Ausgabe April 2019

Attac ohne Gemeinnützigkeit: Ein Angriff auf die Zivilgesellschaft

Seit Jahren werden deutsche Politiker und Kommentatoren nicht müde, den shrinking civic space, den sich verengenden Handlungsraum für bürgerschaftliches Engagement in Ägypten, China, Russland, der Türkei oder Ungarn zu beklagen. Zugleich betonen sie, in Deutschland sei alles ganz anders. Spätestens seit dem 26. Februar gilt dies nicht mehr uneingeschränkt. 

Der Bundesfinanzhof hat sich gegen die Gemeinnützigkeit der deutschen Sektion von Attac ausgesprochen und den Fall an das Finanzgericht Hessen zurückverwiesen. Damit sind den Finanzbehörden ebenso wie Bundes- und Landespolitikern Tür und Tor geöffnet, um politische Aktivitäten von unbequemen zivilgesellschaftlichen Organisationen auf diese Weise abzuwürgen oder jedenfalls zu behindern. Wie sollen, so fragen sich die Fachleute, Finanzbeamte sachgerecht beurteilen können, ob der Zusammenhang zwischen der sonstigen und der politischen Tätigkeit einer Organisation eng genug und untergeordnet genug ist, um im Sinne des Bundesfinanzhofs die Zuerkennung bzw. Bestätigung der Gemeinnützigkeit zu rechtfertigen?

Hier zeigt sich das ganze Elend: Bis heute entscheiden Sachbearbeiter im Finanzamt darüber, ob und wie die Arbeit einer zivilgesellschaftlichen Organisation unserem Gemeinwesen dient. Sie bedienen sich dazu eines alten, in seinen Grundzügen noch aus der NS-Zeit stammenden Regelwerks, das zwar in den letzten Jahren oft verändert worden ist, aber immer im Sinne einer Klientelpolitik und nicht einer Reform, die den Veränderungen in unserer Gesellschaft Rechnung trägt. Es dient, so muss man feststellen, dem Anliegen eines strukturkonservativen Systems, eben diesen fundamentalen gesellschaftlichen Veränderungen entgegen zu wirken.

Der Rechtsrahmen unserer Zivilgesellschaft ist eine unsystematische Ansammlung von antiquierten Begriffen und trägt den Erfordernissen einer modernen und offenen Gesellschaft nicht Rechnung. Er fragt allenfalls, welches Engagement dem Fiskus nützt, aber nicht, welche Zivilgesellschaft wir im 21. Jahrhundert brauchen: eine deliberative Demokratie von politisch engagierten Bürgerinnen und Bürgern, die ihre Positionen in der öffentlichen Arena zur Diskussion stellen und dadurch unsere Gesellschaft voranbringen. Entscheidend ist nicht, ob jedem gefällt, was einzelne Organisationen einbringen, sondern dass sie an der res publicamitwirken. Politisches Engagement wie im Falle von Attac darf kein Grund sein, Gemeinnützigkeit zu bestreiten. 

Ein Exempel an Attac

An einem unbequemen, weil immer wieder den Staat herausfordernden Verein wie Attac glaubt man, ein Exempel statuieren zu können. Das soll den politischen Wandel bremsen und gleichzeitig die Privilegien der von Ideenarmut, Führungsschwäche, Vertrauensverlust und Mitgliederschwund gebeutelten politischen Parteien bewahren. Um die angeblichen schlimmen Folgen einer Steuerbefreiung für politisch aktive zivilgesellschaftliche Organisationen aufzuzeigen, wird sogar das (verblassende) Schreckgespenst Pegida ins Feld geführt. Dabei, so die bittere Ironie der Geschichte, waren es doch gerade die Parteien, die durch jahrzehntelange Gedankenlosigkeit und gemeinsame Mauschelei erst die Situation geschaffen haben, in der eine erstarkte AfD voraussichtlich ihren Anteil an der staatlichen Finanzierung der Parteistiftungen beim Bundesverfassungsgericht einklagen kann. Damit käme sie an Summen, die um ein Vielfaches jene Beträge übersteigen, die Attac und vergleichbare zivilgesellschaftliche Organisationen, wenn sie denn steuerpflichtig werden, in die Staatskasse einzahlen müssen. 

