Die Massen mutiger Menschen in der arabischen Welt, von Tunis bis zum Tahrir-Platz, von Jemen und Bahrain bis nach Bengasi und Tripolis, haben unsere Herzen erobert. In den Vereinigten Staaten und in Europa ist der Winter der Unzufriedenheit jedoch nicht vorbei: Weder hat der arabische Frühling den unbarmherzigen Angriffen konservativer Politiker auf die materiell Schwächsten in den USA Einhalt geboten, noch hat der Aufstieg eines politisch verbrämten Neonationalismus in Deutschland und Frankreich ein Ende gefunden, die beide versuchen, ihre nationalen Sparmaßnahmen allen Lohnempfängern in der Europäischen Union aufzuzwingen. Dennoch sprießen selbst in einigen amerikanischen Bundesstaaten frische Schösslinge aus dem gefrorenen Boden: Wochenlang kämpften die Beschäftigten im öffentlichen Dienst in Wisconsin gegen den Verlust ihres Rechts auf Tarifverhandlungen, und ähnliche Aktionen sind für Indiana, Ohio und andere Bundesstaaten angekündigt. Im Internet macht das Foto eines Plakats, das ein ägyptischer Demonstrant hochhält, die Runde. Auf dem Plakat steht: „Ägypten unterstützt die Arbeiter in Wisconsin: Eine Welt, ein Leid“. Ein Einwohner von Wisconsin antwortete: „Wir lieben Euch. Danke für die Unterstützung und Glückwunsch zu Eurem Sieg!“
Natürlich kämpfen die Demonstranten in Wisconsin und die tunesischen und ägyptischen Revolutionäre für unterschiedliche Ziele. Erstere widersetzen sich ihrer weiteren Ruhigstellung und Demütigung, durch die sie in den vergangenen 20 Jahren aufgrund der verheerenden Auswirkungen des amerikanischen und des globalen Finanzkapitalismus beinahe zu gefügigen und mutlosen Stubenhockern gemacht worden sind. Die arabischen Revolutionäre hingegen kämpfen für demokratische Rechte, einen freien öffentlichen Raum und den Anschluss an die moderne Welt nach Jahrzehnten der Lügen, Isolation und Täuschung. In beiden Fällen aber wurde Hoffnung auf Wandel geweckt: Die politischen und wirtschaftlichen Ordnungen sind zerbrechlich und für Veränderungen empfänglich.
Eine neue Freiheitsordnung
Doch wir wissen, dass auf den Frühling der Revolutionen die Leidenschaften des Sommers und die Zwietracht des Herbstes folgen. Spätestens seit Hegels Analyse der Auswüchse der Französischen Revolution in seiner 1807 erschienenen „Phänomenologie des Geistes“ ist die Ansicht, die Revolution fresse ihre Kinder, allgemein verbreitet. Davor warnte nicht nur US-Außenministerin Hillary Clinton in den ersten Tagen des Aufstands in Ägypten; auch zahlreiche Kommentatoren, die ihr mangelndes Vertrauen in die Fähigkeit arabischer Völker, Demokratie zu praktizieren, vorübergehend verbargen, frohlocken nun angesichts erster Kontroversen zwischen religiösen und säkularen Gruppen in Ägypten und Tunesien. Die Journalisten und Intellektuellen der europäischen Rechten haben lang und breit darüber diskutiert, ob „Islamophobie“ rassistisch ist oder nicht. Nun bemühen sie sich, ihre Spuren zu verwischen, während die „Pseudofreunde“ Israels unter europäischen Konservativen vor Weltuntergangsszenarien warnen, die sie durch angeblich drohende Angriffe auf den Norden Israels seitens der Hisbollah und auf den Süden durch Ägypten im Bündnis mit der Hamas heraufziehen sehen.[1]
Nichts davon ist unvermeidlich: Es ist nicht unvermeidlich, ja nicht einmal wahrscheinlich, dass fundamentalistische muslimische Parteien Tunesien oder Ägypten in Theokratien verwandeln; und es ist auch keineswegs unvermeidlich, dass Iran bestimmenden Einfluss gewinnt und die arabischen Staaten erneut Krieg gegen Israel führen. Was sich vor unseren Augen abspielt, ist wahrhaft revolutionär in dem Sinne, dass sich in der arabischen Welt grenzübergreifend eine neue Freiheitsordnung – ein novo ordo saeclorum – herausbildet.
