Ausgabe März 2011

Stuttgart 21: Das lange Leben des technischen Staates

Das Dach des künftigen unterirdischen Durchgangsbahnhof ist geschlossen. Es wird getragen von 28 sogenannten Kelchstützen, 27.11.2023 (IMAGO / Arnulf Hettrich)

Bild: Das Dach des künftigen unterirdischen Durchgangsbahnhof ist geschlossen. Es wird getragen von 28 sogenannten Kelchstützen, 27.11.2023 (IMAGO / Arnulf Hettrich)

Wie kaum ein anderes Ereignis der jüngeren Vergangenheit irritierte der vehemente Bürgerprotest gegen das Großprojekt Stuttgart 21 die bundesdeutsche Öffentlichkeit – und vor allem die Vertreter eines konservativen Staatsverständnisses. Die besondere Dynamik des Protestes mag von landespolitischen Umständen wenn auch nicht ausgelöst, so doch immerhin verschärft worden sein: Die frühe Abdankung des glücklosen und unbeliebten Ministerpräsidenten Günther Oettinger sowie die Inthronisierung des ehrgeizigen, aber jeder landesväterlichen Attitüde entbehrenden Stefan Mappus haben den Monopolanspruch der CDU im einstigen Musterländle erschüttert. Der Widerstand gegen Stuttgart 21 kann insofern auch als ein Aufbegehren gegen ein vermeintlich alternativloses CDU-Regiment gesehen werden.

Doch die eigentliche Ursache der Proteste liegt tiefer. Sie basiert darauf, dass sich im Projekt Stuttgart 21 mehrere Problemfelder krisenhaft überschneiden. Dies hat zu einer Kumulation von Unzufriedenheit bei den Stuttgarter Bürgerinnen und Bürgern geführt. Nicht alle Gründe sind dabei sachbezogen auf das Bauvorhaben zurückzuführen, doch die allermeisten lassen sich einem generellen Dilemma zuordnen: Wie organisieren komplexe demokratische Gesellschaften die Umsetzung von Großvorhaben zugleich sachgerecht und mit Zustimmung ihrer Bürger?

Diese beiden Legitimationsvoraussetzungen einer jeden Demokratie zu befriedigen, ist im Fall von Stuttgart 21 offenbar nicht gelungen. Anders lässt sich kaum erklären, warum in vergleichbaren Fällen ernsthafter Protest ausblieb. Der Bau des Berliner Hauptbahnhofs etwa hätte gewiss Grund für Beanstandungen und Kritik geboten: Immerhin wurde dafür der erst Ende der 90er Jahre frisch renovierte und denkmalgeschützte Lehrter Stadtbahnhof abgerissen, anschließend kam es zu zahlreichen Baumängeln und einer wahren Kostenexplosion. Doch offenbar fühlten sich zu wenige Bürger tatsächlich betroffen von der Berliner Großbaustelle, die in der einstigen Brache vom Potsdamer Platz über das Brandenburger Tor bis zu Reichstagsgebäude und Kanzleramt entstand. Man hatte sich schon auf Jahre im Provisorium eingerichtet und fühlte sich nun in einer Win-Win-Situation: Wo früher gar nichts war, sollte zukünftig wenigstens etwas sein. Das sieht in Stuttgart bekanntlich anders aus. Auch deshalb fielen hier staatliche Planung und Zustimmung der Bürger erheblich auseinander.

Im Mittelpunkt der Kontroverse stand und steht dabei das Verhältnis von Technik und Planung versus demokratischem Verfahren und Legitimation. Dabei handelt es sich um eine durchaus vertraute, um nicht zu sagen altbekannte Konstellation. Sie wurde insbesondere in den 1960er und 70er Jahren verhandelt, und zwar unter den Stichworten Technokratie, technischer Staat und den viel beklagten „Legitimationsproblemen im Spätkapitalismus“, wie ein berühmter Buchtitel von Jürgen Habermas lautete. Es bleibt also zu fragen, ob es sich heute um eine bloße Wiederkehr des Immergleichen handelt oder ob sich heutige Streitpunkte wesentlich vom damals Diskutierten unterscheiden. Ein kleiner Rückblick mag uns der Beantwortung dieser Frage näher bringen.

