident Horst Köhler kein einziges Wort über die „Gastarbeiter“ bzw. die jüngeren „Einwanderergenerationen“ in der bundesdeutschen Gesellschaft. Wurden ihre Eltern und deren Eltern nicht geholt, um die deutsche Wirtschaftskraft mit anzukurbeln? Waren es nicht ihre Väter und Großväter, die mit einer Staublunge aus der Kohlengrube kamen, weil sich viele eingeborene Deutsche zu gut dafür waren? Und bis heute sind sich autochthone Deutsche für viele Arbeiten in diesem Lande zu schade, weshalb vor allem Türken den Obst- und Gemüsehandel in Berlin betreiben, um sich anschließend dafür von Thilo Sarrazin beschimpfen zu lassen.

Kein Wort davon, weder bei Köhler noch bei Sarrazin, dass Muslime und andere religiöse Minderheiten über die Jahre fester Bestandteil des Landes geworden sind und einen entscheidenden Beitrag zu ihrem jetzigen – positiven – Erscheinungsbild geleistet haben. Dabei leben heute schätzungsweise mehr als 15 Millionen Einwanderer, inklusive ihre Nachkommen, in Deutschland, aber Horst Köhler sprach lediglich von den über zehn Millionen deutschen Flüchtlingen und Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg. Ausführlich erläuterte er: „Ostpreußen kamen nach Schleswig-Holstein, Sudetendeutsche nach Bayern und Bessarabiendeutsche nach Schwaben. Das war oft alles andere als einfach. Aber am Ende stand die Erfahrung: Es gab neue Heimat, und die alte bestand fort im Herzen. Und alle machten die Erfahrung, dass es in Deutschland viele Heimaten gibt und dass diese Vielfalt unser Land bereichert.“ Nicht dass man speziell die Muslime in den Vordergrund stellen müsste, aber wenigstens eine Erwähnung der jüngeren Einwanderungsgeschichte wäre zu diesem Anlass angemessen gewesen. Sie wäre kaum aufgefallen, aber sie wäre da gewesen – als ein schlichtes Zeichen von Normalität. Dass dieses Signal nicht gegeben wurde, ist bezeichnend für die hohen Hürden, die diese Gesellschaft noch zu nehmen hat, um sich tatsächlich als Einwanderungsland zu begreifen.

Experten und Schläfer

Die Tatsache, dass (junge) Muslime sich hier nicht heimisch fühlen und sich daher abgrenzen, lässt uns aufhorchen – und diese Jugendlichen unsererseits ganz schnell ausgrenzen. Sofort müssen aufgeregte Debatten darüber geführt werden, wie man mit „ihnen“ verfährt. Deshalb wird umgehend die Altersgrenze zur Schuldfähigkeit diskutiert oder die Abschieberegelung neu überdacht. Zudem wird gerade in der Sarrazin-Debatte der Eindruck ständiger Zuwanderung erweckt, durch die die „autochthonen Deutschen“ sukzessive ihres Landes entfremdet würden. Dabei hatten wir im Jahr 2009 die niedrigsten Einbürgerungszahlen, so dass sich die Bundeskanzlerin bereits genötigt sah, medienwirksam einige Einbürgerungsurkunden höchstpersönlich an unsere „Neu-Deutschen“ zu überreichen. Mittlerweile verzeichnet Deutschland zudem jährlich mehr Auswanderer als Einwanderer – und das gilt auch für Türken: 2009 kamen 30 000. Und es gingen: 40 000. Diese Unlust, Deutsche zu werden, hat auch damit etwas zu tun, dass Einwanderern immer noch zu wenig Respekt entgegengebracht wird. Diese Tatsache verwundert umso mehr, als es scheinbar noch nie so viele Islamexperten gab wie heute, weit über Thilo Sarrazin hinaus. Eigentlich steckt in uns allen ein selbst ernannter Islamexperte, denn wir alle haben eine Meinung oder Haltung zum Islam, ganz egal, ob wir einen Muslim oder eine Muslima kennen. Wir haben ja auch alle eine Meinung zum Fußball oder zu den Bonuszahlungen der Banker.