Nur vordergründig eine Steuerfrage 

In diesem Sinne geht es im Fall von Attac vordergründig um Steuern, weil sich der steuerliche Status über Jahrzehnte zum primären Definitionsmerkmal einer zivilgesellschaftlichen Organisation entwickelt hat. Das zeigt sich exemplarisch an der langwierigen Auseinandersetzung um die deutschen Globalisierungskritiker: Bereits vor fünf Jahren entzog das Finanzamt Frankfurt a. M. Attac die Gemeinnützigkeit. Es berief sich dabei auf eine Verwaltungsanordnung – also eine ohne Mitwirkung des Parlaments erlassene rechtliche Regelung –, wonach als steuerbegünstigt anerkannte Organisationen nur „nebenbei“ politisch tätig werden dürfen. Attac hingegen, so die Begründung, sei fast ausschließlich politisch tätig. Dies jedoch sei den Parteien vorbehalten. 

Diese Argumentation ist pikant, war die Regelung doch nach diversen Spendenskandalen erlassen worden, um es den politischen Parteien schwerer zu machen, über Unterstützungsvereine ihre Mittel aufzustocken und so die Höchstgrenzen der zulässigen Parteienfinanzierung zu umgehen. Bis zum Fall Attac war diese Regelung allerdings kaum noch jemandem gewärtig.

Dass sich in den vergangenen Jahrzehnten ein grundlegender gesellschaftlicher Wandel vollzogen hat, wird in dieser Argumentation völlig unbeachtet gelassen. Die im Grundgesetz angelegte Rolle der politischen Parteien, an der „Willensbildung des Volkes“ mitzuwirken, die diese über Jahrzehnte zu einem Oligopol ausgebaut hatten, entspricht den Anforderungen einer modernen Demokratie nicht mehr und bröckelt zunehmend. Viele Beispiele, am spektakulärsten gewiss die Bürgerrechtsbewegung in der DDR, belegen, dass die Zivilgesellschaft – und nicht die Parteien – Motor des gesellschaftlichen Wandels ist. 

Die Zivilgesellschaft ist heute eine Arena kollektiven Handelns in der und für die Gesellschaft geworden – neben den Arenen von Markt und Staat. Sie umfasst heterogene bürgerschaftliche Bewegungen, Organisationen und Institutionen. Spätestens seit Beginn des 21. Jahrhunderts, als auch Attac entstand, beansprucht sie ein ständiges politisches Mandat, das sie durch Initiativen, Denkprozesse und Stellungnahmen zu politischen Themen ebenso wahrnimmt wie durch Demonstrationen und Kampagnen. Bei einem gemeinnützigen Wohlfahrtsverband geschieht dies offenkundig nebenbei, während viele lokale Bürgerbewegungen gar nicht so verfasst sind, dass sie Spendenquittungen ausstellen oder auch nur die Gemeinnützigkeit beantragen könnten. Diese oft zitierten Beispiele vernebeln jedoch den Blick dafür, dass hier eine grundsätzliche Frage aufgeworfen wird, der sich Regierungen und Parlamente schon längst hätten widmen müssen: Wer sind heute die Akteure der politischen Meinungsbildung? Mit diesem Thema haben sich die traditionellen politischen Eliten nur ein einziges Mal beschäftigt, als der Bundestag eine Enquete-Kommission einsetzte, die sich mit der Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements beschäftigte und im Juni 2002 ihren Abschlussbericht vorlegte. Dieser Bericht wies ausdrücklich auf diese Veränderungen hin – blieb aber folgenlos. Die grundlegenden Unklarheiten bleiben bestehen. 

Wohlgelittene große Stiftungen und Verbände können vermutlich nach wie vor unbehelligt ihre Arbeit tun, Anstöße für politisches Handeln geben und manch zukunftsweisende Lösung vorlegen. Vielleicht wird sie niemand fragen, ob dies nur nebenbei geschieht und zu ihrem Satzungszweck gehört. So genau weiß das allerdings jetzt niemand. 

Grundsätzliche Gedanken darüber, dass die Zukunft unserer Demokratie wesentlich von der Wächter-, Themenanwalts- und Mitgestaltungsarbeit der zivilgesellschaftlichen Kollektive abhängt, und welche Konsequenzen der Gesetzgeber vielleicht daraus ziehen sollte, macht sich weiterhin kaum jemand in den Parlamenten, Regierungen und Parteien, solange die letzteren nur ihr Oligopol behalten. Warnrufe und Appelle verhallen ungehört. Weiterhin gilt, leider auch in den Medien: Zivilgesellschaft ist gut, wenn sie durch billige Dienstleistungen dem Staat zu Diensten ist. Sie ist schlecht, wenn sie diesen Staat politisch herausfordert – es sei denn, dies geschieht in fernen Ländern. 