Der „technische Staat“ und seine Ideologie

Die Rede vom „technischen Staat“ löste schon in der Vergangenheit keine besonders vertrauenserweckenden Assoziationen aus. In den Konzeptionen der großen Staatstheoretiker von Hobbes bis Weber entwickelt sich der Staat zu einem machtvollen Ungetüm, zu einer rationalisierten bürokratischen Maschine, die durch Rechtssetzung und Sozialleistungen das Leben seiner Bürger immer detaillierter zu regeln und zu alimentieren bestrebt war. Immerhin stellte Max Weber in seinem „rationalen bürokratisierten Anstaltsstaat“ der Bürokratie noch den kraftvollen und charismatischen Politiker gegenüber, der das notwendige Gegengewicht zum mechanisierten Immobilismus der Verwaltung bilden und der Staatsmaschine die Richtung vorgeben sollte. Was Weber dagegen von Hobbes übernimmt, ist die Betonung des staatlichen Gewaltmonopols. Der Staat ist, so Webers klassische Definition, „ein auf das Mittel der legitimen Gewaltsamkeit gestütztes Herrschaftsverhältnis von Menschen über Menschen“.[1]

Wo innerhalb eines Staates Menschen über Menschen herrschen, gibt es einerseits Ungleichheit, nämlich das Gefälle zwischen Herrscher und Beherrschten, andererseits aber auch individuelle Gestaltungsräume, da Einzelne Herrschaft ausüben und damit einen politischen Kurs vorgeben, aber auch zur Verantwortung gezogen werden können. Inwieweit diese Form der Herrschaft rechenschaftspflichtig, kontrollbedürftig und auswechselbar ist, gehört bekanntlich zu den Aushandlungsproblemen der Demokratie. Es bleibt jedoch festzuhalten, dass Weber immer noch von Formen der personalen Herrschaft, von der individuellen Verantwortbarkeit politischer Entscheidungen ausgeht, sie bleibt zumindest seine Idealvorstellung.

Natürlich spielt auch die Technik in Webers Konzeption eine Rolle. Aber für ihn „bedeutet das Vorliegen einer technischen Frage“ immer, „dass über die rationalsten Mittel Zweifel bestehen“.[2] Technik ist also bei Weber nur ein Mittel der Herrschaft, sie allein macht aber noch keine Herrschaft aus. Max Weber war somit weit entfernt davon, in Fortschritt und Technik selbst die Lösung politischer Probleme zu erkennen. Ein rein technischer Staat, dessen Gewalt vermeintlich objektiven Sachzwängen gehorcht – das war aus Webers Sicht ein Ding der Unmöglichkeit, eine Dystopie des Schreckens.

Der technokratische Konservatismus

Die Ideologie eines technischen Staates gehört dagegen zur Frühgeschichte der Bundesrepublik. Sie ist ein Bestandteil der Ideenlandschaft der 1950er und 60er Jahre, als – keineswegs nur in Deutschland – der Glaube an die Planbarkeit und Steuerung moderner Industriegesellschaften weit verbreitet war, und zwar über die ideologischen Lagergrenzen hinweg. Zur Besonderheit der deutschen Entwicklung zählt, dass die wichtigsten Vertreter dieser Denkrichtung (wie Hans Freyer, Arnold Gehlen, Helmut Schelsky oder Ernst Forsthoff) aus dem rechten politischen Spektrum stammten. Sie waren ehemalige konservative Revolutionäre, die sich mit dem Nationalsozialismus eingelassen hatten. Geblieben waren nach dem Krieg ihr Antiliberalismus und ihre Demokratieskepsis. Sie erlebten die Gründungsphase der Bundesrepublik nicht zuvörderst unter dem Aspekt einer Reeducation, einer Liberalisierung und Neueinübung der Demokratie, sondern als postideologisches technisches Zeitalter, als Epoche, die der politischen Ideen verlustig gegangen war. Eine überraschende Wende, wenn man sich vor Augen führt, dass die Welt des Kalten Krieges nicht zuletzt eine Welt im Streit um Ideen war.