Selten werden dagegen Muslime selbst zu ihrem Glauben befragt. Das „Forum am Freitag“, das vor zwei Jahren vom ZDF initiiert wurde, ist eine der wenigen Sendungen, in denen Muslime wöchentlich zu Wort kommen und sich zu den unterschiedlichsten Themen äußern dürfen. Das „Islamische Wort“ des Südwestrundfunks ist ein ähnliches Angebot. Immerhin gibt es inzwischen auch einige Verlage, die eine andere, offenere Sicht auf den Islam präsentieren und so dazu beitragen, dass der Islam in der Öffentlichkeit ein neues, liberaleres Gesicht bekommt. Doch die meisten Medien liefern uns nach wie vor täglich Nachrichten, die uns immer wieder von „Deutsch-Türken“, „Deutsch-Libanesen“, „Deutsch-Bosniaken“ oder Muslimen im Ausland erzählen. Und dies, wie Studien belegen, zu mehr als 80 Prozent im Zusammenhang mit „jungen kriminellen Ausländern“, mit „Schläfern“, „Terrorismus“, „Dschihad“, „Taliban“, „Scharia“, „Demokratiefeindlichkeit“, „Islamisierung“, „Unterdrückung“, „Intoleranz“, „Zwangsheiraten“, „Ehrenmorden“, „Schwimmunterricht“ oder „Kopftuch“.

Die Medien erwecken – gelegentlich unbewusst – den Eindruck, als zwinge der muslimische Glaube regelrecht dazu, die Frauen und Mädchen zu unterdrücken, ihnen das Kopftuch aufzuzwingen oder die Scharia noch über das Grundgesetz zu stellen. Die einseitige Medienberichterstattung macht selbst viele Muslime glauben, dass wir es hierzulande mit einer immer größer werdenden Gruppe von ungebildeten und demokratieunfähigen Ausländern zu tun haben, die alle den Westen hassen und die Integration ablehnen, weil der Islam eine faschistoide, frauenfeindliche und extrem chauvinistische Ideologie sei. Wie aber lässt sich diese erstaunliche Diskreditierung des Islam erklären?

Zäsur Nine Eleven

Eine entscheidende Rolle spielte der 11. September 2001. Die Anschläge auf das World Trade Center und das Pentagon haben uns die negative Berichterstattung förmlich aufgenötigt. Eine Flut von Büchern zum Islam verfestigt seither den negativen Eindruck. Zwar gibt es viele gute Sachbücher zum Islam, aber andererseits auch zahlreiche fragwürdige Schriften selbst ernannter „Islamexperten“. Als jüngstes Beispiel sei an dieser Stelle nur das neue Buch des radikalen Islamkritikers Udo Ulfkotte erwähnt. Es trägt den zynischen Titel: Kein Schwarz. Kein Rot. Kein Gold. Armut für alle im „Lustigen Migrantenstadl“. Eine bessere Bewerbungsschrift für die Führerschaft einer neuen Rechtspartei könnte es wohl kaum geben.

Auf der Frankfurter Buchmesse 2008 schlenderte ich durch die Messehallen und besuchte den Stand eines großen Verlagshauses. Dabei stieß ich auf eine Reihe von Büchern mit Titeln wie „Der zerrissene Schleier“, „Sterben sollst Du für dein Glück“, „Die verbotene Frau“ oder „Die Schuld, eine Frau zu sein“. An einem anderen Stand bot sich ein ähnliches Bild: „Das verbotene Gesicht: Mein Leben unter den Taliban“, „Mundtot. Ich war die Frau eines Gotteskriegers“, „Mein afrikanischer Himmel: Eine Muslimin befreit sich von den Fesseln ihrer Familie“, „Einmal frei sein! Meine 32 Jahre in einem islamischen Dorf“. Was in den letzten fünf Jahren an Leidensberichten und Reportagen von unterdrückten Frauen, von Frauenrechtlerinnen, Kinderrechtlern, Pseudowissenschaftlern, Journalisten, Filmemachern und Islamkritikern publiziert wurde, ist beängstigend. Allerdings nicht nur aufgrund der Unmenschlichkeiten, die hier geschildert werden, sondern auch wegen des Zerrbildes, das damit gezeichnet wird. Zwar werden Frauen auch außerhalb der islamischen Welt im Namen von Religion und Tradition unterdrückt, misshandelt, ermordet, doch es finden sich nicht annähernd so viele Bücher über Witwenverbrennungen in Indien, über Genitalverstümmelung bei orthodoxen Christinnen in Ägypten, über die Opfer des Machismo in Südamerika oder über Evangelikale in den USA, die gegen vorehelichen Geschlechtsverkehr zu Felde ziehen.