Was ist zu tun?

Der Zorn der politisch engagierten Zivilgesellschaft richtet sich nun gegen den Bundesfinanzhof – vielleicht nicht ganz zu Recht. Denn dieser musste seiner Entscheidung geltendes Recht zugrunde legen.

Jetzt müsste vielmehr eine Diskussion darüber einsetzen, wie die Rahmenbedingungen der Zivilgesellschaft so verändert werden können, dass ihr Handlungsraum eben nicht schrumpft, dass sie nicht bedrängt wird, dass sie ein politisches Mandat wahrnehmen kann und dass die für sie geltenden Regeln nicht von Parteien missbraucht werden können. Denn in der Tat besteht nach wie vor die Gefahr, dass politische Parteien nach Schlupflöchern suchen, um auf Umwegen zu mehr Geld zu kommen. Schließlich können Zuwendungen an sie nur in geringerem Umfang als Spenden, die eine steuersenkende Wirkung beim Geber entfalten, geleistet werden. 

Lösungen zu erarbeiten, erscheint durchaus möglich. Seit vielen Jahren liegen hierzu Überlegungen, Diskussionsbeiträge und Vorschläge auf dem Tisch, von Juristen ebenso wie von Politikwissenschaftlern. Auch viele Verbände haben dazu eine Meinung, und gute Beispiele aus anderen Ländern gibt es zuhauf. Dazu wäre es allerdings notwendig, mit dem jahrzehntealten Grundsatz zu brechen, wonach die Finanzverwaltung das Heft in der Hand hat, wenn es darum geht zu definieren, was dem Gemeinwohl dient und was nicht. Die Bundeskanzler wie die Bundeskanzlerin haben trotz ihrer verfassungsmäßigen Richtlinienkompetenz – die doch gerade geeignet wäre, gesamtgesellschaftliche Entwicklungen politisch umzusetzen – bisher immer an dieser Schranke haltgemacht. Das geschah wohl auch deswegen, weil eine starke politische Zivilgesellschaft auch sie aus dem Schlaf aufschrecken kann. 

Die Finanzverwaltung hat sich bisher mit großem Erfolg gegen eine grundsätzliche Revision des Gemeinnützigkeitsrechts wehren können. Und obwohl seit 1998 jede Koalitionsvereinbarung unabhängig von der jeweiligen Zusammensetzung der Bundesregierung eine entsprechende Absichtserklärung enthält, hat auch kein Bundestag etwas Wesentliches in diese Richtung unternommen. Dass er es jetzt tun wird, ist extrem unwahrscheinlich; noch unwahrscheinlicher wäre, wenn die Diskussion gerade heute in die richtige Richtung ginge. Erst vor kurzem hat der zuständige Finanzausschuss eine Anhörung zu zwei alles andere als wegweisenden Gesetzentwürfen von Oppositionsparteien durchgeführt, die ohnehin nach Lage der Dinge keine Realisierungschance haben. Für die stärkste Fraktion gilt ein Parteitagsbeschluss, der – einem Vorstoß ihres von der Automobilindustrie dominierten Landesverbands folgend – die Tätigkeiten der Deutschen Umwelthilfe eindämmen und dazu den Handlungsspielraum der Zivilgesellschaft einschränken soll. 

Die Verteidigung der offenen Gesellschaft

Es ist kaum zu glauben: Im Jahr 2019 äußert sich Deutschlands neue Verantwortung in der Welt, Deutschlands Führungsrolle in Europa, Deutschlands Beitrag zur Verteidigung der offenen Gesellschaft, der Demokratie, der Herrschaft des Rechts sowie der Menschen- und Bürgerrechte darin, dass die deliberative Demokratie bedrängt und beschränkt wird – und Deutschland so zu der Gruppe von Staaten aufschließt, die so gern an den Pranger gestellt werden. Über die Herren Erdoğan und Orbán die Nase zu rümpfen, ist jedenfalls doppelzüngig, wenn auch in Deutschland – wenngleich gewiss subtiler – Politik, Verwaltung und Rechtsfindung den Handlungsraum für bürgerschaftliches Engagement vorsätzlich verengen. 

Ein Trost bleibt: Offenkundig ist die Zivilgesellschaft so stark, dass manche Systembewahrer Angst vor ihr bekommen haben und ihren Handlungsraum beschränken wollen. Dies wird, wie alle Erfahrungen zeigen, nicht gelingen. Sie sollte sich also nicht entmutigen lassen – mit und ohne Segen vom Finanzamt.

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