Vielleicht kompensierten die konservativen Technokraten aber auch eigene Irrtümer. Denn in den 1930er Jahren hatten sie noch der romantisch inspirierten und völkisch getönten Idee einer nationalen Revolution gehuldigt und sich in den Irrationalismus geflüchtet, um aus dem „Weimarer System“ auszubrechen. Davon war nun nicht mehr viel übrig geblieben. Es war symptomatisch, dass Gehlen und Schelsky ihren Anspruch auf harten Realismus und Wirklichkeitswissenschaft mit einem Fachwechsel von der Philosophie zur Soziologie verbanden. Nun sollte es nicht mehr die „deutsche Soziologie“ sein, die ihr Lehrer Freyer in der Zwischenkriegszeit zu begründen hoffte, sondern der Weg war beschritten zu einem angelsächsisch beeinflussten, pragmatisch getönten Empirismus. Doch dabei handelte es sich um keinen Pragmatismus der Handlungsmöglichkeiten, sondern um einen Realismus aus Einsicht in die Notwendigkeit dessen, was ohnehin zu tun ist.

Die Kernbotschaft des technokratischen Konservatismus lässt sich wie folgt zusammenfassen: Technisierung und Fortschritt sind alternativlos, die Industriegesellschaft ist das Paradigma der Moderne, Sachzwänge diktieren staatliches Handeln. Wenn die konservativen Technokraten auch keine Emphatiker des technischen Fortschritts sind, so erkennen sie in ihm doch das alles beherrschende Paradigma der Moderne – und zeigen in ihrer Technikgläubigkeit eine erstaunliche Nähe zum sozialistischen Fortschrittsideal. Während der Konservative früher die ordnungsstiftende Kraft von Religion, Tradition, gesellschaftlichen Hierarchien gepriesen hat, reicht es nun immerhin für ein Lob der Technik als Stabilitätsgarant, um die Fliehkräfte der pluralistischen Gesellschaft in Schach zu halten. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch der berühmte Ausspruch von Franz Josef Strauß, „konservativ ist, an der Spitze des Fortschritts zu marschieren“, besser verorten und verstehen.

Halbierte Moderne: Technik statt Moral

Will man die Errungenschaften dieser Vordenker des technischen Staates würdigen, kann man ihnen immerhin zugute halten, dass sie den Konservatismus für die Moderne geöffnet haben. Allerdings ist es eine um ihren normativen Gehalt halbierte Moderne. Und eine entscheidende, auch politische Rolle spielt dabei die Technik. Mit der unaufhaltsamen Dominanz der Technik verliert nämlich, wie Helmut Schelsky 1961 schreibt, „die Idee der Demokratie ihre klassische Substanz: An die Stelle des politischen Volkswillens tritt die Sachgesetzlichkeit, die der Mensch als Wissenschaft und Arbeit selbst produziert.“ In seinem viel diskutierten Vortrag „Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation“ fasst Schelsky die Quintessenz dieser Technikideologie in folgende Formel: „Der Sachzwang der technischen Mittel, die unter der Maxime einer optimalen Funktions- und Leistungsfähigkeit bedient sein wollen, enthebt von Sinnfragen nach dem Wesen des Staates. Die moderne Technik bedarf keiner Legitimität; mit ihr herrscht man, weil sie funktioniert.“

Webers Politikverständnis, die Herrschaft von Menschen über Menschen, hatte sich für Schelsky überlebt, denn: „Der technische Staat beseitigt das traditionale Verhältnis der Herrschaft selbst.“ Lautlos übernimmt der Sachzwang das Regiment: „Die Verwandlung der Demokratie in den ‚technischen Staat’ bedarf keiner Revolution im sozialen oder politischen Sinne, keiner Verfassungsänderung, keiner ideologischen Bekehrung. Es bedarf nur der steigenden Anwendung wissenschaftlicher Techniken aller Art, und der technische Staat entsteht im alten Gehäuse.“[3]

Diese Positionsbestimmung, die man in Variationen auch bei Gehlen, Forsthoff oder Freyer nachlesen kann, kultivierte einen kalten Blick auf die Moderne. In der Bundesrepublik ließ sich der paradigmatische technische Staat der Industriegesellschaft erkennen: fehlende Souveränität, Zwang zur supranationalen Integration, Primat der Ökonomie. Normative Debatten um Gerechtigkeit, sozialen Ausgleich, das gute Leben wurden als überflüssiger Tand abgetan. Die Prozeduren der parlamentarischen Demokratie degenerierten zu einem Fassadenspiel, das nur noch nachvollzog, was die Eliten in Wissenschaft, Wirtschaft und Politik schon als sachzwangnotwendig erkannt hatten. Die Leitvokabeln dieser technokratischen Denkhaltung, Sachzwanglogik und Alternativlosigkeit, sind einem seither in durchaus wechselnden parteipolitischen Konstellationen immer wieder begegnet.