Keine Frage, viele Menschen haben in der islamischen Welt schlimme Erfahrungen gemacht, die nicht verschwiegen werden sollen. Aus ihrer Sicht mag es verächtlich klingen, wenn sich jemand wie ich, die eine relativ unproblematische Kindheit und ein bislang normales Leben verbringen durfte, über „Leidensberichte“ oder „Anklageschriften“ beschwert. Und dennoch werde ich den Eindruck nicht los, dass es angesichts der schieren Masse solcher Publikationen um mehr geht als um das traurige Schicksal von Einzelnen. Denn zugleich schaffen es dezidiert bösartige Machwerke wie „Die Wut und der Stolz“ der italienischen Journalistin Oriana Fallaci, die muslimische Einwanderer als „Ratten“ bezeichnet, auf die Spitzenplätze der deutschen Bestsellerlisten[2] und finden zudem sogar positive Resonanz bei anerkannten Bundespolitikern. Offenbar wartet also eine nicht gerade kleine Leserschaft in Deutschland regelrecht auf schlechte Nachrichten zum Stichwort „Islam“.

Meinungsmacht Internet

Auch das Internet spielt bei der Meinungsmache gegen den Islam eine nicht unwesentliche Rolle. Was in den zahllosen Blogs, Foren und Internetseiten zum Thema Islam und Muslime teilweise verbreitet wird, ist oftmals unerträglich und juristisch höchst bedenklich. In vielen der Foren wird jeder als „Gutmensch“ abgetan, der nur einen Funken Verständnis für Muslime aufbringt. Und „Gutmenschen“ sind bekanntlich naive, gutbürgerliche Deutsche, die die wahren Machenschaften der „schlafenden Musels“ nicht durchschauen. Nicht selten werde ich selbst als „getarnte Muslimfee“ verunglimpft, die in Wahrheit subversiv den Umsturz dieser Gesellschaft betreibt. Gott sei Dank gibt es zahlreiche Bürgerinnen und Bürger in diesem Land, die sich von solchen Horrormeldungen und Schockberichten nicht beeinflussen lassen. Und zum Glück kann man sich in diesem Land an der Seite vieler aufrichtiger Menschen wissen, die sich ihre differenzierte Sicht auf die Welt trotz aller Widrigkeiten bewahrt haben. Doch ein anderer Teil dieser Gesellschaft, das zeigt die Sarrazin-Debatte, hat den anderen Weg eingeschlagen. Auch wenn das (noch) nur eine Minderheit sein mag, so stellt sie doch eine gefährliche Bedrohung dar. Die Autorinnen und Autoren, die „Islam-Bashing“ betreiben, haben seit Jahren Hochkonjunktur. Sie beeinflussen einen immer größeren Teil der Öffentlichkeit. Obschon zumeist Nicht-Muslime, meinen sie genau zu „wissen“, wie es bei Muslimen zu Hause zugeht, dass Muslime zu Bandenverhalten neigen, ohnehin nur Sozialschmarotzer sind und dass Musliminnen ihr Kopftuch als Zeichen der Unterdrückung tragen müssen. Denn in ihrer heilen Welt der Gleichberechtigung der Geschlechter kann es nicht sein, dass sich eine Frau aus freien Stücken für das Kopftuch entscheidet. Außerdem sind sich diese „Islamkenner“ einig, dass das Herz eines Muslims – gleich wie „deutsch“ dieser sich versteht – in Wirklichkeit immer für eine Ideologie namens Islam schlagen wird.

Auffällig bei all diesen „Multiplikatoren“ – Boulevard-Medien, Islamexperten, hetzerischen Internetseiten – ist das Fehlen jener Vernunft, die sie eben jenen absprechen, die den Islam und die Muslime nicht mindestens genauso „kritisch“ betrachten wie sie selbst. Natürlich gibt es muslimische Frauen, die von ihren Männern unterdrückt werden. Aber muslimische Frauen werden nicht deshalb von ihrem Ehemann unterdrückt, weil der Islam ihm befiehlt, sie zu unterdrücken, sondern weil der Mann eine bestimmte Vorstellung vom Leben hat, die er mit dem Islam legitimiert und rechtfertigt. Er missbraucht den Koran, um dessen Verständnis er sich vermutlich selbst nie bemüht hat, zu seinen Gunsten. Ich will auch nicht leugnen, dass es sogenannte Ehrenmorde unter Muslimen gibt, was nicht nur eine familiäre Tragödie, sondern auch eine Schande für die Gesellschaft ist. Aber gerade diese Taten lassen sich nicht pauschal dem Islam zuschreiben. Ehrenmorde haben mit dem Islam etwa so viel gemeinsam wie das Umbringen von Abtreibungsärzten mit dem Christentum.

