Ausgabe Januar 2020

Im Zeitalter der Verwüstung

Vom notwendigen Ende einer Epoche

Im Zeitalter der Verwüstung

Bild: imago images / Future Image

2019 war das Jahr, in dem kein Tag verging, ohne neue Klimakatastrophenmeldungen: Brandherde in Bolivien, so groß wie zwei Bundesländer, gestorbene Gletscher auf Island, Dürre im Sudan, tausende Hitzetote in Europa, 700 Millionen Euro Ernteschäden in Deutschland, Venedig unter Wasser wie lange nicht, und immer dramatischere Zahlen. Der Weltklimarat meldete: Selbst wenn alle Staaten ihre Verpflichtungen aus dem Pariser Klimaabkommen einhalten, wird die Erde am Ende des Jahrhunderts mehr als drei Grad wärmer sein; somit wächst die Gefahr, dass Kipppunkte erreicht werden, nach denen das Abschmelzen der Westantarktis nicht mehr zu stoppen sein wird. Damit beträten wir dann das Reich des Unvorhersagbaren. Die Vereinten Nationen reden bereits von 200 Millionen Klimaflüchtlingen schon in dreißig Jahren. Ende November rief das europäische Parlament schließlich den Klimanotstand aus. 2019 ist damit auch das Jahr, nach dem niemand, der Zeitung liest, Radio hört oder YouTube schaut, noch sagen kann, er habe es nicht gewusst.

Dies war auch das Jahr, in dem Greta Thunberg am Bug eines Schiffs mit schwarzen Segeln und Wimpeln mit den deutschen und schwedischen Farben sowie den Sternen der EU, den Blick nach vorn gerichtet, in den Hafen von New York einfuhr, vorbei an der Freiheitsstatue. Das Bild ging um die Welt: ein hoch pathetisches Bild, egal ob inszeniert oder nicht, eine Ikone, von weitem grüßt Delacroix‘ Freiheitsgöttin. „Emotions For Future“, lautet das Motto, und ich bin sicher: Wir werden noch viel mehr Pathos und viel mehr Inszenierung erleben – und auch brauchen. Denn wir haben den Klimawandel nicht vor uns, wir sind mittendrin.

„Wie könnt Ihr es wagen! [...] Wir stehen am Anfang eines Massensterbens, und alles, worüber Ihr reden könnt, sind Geld und Märchen über ewiges Wirtschaftswachstum“, klagte Greta Thunberg die versammelten Machthaber vor den Vereinten Nationen an. „Wie könnt Ihr es wagen! [...] Seit mehr als dreißig Jahren ist die Wissenschaft sich einig. [...] Wir werden Euch das nie verzeihen.“ Ja, der Auftritt in New York polarisierte. Auch einige meiner Freunde fanden es peinlich, inszeniert, übertrieben. Doch es gibt viele Arten der Verleugnung. Es gibt die einfache Ignoranz, mit der die AfD wirbt. Es gibt die verlogene Ignoranz, mit der Donald Trump dröhnt, er halte den Klimawandel für eine Erfindung, und zwar der Chinesen. Es gibt die Feuilletonvarianten, die Akteure des Protests mit ästhetischen Mitteln zu kritisieren. Und es gibt die wohl infamste Art der Verleugnung, die Pathologisierung: Unzählige psychiatrische Laien diagnostizierten Greta Thunberg und ein Friedrich Merz befand schlicht: „Das Mädchen ist krank.“

Um die gut informierten Forderungen der Schüler wegzuerklären, bemühten andere sogar die Kinderkreuzzüge des Mittelalters. Und der Philosoph Wolfram Eilenberger setzte noch eins drauf: Die massenhafte Mobilisierung für eine Konsumwende sei bedrohlicher als die „völkischen Untergangsszenarien“ vom rechten Rand, und er sehe schon einen ökofaschistischen Kontrollstaat am Horizont, der eines Tages Fleischfresser oder SUV-Fahrer „im Namen des Lebens [...] ausmerzen“ könnte. Was aber treibt selbst Intellektuelle zu derart schrillen, wütenden Befürchtungen angesichts ernsthafter, unironischer, gut informierter Schüler? Ist es die unangenehme Wahrheit, dass größere Veränderungen anstehen als der bloße Wechsel der Treibstoffart? Dass schon bald auf mehr verzichtet werden muss als nur auf SUVs und viel zu große Wohnungen und viel zu billige Nackensteaks? Dass weit mehr zu Ende geht als nur das Kohlezeitalter? Dass es nicht nur um Grenzwerte geht, sondern um die Verteidigung ganz anderer Grenzen?