Die Ideologie der Alternativlosigkeit: Demokratie ohne Opposition

Und dennoch: Es ist kaum abzustreiten, dass eine derartige Abstraktion – trotz ihrer antiliberalen Überzeichnung – damals auf einigen zutreffenden Beobachtungen fußte. In der Tat schien der expandierend-regulierende Wohlfahrtsstaat alternativlos; seine steuernde Kraft hing gleichzeitig von immer komplexer werdenden Bedingungszusammenhängen ab; der einzelne Bürger konnte zusehends weniger eigene Gestaltungs- und Partizipationsspielräume erkennen. Dass die Theorie des technischen Staates bei allem Sinn für neu entstandene Wirklichkeiten uns dennoch wichtige Antworten schuldig bleibt, zeigt allein schon der Umstand, dass sie Szenarien wie den Stuttgarter Bürgerprotest völlig unberücksichtigt lässt, weil sie in ihrem Denkmodell gar nicht vorkommen. Klarer ausgedrückt: Zur Opposition gibt es in dieser von technischer Rationalität durchwirkten Welt nicht nur keinen triftigen Grund, sondern ein solcher Protest hätte auch gar keine Chance. Schelsky war zwar ein unbedingter Verfechter eines „social engineering“ für die Bürger, er wollte jedoch auf ihre Mitwirkung verzichten. (Als Universitätsreformer in Bielefeld handelte er selbst entsprechend und ließ sich mit nie wieder gewährten planerischen Freiheiten ausstatten.)

Es wäre zu einfach anzunehmen, dass diese rechtshegelianische, auf Stabilität und Sicherheit bedachte Sichtweise infolge der Studentenproteste der späten 1960er Jahre beseitigt worden wäre. Immerhin änderte sich bis weit in die 80er Jahre, vielleicht sogar bis in die Gegenwart nicht allzu viel, was das Vertrauen in Stadt-, Infrastruktur- und generelle Planungsvorhaben angeht. Unsere Innenstädte, der soziale Wohnungsbau und der Ausbau des Straßennetzes zeugen von einem ungebrochenen Glauben an die Kompetenz des planenden „technischen Staates“. Weniger die 68er, die sich für die weicheren Themen der politischen Kultur einsetzten, als vielmehr die Bürgerinitiativen der 70er und 80er Jahre artikulierten massive Zweifel am „technischen Staat“. Sie nahmen die schädlichen Nebenfolgen des Fortschritts in den Blick. Insbesondere die Einsicht in die Grenzen des Wachstums, die Ölkrise, die Gefahren der Atomenergie, die Erfahrung der Umweltbelastungen durch die Industrie, durch Auto- und Flugverkehr führten zu einem wenigstens zeitweiligen Bewusstseinswandel: Was vorher als von den äußeren Umständen diktierter Sachzwang empfunden worden war, fiel nun wieder in die Verantwortung der Bürger zurück. Fortschritt war nicht selbsterklärend, konnte nicht als etwas vom technischen Staat nur noch zu Verwirklichendes aufgefasst werden, sondern der Fortschritt wurde zum Orientierungsproblem, wie es der Philosoph Hermann Lübbe ausdrückte.[4]

Trotz alledem hat sich der Glaube an den „technischen Staat“ strukturell viel länger gehalten, als die fundamentalen Einwände gegen die antiliberalen Technokraten vermuten lassen. Auch heute glaubt man größtenteils noch an die Abstraktion des technischen Staates, den man gleichsam über der Gesellschaft schweben sieht. Das Vertrauen in ihn wird unter Umständen punktuell, etwa im Falle Stuttgart 21, aber nicht grundsätzlich erschüttert. Vielleicht ist darin immer noch das späte Erbe eines spezifisch deutschen Staatsglaubens zu erkennen.