Der Islam ist an allem schuld

Gewiss: Es gibt tatsächlich junge Muslime, die den Westen so sehr hassen, dass sie zu Terroranschlägen bereit sind, und es gibt in Deutschland sicherlich Eltern, die ihre Töchter wegen fundamentalistischer religiöser Einstellungen nicht am gemeinsamen Schwimm- und Sportunterricht teilnehmen lassen. Natürlich sind diese Vorwürfe, die „Experten“ in Artikeln, Aufsätzen, Büchern und Blogs erheben, nicht aus der Luft gegriffen, und es ist wichtig, auf diese Missstände aufmerksam zu machen. Nur so kann das Leid der Betroffenen gelindert werden.

Das große Problem sind jedoch die Rückschlüsse und die Verallgemeinerungen, die diese Autoren vornehmen, die sich gerne als besonders kundig ausgeben, weil sie selbst Kultur-, Ex- oder säkulare Muslime sind. Ihr monokausaler Ansatz, einzig die Religion zur Verantwortung zu ziehen, als ob nur sie den Charakter von Tätern und Opfern mit islamischem Familienhintergrund bestimmen würde, lässt sich sowohl theologisch als auch soziologisch nicht aufrechterhalten. In aller Regel spielen andere Faktoren eine größere Rolle: Bildungsstand, Gesellschaftsstatus, Lebensstandard, politische Einstellungen oder Diskriminierungserfahrungen. Solche Aspekte werden in den einschlägigen Abhandlungen aber meist unterschlagen.

Eines haben die selbst ernannten Experten gemeinsam: Kaum einer von ihnen ist gläubiger, praktizierender Muslim, Islamwissenschaftler, Theologe oder Imam. Viele von ihnen beziehen ihre Islam-Kompetenz einzig daraus, dass sie einen islamischen Familienhintergrund oder längere Zeit in einer muslimisch geprägten Gesellschaft gelebt haben. Wenn ich mir die Bilder anschaue, die solche „Experten“ konstruieren, erkenne ich keinerlei Verbindung zwischen ihnen und mir. Vielen anderen muslimischen Deutschen wird es ebenso gehen. Trotzdem wird von uns immer wieder verlangt, die Demokratiefähigkeit und den Integrationswillen unter Beweis zu stellen. Nun gut, aber im Gegenzug verlangen wir größeres Engagement von der Mehrheitsgesellschaft, endlich das schiefe Bild von uns gerade zu rücken. Auch Nicht-Muslime müssen sich im Sinne der Gemeinschaft aktiv für die Integration von Muslimen einsetzen, so dass auch wir irgendwann als „ganz normale Deutsche“ gelten können. Wie heißt es doch immer so schön: „Integration ist keine Einbahnstraße“ – sondern eine gemeinsame Aufgabe für alle Teile der Gesellschaft.

Das Zusammenspiel der Fundamentalisten

Doch um ehrlich zu sein, macht man es vielen muslimischen Deutschen nicht gerade leicht, sich mit diesem Land zu identifizieren. Mittlerweile, und nicht zuletzt angesichts der Sarrazin-Offensive, haben sich auch in mir Wut und Enttäuschung aufgestaut. Es drängt sich der Eindruck auf, dass vielen Mitbürgern die Pluralität unserer Gesellschaft und die Errungenschaften unseres Grundgesetzes gar nicht so recht zusagen und sie insgeheim von der homogenen deutschen Gesellschaft der Nachkriegszeit träumen.

Der Staat muss aber für alle seine Bürgerinnen und Bürger da sein. Ich habe genug von den einseitigen Berichten über Muslime und von den Hasstiraden gegen den Islam. Die Urheber sind im Grunde genauso fundamentalistisch und verbohrt wie die hysterischen Muslime, die ihren „Brüdern“ und „Schwestern“ andauernd vorschreiben wollen, was die „wahre Religion“ ist.