Erst Mitte des Jahres wurden die schrillen Stimmen leiser, als die Bewegung wuchs und wuchs, als den Fridays for Future sich die Scientists for Future, die Parents for Future, die Lehrer for Future, die Omas for Future, ja auch die Economists und Unternehmer und Ingenieure for Future anschlossen. Doch am selben Tag, dem 20. September, an dem in ganz Deutschland 1,4 Millionen Menschen für grundlegende Reformen protestierten, schacherte das Kabinett in einer pizzaunterstützten Nachtsitzung von insgesamt 19 Stunden um Centbeträge. Und es verabschiedete – mit der üblichen „Es war hart, aber der Durchbruch ist gelungen“-Rhetorik, ganz so, als handele es sich um eine Lohnrunde im Öffentlichen Dienst – am Ende ein Klimapäckchen, dessen Forderungen sogar vom Institut der deutschen Wirtschaft und vom Münchner ifo-Institut als deutlich zu lasch bezeichnet wurden. Und selbst das, so gestand es ein Ministerialbeamter, wäre nicht möglich gewesen ohne diese autistische Schülerin aus Stockholm und die von ihr ausgelösten Freitags-Demonstrationen.

„Follow the Science“: Die zentrale Forderung von Fridays for Future trifft ins Herz des neuzeitlichen Glaubens, der Wissenschaft. Follow the Science: Mit der Physik kann man nicht diskutieren, das stimmt. Aber über die Konsequenzen der physikalischen Wahrheiten muss man dennoch streiten. Da geht es nicht um Fakten, sondern um unser Verhältnis zur Welt. Um Alternativen. Um Aufbruch oder Beharren. Um Bewahren oder Zerstören.

2019 hätte daher ein großes Jahr für das Parlament werden können, ja müssen. Im Juni wurde den Politikern das Sondergutachten des Sachverständigenrates für Umweltfragen zur „Demokratischen Legitimation von Umweltpolitik“ vorgelegt, im Juli das Sondergutachten des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, der sogenannten Wirtschaftsweisen: „Aufbruch zu einer neuen Klimapolitik“. Unterschiedlicher könnten Weltsichten nicht sein als in diesen beiden Ausarbeitungen. Die einzige Wunder- und Universalwaffe – und die einzige Empfehlung der Wirtschaftsweisen – ist eine Erhöhung der Prämie, die Wirtschaft und Private für die Verschmutzung der Atmosphäre zahlen sollen: der CO2-Preis. Es ist das Dokument einer ökonomischen Wissenschaft, in deren Modellen Rohstoffe, Arbeit, Stoffströme – kurzum, die reale materielle Welt mit ihrer Physik und Chemie – nur als Geldgrößen vorkommen, und Unternehmen und Menschen nur als Nutzenmaximierer, denen man nicht einmal zutrauen kann, dass sie um des Planeten, um der Zukunft ihrer Kinder willen ihr Verhalten ändern. In diesem Gutachten tauchen konsequenterweise – so ergibt es eine unvollständige Stichprobe – Begriffe wie die folgenden gar nicht erst auf: Biodiversität, Lebensstil, Verhaltensänderung, Naturschutz, Biosphäre, Gerechtigkeit, Artenvielfalt oder Lebensqualität. Dafür scheint durchgehend die eine, alles andere dominierende große Sorge durch: Was wird aus unserem Wachstum, wenn wir das Klima schützen müssen?

Eine erdgeschichtliche Epoche geht zu Ende

Das Gutachten des Umweltrates der Bundesregierung enthält dagegen mehr Welt. Und es markiert den Scheideweg, an dem wir stehen. Es ruht auf dem Wort Anthropozän – die Epoche, in der die Menschen selbst zur Naturgewalt geworden sind. Gewiss, ein sperriger Begriff, aber einer, der immer mehr in unsere Sprache eingewandert ist. Denn er markiert die Größe des epochalen Umbruchs, in dem wir uns heute befinden. Zwar wird die Erde, so oder so, nicht untergehen, aber wir hätten, so das Gutachten, die Wahl zwischen einem „Verwüstungsanthropozän“ oder einem „holozänartigen Anthropozän“. Verwüstung der Erde oder eine Erde, die noch entfernte Ähnlichkeit hat mit der Welt, in der wir heute leben, sowohl physisch als auch politisch – das sind die zwei möglichen Ufer, zwischen denen im Augenblick noch der Ölstrom unserer Epoche fließt. Wo wir anlanden, das wird davon abhängen, ob wir die planetaren Belastungsgrenzen für CO2- und Stickstoffbelastung, Süßwasserverbrauch, Ozeanversäuerung, Landnutzung überschreiten, jenseits derer die Reparatursysteme unberechenbar werden.