Habermas versus Lübbe

Immerhin war die Kritik am „technischen Staat“ bereits in den 60er Jahren vielfältig. Neben der normativen Enthaltsamkeit des Konzepts wurde von links vor allem die vermeintliche Stabilität der Industriegesellschaft bezweifelt. Ihr stellte man – wie auf dem legendären Soziologentag von 1968 – das Krisenmodell des Spätkapitalismus entgegen.[5] Dieser Konflikt, der für das gegenwärtige Spannungsverhältnis von Staat, technischem Fortschritt und demokratischer Legitimation nach wie vor lehrreich ist, lässt sich am besten anhand der vermutlich markantesten philosophischen Kontrahenten der 70er Jahre verdeutlichen: Jürgen Habermas und Hermann Lübbe.

Habermas nahm das technokratische Modell für eine Beschreibung bundesrepublikanischer Wirklichkeit; nur so ist seine düstere Krisendiagnose spätkapitalistischer Ausweglosigkeit zu verstehen.[6] Aus seiner Sicht hatte sich eine Elite, die Technik und Wissenschaft als einzige Ideologie gelten ließ, von den gesellschaftlichen Diskursen entkoppelt. Diese Entfremdung, die Distanz zwischen System und Lebenswelt, machte Regierungshandeln zunehmend irrationaler. Habermas ging davon aus, dass die Rationalität politischer Entscheidungen nur dann gewährleistet sei, wenn diese ausreichend in Diskursen unter chancengerechten Kommunikationsbedingungen fundiert sind. Der Punkt, der die Habermassche Position immer noch bedenkenswert macht, ist die Gefahr der Selbstabschließung des Systems von der Lebenswelt der Bürger. Der normative Anspruch, den sein Idealbild eines kommunikativ ermittelten vernünftigen Diskurs-Outputs stellt, verweist auf das Dilemma des problemlösungsfixierten Technokratiemodells, wie es soeben in Stuttgart zum Ausdruck gekommen ist.

Lübbe dagegen versteht die „vom Sachzwang beherrschte Ordnung einer entpolitisierten Technokratie“ lediglich als ein Denkmodell.[7] Verwissenschaftlichung, Rationalisierung und Planung sind zwar manifeste Faktoren in der Politik; sie lassen sich jedoch niemals Sachzwanglogiken unterordnen. Denn auch wenn Spezialisten verschiedene Problemlösungsszenarien vorbereiten helfen und Pläne ausarbeiten, so soll doch die tatsächliche Dezision über die Verwirklichung ein Politikum bleiben. Es bleiben die Bürger, um deren Zustimmung auch Experten in der Demokratie werben müssen, es bleiben die Wähler, die unter Berufung auf den common sense entscheiden.

Letztlich ist es der Streit um die Legitimität in der repräsentativen Demokratie, der bereits in der Debatte um die Technokratie aufbricht. Der „technische Staat“ suggerierte eine mögliche Suspendierung der Legitimitätsfrage zugunsten von sachzwangbedingten Notwendigkeiten. Doch während Habermas’ Forderung nach diskursiver Einbindung auf die Berücksichtigung institutioneller Prozeduren noch weitgehend verzichtet und utopisch-idealistisch bleibt, scheint Lübbes Theorie lediglich die verfassungsmäßig vorgegebenen Mechanismen theoretisch abzubilden. Beide Kritiken – die Habermassche Forderung nach diskursiver Rückbindung und Lübbes Beharren auf dem liberalen Wettbewerbscharakter technischer Planung, die zur Disposition des demokratischen Entscheids steht – sind substanziell, legen aber die eigentliche Problematik erst frei. So werden Ansprüche formuliert, an denen das Verhalten der agierenden Eliten, die Bedürfnisse der Bürger und die institutionell vorgegebenen Prozeduren gemessen werden können. Vor allem aber zeigt die Kritik, dass ein technischer Staat als „ethisch indifferente Superstruktur“ (Helmut Schelsky) ein Ding der Unmöglichkeit bleiben muss. Zum einen wird jedes Planungsvorhaben im pluralistischen Staat stets von Interessengruppen, Verbänden, Unternehmen, Lobbyisten etc. beeinflusst und gelenkt, so dass eine objektive Durchsetzung des vermeintlich Notwendigen eine Chimäre bleiben muss. Zum anderen muss auch im pluralistischen Staat eine Verständigung über Staatszwecke, gemeinwohlorientiertes Handeln und über den Nutzen für die Allgemeinheit möglich sein. Mit anderen Worten: Spricht man im Namen des Staates, beansprucht man eine übergreifende Bedeutung, setzt man einen normativen Anspruch voraus.