Die aktuelle Islamdebatte wird von zwei Akteuren dominiert: von den Islamexperten bzw. Islamkritikern auf der einen Seite und konservativen Funktionärsmuslimen auf der anderen. Beide Seiten vermitteln das Bild eines erstarrten, fundamentalistischen Islam.[3] Progressive Muslime werden von den Funktionärsmuslimen als Heuchler abgestempelt, die nicht ehrlich mit der islamischen Überlieferung umgehen, und von den Islamkritikern als hilflose Rufer in der Wüste. Diese Vorstellung ist jedoch keineswegs repräsentativ für die schweigende Mehrheit der Muslime. Für Islamkritiker kann es keine weltoffenen, aufgeklärten Muslime geben: Am Dogma, dass der Islam prinzipiell nicht zu integrieren ist, darf nicht gerüttelt werden. Nach ihrer Logik kann sich ein gebildeter Mensch nur vom Islam abkehren. Das heißt also: Ich existiere für sie nicht. Für die konservativen Muslime, die sich oft wie Hobbymuslime benehmen, bin ich gar keine wahre Muslimin mehr – auch wenn es unter Muslimen gegen den guten Ton verstößt, so etwas offen auszusprechen.

Die extremen Sichtweisen von Islamkritikern und muslimischen Verbandsfunktionären sind für mich eine gute Kontrolle: Denn ich müsste mich fragen, ob ich etwas falsch mache, wenn mich die eine oder die andere Seite zu sehr loben würde. Dann wäre ich selbst entweder zu islamkritisch oder zu konservativ.

Heimat Deutschland

Daneben gibt es allerdings noch eine dritte Gruppe von Leuten, die sich offen als Rassisten zu erkennen geben. Immer wieder trudeln bei mir E-Mails ein, in denen ich aufgefordert werde, Deutschland zu verlassen: Dieses Land brauche mich nicht. Ich solle besser in meine Heimat zurückgehen und dort mein Unwesen treiben. Nun gut, auf gehts, ab in die Heimat. Knapp 120 Kilometer, dann bin ich da, im beschaulichen Ahlen in Westfalen – meiner Heimatstadt.

Nicht alle Angriffe erhalte ich schriftlich. Nach einer Veranstaltung in Frankfurt am Main fing mich eine ältere Dame ab und beschimpfte mich. Das sei ja wohl unerhört, was ich da mache, sagte sie mir ins Gesicht: „Jetzt müssen wir blonden Deutschen uns auch noch von Menschen wie Ihnen diskriminieren lassen.“ Immer wieder wird in E-Mails und in einschlägigen Online-Foren darüber spekuliert, wann mich endlich ein aufgebrachter Muslim oder auch Nicht-Muslim erschießen wird. In beinahe jeder Vortrags- oder Diskussionsveranstaltung erlebe ich, wie entweder die Zuhörer oder meine Mitdiskutanten davon sprechen, wie die Muslime sich anstrengen müssen, um sich der freiheitlich demokratischen Grundordnung anzupassen. Der Islam würde es ihnen schließlich sehr erschweren, hier frei zu leben. Außerdem müssten sich die Muslime hier in Deutschland dafür stark machen, dass in ihren Heimat- bzw. Herkunftsländern die Religionsfreiheit für Christen und der Bau von Kirchen gewährt werden. Das wäre ja sonst merkwürdig einseitig, denn schließlich sprieße hierzulande aus jedem Loch eine Moschee. Außerdem sollten Muslime wie ich sich anstrengen, um endlich andere von uns Muslimen davon zu überzeugen, die Scharia abzuschaffen oder zumindest von Deutschland und Europa fernzuhalten. Die Rolle der muslimischen Frau sei auch nicht befriedigend, da die meisten muslimischen Frauen, die selbstverständlich alle ein Kopftuch tragen, doch unterdrückt seien. Außerdem vermittle der Koran ein erschreckend negatives Gottesbild, wohingegen das Gottesbild im Christentum durchgehend positiv sei.

Wenn ich mich dann lange mit jedem einzelnen Punkt, jeder Behauptung und Diffamierung beschäftigt habe – und das durchaus auch islamkritisch –, folgt stets das Totschlagargument: „Sie, Frau Kaddor, sind ja auch ganz anders. Wenn alle Muslime so wären wie Sie, hätten wir keine Probleme mehr!” Es gibt aber sehr viele Muslime wie mich. Ich bin eine in Deutschland geborene Deutsche muslimischen Glaubens mit syrischem Migrationshintergrund. Meine Heimat ist ohne Wenn und Aber Deutschland. Eine andere Heimat habe ich nicht. Ich bin in Deutschland in den Kindergarten, in die Schule und auf die Universität gegangen. Hier leben meine deutsch-syrischen Eltern, meine ältere Schwester mit ihrem türkischstämmigen Ehemann und einer Tochter, mein älterer Bruder mit seiner russischstämmigen Ehefrau und ihrem Sohn, meine jüngere Schwester mit ihrem mikrobiologischen Promotionsprojekt, mein zweites Ich in Gestalt eines deutschstämmigen muslimischen Ehemannes, meine deutschstämmigen christlichen Schwiegereltern, meine wunderbaren Freunde, Arbeitskollegen, Schüler! Hier wähle ich, interessiere mich für Politik und zahle meine Steuern. Hier verteidige ich unsere demokratische Ordnung und stehe für die Meinungs- und Religionsfreiheit sowie für die Gleichberechtigung ein. Ich lebe also nicht nur in Deutschland. Ich partizipiere an gesellschaftlichen und politischen Prozessen und fühle mich hier pudelwohl. Ich bin gläubige Muslimin, und das hindert mich nicht, eine gute Demokratin zu sein. Wir muslimischen Deutschen und zugleich wir deutschen Muslime möchten genau als das verstanden werden. Es muss Schluss damit sein, uns als Fremde anzusehen. Nicht andere sagen mir, ob und wie ich deutsch bin, sondern ich möchte selbst bestimmen, was mein Deutschsein bedeutet. Nicht andere sagen mir, was der Islam ist oder sein sollte, sondern ich möchte selbst bestimmen, wie ich meinen Islam lebe.

Nie wieder „die Muslime”

Ein respektvoller Umgang miteinander kann nur über Empathie funktionieren. Doch die sogenannten Islamkritiker und ihre Förderer machen sich offensichtlich keinerlei Gedanken darüber, welche Verantwortung sie tragen und was ihr Handeln bei den vielen muslimischen Mitbürgern anrichten kann, die unauffällig ihrem Alltag mit Arbeit, Familie und Freizeit nachgehen, dabei kein Aufheben um ihre Religion machen, aber im Privaten dennoch Halt im Glauben suchen. Um mit Bundeskanzlerin Merkel zu sprechen: Sie fühlen sich „äußerst verletzt“.

Schon bisher gab es kaum einen Vortrag, kaum eine Lesung oder eine sonstige öffentliche Veranstaltung von mir, die nicht von mindestens einem „besorgten“ Bürger besucht wurde. Und immer wieder haben Zuhörer die richtige Koranübersetzung dabei und wissen genau, wie bestimmte Verse heute von Muslimen verstanden werden. Und immer wieder werde ich von genau diesen Personen vor, während oder nach einer Veranstaltung „heimgesucht“, die mich kritisch fragen: „Wozu braucht man überhaupt Moscheen? Das ist doch ein christliches Land.“ – „Warum müssen wir eigentlich immer so tolerant zu den Moslems sein?“ – „Warum wird in Algerien Menschen der Kopf abgeschnitten?“ Vor kurzem sagte ein „kritischer“ Zuhörer zu mir: „Frau Kaddor, geben Sie es doch zu. Die Muslime lügen und betrügen – so steht es ja auch im Koran.“ Und immer wieder heißt es: Die Muslime können nicht in einer Demokratie leben, die Muslime wollen die Scharia, die Muslime heiraten nur untereinander, die Muslime kennen keine Gleichberechtigung... Und nach der Sarrazin-Debatte werden gewiss noch viel mehr Menschen von alldem überzeugt sein.

Es gibt aber nicht „die Muslime”! Und es gibt keine muslimische Weltverschwörung gegen den Westen. Es muss endlich Schluss sein damit, Muslime als ein Volk zu betrachten und alle über einen Kamm zu scheren. Nur wenn wir das endlich begreifen, kommen wir in der notwendigen Integrations-debatte wirklich einen Schritt weit

 

[1] In ihrer „Heimat“, die sie wenn überhaupt nur aus dem Urlaub kennen, geht es den Jugendlichen oft nicht anders; dort sind sie zumeist nur „die Deutschen“. 

[2] Übrigens wurde jene Oriana Fallaci von Papst Benedikt XVI. kurz nach dessen Amtsantritt mit einer Privataudienz geehrt.

[3] Vgl. Patrick Bahners, Fanatismus der Aufklärung. Zur Kritik der Islamkritik, in: „Blätter“, 9/2010,
S. 105-117.

 

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