Bis vor kurzem hieß es oft, nicht nur in der arabischen, sondern in der muslimischen Welt insgesamt gäbe es lediglich drei politische Optionen: erstens korrupte Autokratien, deren Autorität, wie in Ägypten und Libyen, auf einen Militärputsch zurückgeht, und Königshäuser, die sich, wie in Saudi-Arabien und Jordanien, Loyalität gegen Wohlstand erkaufen; zweitens „islamische Fundamentalismen“ – eine pauschale Kategorie, die vorsätzlich die Geschichte wie auch die Politik dieser verschiedenen Gruppen innerhalb der Regime wie auch untereinander verschleiert; drittens den „Terrorismus“ von Al Qaida, der gelegentlich in dieselbe Schublade wie der islamische Fundamentalismus gesteckt wurde. (Historisch gesehen liegen die Wurzeln von Al Qaida im Königreich Saudi-Arabien, wo Osama bin Laden geboren wurde. Aber auch viele Ideologen der ägyptischen Muslimbruderschaft, wie etwa Said al-Qutb, haben Al Qaida beeinflusst. Es ist außerdem bekannt, dass die Nummer 2 von Al Qaida, Eiman al-Sawahiri, ein ägyptischer Arzt ist.)
Was jedoch kein Kommentator voraussah, ist die Herausbildung einer Massenbewegung demokratischen Widerstands, die in ihrem Politikverständnis äußerst modern und bisweilen zwar vom Glauben geprägt, aber nicht fanatisch ist – ein wichtiger, ständig ignorierter Unterschied. So wie die Anhänger Martin Luther Kings ihre Bildung in den Kirchen der Schwarzen im amerikanischen Süden erhielten und auch ihre spirituelle Kraft aus diesen Gemeinden bezogen, so stützen sich die Massen in Tunesien, Ägypten und anderswo auf die islamischen Traditionen der Schahada, gleichzeitig Märtyrer und Zeuge Gottes zu sein. Die religiöse Überzeugung und die modernen Sehnsüchte vieler, die an diesen Bewegungen teilnahmen, sind nicht zwangsläufig unvereinbar.
Der Modernismus der Demokratiebewegungen
Die Isolation des radikalen Islamismus
Wie steht es um die islamistischen Bewegungen und Parteien in diesen Ländern? Es ist bemerkenswert, wie viele Kommentatoren schon jetzt vorgeben, das Ergebnis dieser politischen Prozesse zu kennen: Hinter vorgehaltener Hand trauen sie den islamistischen Gruppen alles, den Demonstranten gar nichts zu. Sie zeigen sich überzeugt davon, dass diese Revolutionen gekapert und in Theokratien umgewandelt werden. Das sind nicht nur zutiefst parteiische Spekulationen, die in tiefsitzenden kulturellen Vorurteilen gegen Muslime und ihre Fähigkeit zur Selbstregierung wurzeln. Es sind zugleich zutiefst antipolitische Spekulationen müde gewordener Eliten, die die bürgerlich-republikanische Streitbarkeit vergessen haben, aus der ihre eigenen Demokratien einst hervorgingen. In Ägypten, Tunesien und anderswo kommt es nun zu harten Verhandlungen und Konfrontationen zwischen den vielen Gruppen, die an der Revolution beteiligt waren. Und die vielen jungen Männer und Frauen wachen noch immer über die öffentlichen Bereiche in diesen Ländern, indem sie zahlreich auf den Straßen präsent sind. Sie zeigen, dass ihnen durchaus bewusst ist, dass die Achtung vor dem Leid, dass die Muslimbrüder in der Vergangenheit durchlebten, und vor dem geleisteten Widerstand von Angehörigen dieser Organisation ihre Revolution bedroht.
Welche institutionellen Alternativen gibt es also? Malaysia, die Türkei, Iran? Niemand scheint ein Interesse daran zu haben, dem iranischen Vorbild nachzueifern, und angesichts der Unterschiede zwischen der theologisch-politischen Rolle der schiitischen und sunnitischen Geistlichen in der Politik ist es tatsächlich nicht sehr wahrscheinlich, dass Länder wie Tunesien und Ägypten dem iranischen Modell folgen werden. Doch sowohl Malaysia mit seiner autoritäreren und verschlossenen islamischen Gesellschaft, welche die Frauen und den öffentlichen Raum kontrolliert, als auch die Türkei mit ihrer muslimischen Mehrheit, einer pluralistischen Gesellschaft und einer lebendigen Mehrparteiendemokratie, aber auch mit ihrem Erbe staatlichen Autoritarismus‘, sind echte Vorbilder für diese Gesellschaften. Die historischen Bande zwischen Ländern wie Tunesien und Ägypten (oder auch Libyen), die einst Teil des Osmanischen Reiches waren und in denen Eliten und Städte bisweilen noch türkische Namen tragen, sind eng. Und der Vorbildcharakter der Türkei wurde von der ägyptischen Jugend häufig erwähnt. Um ihren zunehmenden Einfluss zu wahren, hat die Türkei in den letzten Jahren zu Menschenrechtsverletzungen in diesen Ländern geschwiegen. Nun aber versprach der unermüdliche Außenminister Ahmet Davutoglu bei seinem jüngsten Besuch in der Region institutionelle und intellektuelle Unterstützung beim Übergang zur Demokratie.
Islam und Demokratie
Eine weitere Unbekannte in diesem Prozess ist, vor allem in Ägypten, das Militär. Wird es bei der gegenwärtigen Ausarbeitung einer neuen Verfassung Zurückhaltung üben und die Situation nicht missbrauchen? Wird es zu gegebener Zeit den zivilen politischen Parteien die Zügel des Landes friedlich übergeben? Die Antwort auf diese Fragen hängt zu einem großen Teil von der Wachsamkeit und dem politischen Geschick derjenigen ab, die die Revolution begonnen haben.
Es stehen also mehrere historische und institutionelle Modelle zur Auswahl, wenn es darum geht, Islam und Demokratie in Einklang zu bringen. Wir sollten den Meinungsstreit, der nun in diesen Ländern ausbrechen wird – wahrscheinlich mit Ausnahme Libyens, das für eine ganze Weile in Gewalt versinken dürfte –, als einen Aspekt pluralistischer Demokratisierung feiern, anstatt davor zurückzuschrecken. Weder für die Verknüpfung von Religion und Demokratie noch für die Definition der Rolle des Glaubens im öffentlichen Raum gibt es nur ein einziges Modell. Man muss nur die Überreste der politischen Theologie in der öffentlichen Kultur der Vereinigten Staaten mit der institutionalisierten Unterstützung von Religion durch die Kirchensteuer in Deutschland vergleichen. Ganz zu schweigen von den andauernden Bemühungen Israels, ein laizistisches Recht – im Gegensatz zum bestehenden rabbinischen Recht – zu schaffen durch eine Definition der Bürgerrechte der Ehe, der Scheidung und des Unterhalts. Es ist durchaus möglich, dass diese jungen Revolutionäre, die die Welt mit ihrem Ideenreichtum, ihrer Disziplin, ihrer Hartnäckigkeit und ihrem Mut in Erstaunen versetzt haben, uns auch ein paar Lektionen über Religion und den öffentlichen Raum, Demokratie und Glauben sowie die Rolle des Militärs erteilen werden.
Trotz seines Pessimismus im Hinblick auf den Verlauf der Französischen Revolution unterließ Hegel es übrigens nie, an jedem 14. Juli, dem Tag des Sturms auf die Bastille, sein Glas zu erheben, um die Revolutionäre zu feiern. Ich habe vor, seinem Beispiel zu folgen und mein Glas an jedem 11. Februar auf die jungen Revolutionäre zu erheben. Mabruk – Glückwunsch!
Der Originalbeitrag erschien in englischer Sprache erstmalig hier.