Exempel Stuttgart 21: „Legitimation durch Verfahren“ als Problem

Betrachtet man nun den Prozess, der zu Stuttgart 21 geführt hat, so kommt man nicht umhin, auf den genannten Ebenen Defizite zu erkennen. Zunächst einmal ist der Staat zwar Adressat für den Protest, es wäre aber völlig realitätsfern, in ihm einen kohärent handelnden Akteur oder gar einen den allgemeinen Nutzen fördernden technischen Staat zu erkennen. Stattdessen sind mehrere staatliche Instanzen gemeinschaftlich beteiligt: der Bund, das Land Baden-Württemberg und die Stadt Stuttgart, weiterhin natürlich die Deutsche Bahn als privatrechtlich organisiertes Staatsunternehmen. Nimmt man die maßgebliche Förderung des Projekts durch EU-Gelder hinzu, dann wird plausibel, warum sich der „Wutbürger“ gegen die politische Klasse insgesamt formiert. Im komplexen Zusammenspiel der Institutionen wird nämlich völlig unklar, wer nun eigentlich in erster Linie für das verantwortlich ist, was (zumindest zunächst) eine beeindruckende Mehrheit der politisch Beteiligten gewollt hat. Offenbar glaubten am Ende auch die am politischen Prozess der Planung und Bewilligung Beteiligten in Vollzug eines anonymen Sachzwangs zu handeln. Die gewaltige Mehrheit im baden-württembergischen Landtag von 115 zu 15 Abgeordneten in der Abstimmung vom Oktober 2006 (nur Gegenstimmen der Grünen) belegt dies ebenso wie die überlieferte Praxis, kritische Gutachterstimmen von vornherein auszuschalten bzw. Alternativpläne gar nicht erst zuzulassen. Insofern scheinen die Mechanismen eines technischen Staates hier ihre Bestätigung zu finden. Mit schwerwiegenden Konsequenzen: Das Festhalten am Abstraktum des quasi objektiv fortschrittsverpflichteten Staates bedeutet eine Verwischung von Verantwortlichkeiten wie auch eine völlige Verunklarung von normativen Staatszwecken und gemeinwohlorientierten Staatszielen. Seit Niklas Luhmann haben wir uns angewöhnt, diese Entpersonalisierung von Staatshandeln als eine „Legitimation durch Verfahren“ zu beschreiben. Sie sorgt einerseits dafür, Verantwortung institutionell zu differenzieren und auch zu professionalisieren. Andererseits scheint sie uns eine Existenznotwendigkeit der indirekten, also repräsentativen parlamentarischen Demokratie, die Volkssouveränität nur noch als Fiktion begreifen kann. Eine Fiktion deshalb, weil wir in der Demokratie vom Souverän nur grobe Richtungsentscheidung erwarten können, aber kein Initiativhandeln. Diese Richtungsentscheidungen werden in der Parteiendemokratie glücklicherweise komplexer vermittelt, als dies noch die vulgärrousseauistische Variante eines Carl Schmitt forderte. Schmitt war bekanntlich der Auffassung, das Staatsvolk könne ihm gestellte Fragen nur mit Ja oder Nein beantworten. Der Missbrauch dieses demokratischen Homogenitätsideals liegt auf der Hand: Alles hängt hier davon ab, wer auf welche Weise die Frage stellt. Die Repräsentation von Differenz fällt dabei unter den Tisch. Die Legitimation durch Verfahren wird deshalb zu einem Problem. Auch der Rückzug auf die Position eines konservativen Institutionalismus[8] hilft da nicht weiter: Es steht keineswegs gleich die Legitimität des Rechtsstaates zur Disposition, wenn sich trotz Einhaltung aller Verfahrensregeln Protest gegen eine getroffene politische Entscheidung regt. Wäre dies so, könnten wir uns vom Demonstrationsrecht gleich verabschieden. Der Rechtsstaat gerät vielmehr dann in Gefahr, wenn man verschiedene Arten der Legitimierung, etwa Volksabstimmungen gegen eingespielte Verfahren, gegeneinander ausspielt.

Die Demokratie – ein schwieriger Bauherr

Warum gerade Großbauprojekte anfällig für Protest, Revisionsbedürfnisse und Korrekturforderungen sind, hat Stuttgart 21 exemplarisch verdeutlicht.

Erstens: Die Demokratie ist ein schwieriger Bauherr. Ihre Vorhaben lassen sich nur repräsentativ oder funktional begründen. Anders gesagt: Eine stolze Republik hat es viel schwerer, sich in ihren Bauten darzustellen, als ein autokratisches Regime. Es bedarf weit mehr Begründungsaufwand, öffentliche Gelder für ästhetische Belange auszugeben, weil der Staat nicht als wohltätiger Gönner oder als Manifestation eines Machtanspruchs auftritt, sondern die Identifikation mit dem Gemeinwohl sucht. Hier nützt auch der von neoliberalen Wirtschaftseliten gepflegte, bewundernde Blick auf die Megaprojekte in den Golfstaaten oder in China nichts. Denn eigentlich sollte es kaum erläuterungsbedürftig sein, warum derlei in einer repräsentativen Demokratie eine Unmöglichkeit ist. Zudem ist es nach der beschleunigten Modernisierungserfahrung der letzten 150 Jahre in Europa schwierig, wenn nicht ausgeschlossen, aus einer Tabula-rasa-Situation (wie in China) etwas Neues zu schaffen. Mittlerweile entsteht kein Bahnhof, kein Flughafen, kein Straßenausbau in Städten auf einer Brachfläche, sondern immer muss bereits Vorhandenes weichen. Das Argument gegen jedes Vorhaben liegt damit auf der Hand: Bis jetzt hat es doch auch so geklappt.

Zweitens: Bauvorhaben brauchen Planungseliten, die gesellschaftliche Entwicklungen antizipieren und avantgardistisch in die Zukunft planen. Hier gibt es gegenwärtig kaum Möglichkeiten, dass Bürger produktiv die Initiative ergreifen oder sich, wie man heute sagt, „einbringen“ können. Zwar ist es schon durchaus so gewesen, dass politische Parteien mit bestimmten Bau- und Modernisierungsvorhaben in den Wahlkampf gegangen sind. Aber da in einer Landtags- oder Bundestagswahl immer über programmatische Gesamtpakete abgestimmt wird, ist eine bewusste situative Zustimmung zu einem Bauprojekt kaum generierbar.

Drittens: Der Faktor Zeit macht jedes technische Vorhaben zum Problem. Planung, Ausschreibung, politische Durchsetzung, Bewilligung – all diese Schritte brauchen Zeit, in der die technische Entwicklung nicht stillsteht. Ein bestimmtes Vorhaben bleibt nur für wenige Jahre state of the art; schon kurze Zeit später würde man wieder andere Lösungen finden, übrigens auch deshalb, weil sich neben den technischen Möglichkeiten ästhetisches Empfinden, Problembewusstsein und Prioritätensetzungen ändern. Überdies beeinträchtigt der zeitliche Planungshorizont die Budgetfrage, denn jedes Vorhaben erweist sich als komplexer und kostenintensiver als anfangs annonciert.

Viertens: Die Eigenheiten der Aufmerksamkeitsökonomik in der Mediendemokratie machen eine rationale und nüchterne Debatte um Bauvorhaben besonders schwer. Oft treten Projekte mit einer erstaunlichen Plötzlichkeit ins öffentliche Bewusstsein, und meist dann, wenn etwas schiefläuft, wenn Unregelmäßigkeiten entdeckt werden, die dann (auch über Gebühr) Erregungspotential freisetzen. Während sich der „fiktive Souverän“, also die Bürger, jahrelang nicht für die Planung interessierte, wird sie nun Gegenstand nachgeholter Empörung. Einer Empörung, die zu vermeiden gewesen wäre, wenn man sich vorher schon über das Projekt und die möglichen Optionen informiert hätte.

Der technische Staat als Dienstleistungsstaat

Was fangen wir mit diesen generalisierenden Beobachtungen an? Offensichtlich zeigen die Proteste gegen Stuttgart 21 vor allem dreierlei: Sie belegen erstens einen ungebrochenen Leistungsanspruch an den Staat, der in vielerlei Hinsicht noch als der reibungslos funktionierende technische Staat imaginiert wird. Der technische Staat ist heute vor allem Dienstleistungsstaat. Dabei wird ausgeblendet, dass es im pluralistischen Staat stets um den Ausgleich zwischen unterschiedlichen Interessengruppen geht, die auch infrastrukturelle Planungs- und Bauvorhaben mit einer gewissen Eigendynamik ausstatten.