Ein „holozänartiges Anthropozän“ zu bewahren, also annähernd die Welt, die wir kennen, bedürfte bereits eines hohen Grades aktiver menschlicher Einwirkung, Planung, Gestaltung. Und einer radikalen Änderung unserer Lebensweisen. Kein Zweifel: Die Sache, um die es heute geht, ist groß. Vieles ist schon dahin. Und was noch da ist, bleibt gefährdet.

„Unsere Generation und die unserer Kinder und Enkel werden zu tätigen Zeugen einer gewaltigen Umwälzung des Lebens auf unserer Erde. Vor unseren Augen, unter unseren Händen geht eine erdgeschichtliche Epoche zu Ende, die viele Jahrmillionen Bestand hatte. Nur blinder Stumpfsinn könnte sich dieser Tragik verschließen. Ein Natur- oder Umweltschutz, der die Illusion aufrechterhalten würde, dieses Rad könnte aufgehalten oder zurückgedreht werden, verschlösse die Augen vor den bereits bestehenden Tatsachen und ihren zwingenden Folgen. Was bevorsteht, ist ebenso klar erkennbar wie bitter.“ So schrieb es vor 33 Jahren der Zoologe Hubert Markl, der damals Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft war.

Eine erdgeschichtliche Epoche: Markl sprach sogar von einem biologischen „Holocaust“, nämlich vom Ende des Neozoikums – der Erdperiode, die vor 60 Millionen Jahren begann und in der die Fauna und Flora entstanden, mit der wir jetzt noch leben. Er kritisierte unsere „parasitäre Lebensweise“, und appellierte an unsere Verantwortung: „Natur“ sei nun zur „Kulturaufgabe“ geworden, und zwar zur globalen, und zwar endgültig.

Das Wort „Anthropozän“ war noch nicht im Umlauf, als Markl sein Epitaph auf das Holozän schrieb, aber auch 1986 war die Botschaft nicht mehr neu. Schon 1962 hatte Rachel Carsons Bestseller „Silent Spring“ das Artensterben zum politischen Thema gemacht, seit 1965 teilten Wissenschaftler der Politik immer wieder mit, dass das Wirtschaftswachstum die Erdtemperatur rasant steigen lässt. 1973 hatte der Club of Rome sein Gutachten über die Grenzen des Wachstums veröffentlicht, 1972 Willy Brandt vor Nobelpreisträgern eine Rede gehalten, in der er die epochale Aufgabe formulierte, „den Zusammenbruch unseres Ökosystems zu verhindern“. Das ist bald fünfzig Jahre her. Seither haben sich die CO2-Emissionen der menschlichen Gattung noch einmal vervierfacht. Bibliotheken sind gefüllt worden mit erklärenden und aufrüttelnden Büchern, theologischen Predigten, soziologischen Kritiken, ökonomischen Analysen. Und hunderte von Millionen von Seiten bei Google.

Wie aber sieht der Epochenbruch konkret aus, in dem wir uns inzwischen befinden? Vielleicht muss man bis zum letzten großen Klimaereignis der Erdgeschichte zurückgehen, um zu erklären, was uns da widerfährt, warum es nicht reicht, den CO2-Ausstoß kostenpflichtig zu machen. Und um zu begreifen, was uns hindert, dem zu folgen, was wir wissen.

Die Erd-Saison, die jetzt zu Ende geht, begann in der neolithischen Revolution, der „größten Verhaltensänderung [...], die je eine Tierart auf diesem Planeten vollzogen hat“, dem Übergang des homo sapiens von einer nomadischen zur sesshaften Lebensweise, vom Jagen und Sammeln zu Ackerbau und Viehzucht. Auch dieser Übergang war die Folge eines außerordentlichen Klimawandels, einer Erderwärmung, die etwa vor 12 000 Jahren begann, in deren Folge die Meeresspiegel in zwei Jahrtausenden um mehr als 30 Meter stiegen – England wurde erst damals zur Insel – und in deren Folge in mehreren fruchtbaren Zonen der Ackerbau entstand.

Das Leben wurde sicherer, aber auch anstrengender – das ist etwa die Grundlage für den Mythos von der Vertreibung aus dem Paradies. Ackerbau und Viehzucht erforderten regelmäßige, systematische Bearbeitung der Natur, Kalendersysteme, Bewässerungstechniken. Das Menschheitswissen und die Herrschaft über die Natur wuchsen; es entstanden Siedlungen und Städte und damit militärisch gestützte Herrschaftssysteme, Baukunst, Priesterkasten, das Geldsystem; die Arbeitsteilung wuchs, und damit auch die soziale Schichtung und Ungleichheit. Die Menschheit nahm zu, in neun Jahrtausenden von 4 auf 50 Millionen. Und hunderttausendfach, an tausenden von Orten, in tausenden von Jahren, geschah, was Jean-Jacques Rousseau in seinem Diskurs über die Ungleichheit ebenso poetisch wie politökonomisch als den Sündenfall der Menschheit beschrieb: „Der erste, der ein Stück Land mit einem Zaun umgab und auf den Gedanken kam zu sagen ‚Dies gehört mir‘ und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der eigentliche Begründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wie viel Elend und Schrecken wäre dem Menschengeschlecht erspart geblieben, wenn jemand die Pfähle ausgerissen und seinen Mitmenschen zugerufen hätte: ‚Hütet euch, dem Betrüger Glauben zu schenken; ihr seid verloren, wenn ihr vergesst, dass zwar die Früchte allen, die Erde aber niemandem gehört.‘“

Der Sündenfall der Menschheit und der Beginn unserer Zivilisation

Vor 10 000 Jahren begann die Geschichte, die uns überliefert ist, es war ein langer Prozess, und an seinem Ende wurde der Grund gelegt für die Zivilisation, in der wir heute noch leben. Eine neue Produktionsweise war entstanden und mit ihr neue Eigentums- und Herrschaftsformen, und darüber eine neue Gedankenwelt, die ihre Härten legitimiert – und korrigiert.

Achsenzeit, so nannte der Philosoph Karl Jaspers das Jahrtausend vor der Zeitenwende, in dem in Asien der Buddhismus, in China der Konfuzianismus und im Mittelmeerraum die aristokratische Demokratie, die griechische Naturphilosophie, und in Israel der Monotheismus entstanden: eine Erlösungsreligion, die keine Naturgötter und keine Gottkönige mehr kannte, sondern deren anonyme Stifter einen Weltenlenker und Gesetzgeber ersannen, der transzendent, gestaltlos und unerforschlich war. Weswegen auch die Herrschenden und die Reichen den Gesetzen unterworfen waren, wenigstens im Prinzip.

Das Recht wurde heilig – und das schuf die ideelle Grundlage, zwar (noch) nicht für Demokratie, wohl aber für den Beginn einer Milderung der Gewalt durch Gesetze. Gesetze, die auch über den Mächtigen standen, weswegen Raum für Propheten frei wurde: Intellektuelle, Provokateure, deren Beruf es wurde, die Lücke zwischen Macht und Moral zu skandalisieren. Einzuklagen, was in der Thora zum Thema Eigentum gesagt war: dass die Kluft zwischen Arm und Reich schändlich sei, dass alle sieben Jahre die Schulden erlassen gehören und alle fünfzig Jahre neu verteilt werden soll, was im Prinzip allen gehört. Jesus Christus verschärfte diesen Prozess der Zivilisation: Die Zumutung des Gesetzes wanderte in die Herzen und ins Gewissen ein. Nicht das bloß äußerliche Befolgen der Regeln, sondern die Verinnerlichung ihres Prinzips sollte den Frieden bringen.

Diese Mittelmeer-Kombination von griechischer Naturphilosophie und Unterschichtsreligion verband sich nach der Zähmung des Urchristentums durch eine Priesterhierarchie mit dem Römischen Rechts- und Militärwesen – und aus dieser Verbindung entstand die nunmehr 2000 Jahre währende judäochristliche Zivilisation. Ihre Basis in sieben knappen Worten: Kirche, Feudalismus, Nationalstaaten, Kapitalismus, aber auch Wissenschaft, Aufklärung, Demokratie.

Die Neuzeit und die profitgetriebene Ausweitung der Kapitalzone

Beginnend mit der Neuzeit kolonisierte und missionierte diese Zivilisation die Welt, formte Lebensweisen, Landschaften und Machtverhältnisse. Und heute hat die profitgetriebene Ausweitung der Kapitalzone die Lebenserwartung und den Güterwohlstand auch im globalen Süden erheblich gesteigert. Das aber unterminiert zunehmend die politische Gestaltungsmacht der Nationalstaaten. In den Ursprungsländern des Kapitalismus wurde der europäische Sozialstaat erkämpft; eine Errungenschaft, in den Worten von Pierre Bourdieu, so unwahrscheinlich wie Kant, Beethoven oder Mozart. