Wider den Strukturdeterminismus in der Russland-Ukraine-Debatte
Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts wurde die Nato, maßgeblich auf Betreiben der USA, nach Osten erweitert. Der Westen missachtete Russlands genuine Interessen in den internationalen Beziehungen und zollte Moskau keinen Respekt. Einen vorläufigen Höhepunkt dieser gefährlichen Politik stellte der Versuch dar, die Nato mit der Ukraine und Georgien bis zum Südkaukasus hin auszuweiten. Als logische Folge hat Russland auf diese geopolitische Einkreisung nun mit militärischer Gewalt reagiert und ist mit der Eingliederung der Krim der westlichen Machtausdehnung entgegengetreten. Auch wenn Putin den Bogen hier und da überspannt: Generell sollten wir uns nicht darüber wundern, dass Moskau seit einigen Jahren versucht, die regionale Ordnung in seiner angestammten Einflusssphäre wieder herzustellen.
So lautet die Argumentationskette vieler politischer Kommentare und populärwissenschaftlicher Abhandlungen über die russische Kriegspolitik im Ukrainekonflikt und in anderen osteuropäischen Krisen.[1] Sie fußen – zuweilen mit politökonomischer Grundierung – auf Prämissen des Neorealismus. Diesem zufolge wird außenpolitisches Verhalten durch die relative Machtposition eines Staates im internationalen System bestimmt. Daraus ergeben sich Anreize und Zwänge, auf welche Staaten strategisch rational reagieren (müssen).