Zweitens wird in Stuttgart nicht nur ein Partizipations-, sondern sogar ein Gestaltungsanspruch der Bürger artikuliert, der in dem erwünschten Umfang unerfüllbar bleiben muss. Gerade vor dem Hintergrund komplexer, von wissenschaftlichem und technischem Know-how abhängiger Bauvorhaben kann der Souverän seine Rolle realistischerweise nicht als Gestalter definieren; viel wichtiger wären hier ein verantwortungsvoll wahrgenommenes, frühzeitig einsetzendes teilnehmendes Interesse und die damit verbundene informierte Kontrolle. Der Grund allerdings, warum Interesse und Protest relativ spät einsetzten, ist kaum einseitig den Passivbürgern anzulasten, die übrigens nach wie vor bei weitem die Mehrheit ausmachen, sondern weist drittens auf generelle Defizite im politischen System hin. Desinteresse der Bürger und die bequeme Selbstabschließung der politischen Klasse gehen hier Hand in Hand. Es wäre deshalb zu einfach, Politikverdrossenheit und/oder vermeintlich wutbürgerliche Proteste einseitig „der Politik“ zuzuschieben. Natürlich hat die repräsentative Demokratie den Vorteil, ihre Bürger erst einmal zu entlasten. Es kann sich nicht jeder um alles kümmern. Aber diese Entlastung kann auch zu weit gehen. Es gilt die aristotelische Weisheit, dass jedes Gemeinwesen nur so gut ist, wie die Bürgerinnen und Bürger, aus denen es sich zusammensetzt und die es ausmachen. Nicht der reibungslos funktionierende, das Reich der Notwendigkeiten bloß verwaltende technische Staat darf daher ein liberales bürgerliches Denken bestimmen, sondern wir müssen mit dem Fehlbaren, mit Interessenklüngeln, mit Undurchsichtigkeiten rechnen, wenn sich zu wenige mit den öffentlichen Dingen, mit der res publica befassen.

Insofern läutete der Protest in Stuttgart weder den Untergang des Abendlandes noch die Fundamentalkrise der Demokratie ein. Im Gegenteil: Der relative Erfolg des Protests, die Erweckung einer in vermuteter Lethargie befindlichen großen Zahl von Bürgern, war ein starkes Signal für die Reaktivierung der Bürgergesellschaft. Der Protest gegen Stuttgart 21 ist ein positives Zeichen für eine generelle Reformfähigkeit der repräsentativen Demokratie, die ja nie einen utopisch vorgestellten Idealzustand erreicht, sondern work in progress oder das „Bohren dicker Bretter“ bedeutet.

Denn, wie Dolf Sternberger es formuliert hat: „Der Staat ist ein Prozess. Seine Einheit beruht nicht auf Herrschaft, sondern auf bürgerlicher Verabredung, auf bürgerlichem Übereinkommen.“[9] So kann die Tatsache, dass sich die Landesregierung immerhin zur Modifikation des Verfahrens durch Einsetzung eines Schlichters gezwungen sah, durchaus als heilsame Irritation der politischen Klasse aufgefasst werden – und als ein wichtiger Impuls, politische Vorhaben künftig besser, transparenter und damit verantwortungsvoller zu begründen.

 

[1] Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen 51976, S. 822.

[2] Ebd., S. 32.

[3] Helmut Schelsky, Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation, in: ders., Auf der Suche nach Wirklichkeit. Gesammelte Aufsätze, Düsseldorf und Köln 1965, S. 439-480, hier S. 456-460.

[4] Hermann Lübbe, Fortschritt als Orientierungsproblem. Aufklärung in der Gegenwart, Freiburg 1975.

[5] Theodor W. Adorno (Hg.), Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft? Verhandlungen des 16. Deutschen Soziologentages, Stuttgart 1969.

[6] Jürgen Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt a. M. 1973.

[7] Hermann Lübbe, Theorie und Entscheidung. Studien zum Primat der praktischen Vernunft, Freiburg 1971.

[8] So Günter Nonnenmacher, Über Stuttgart hinaus, in: „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“,10.10.2010.

[9] Dolf Sternberger, Grund und Abgrund der Macht, Frankfurt a. M. 1962, S. 240.

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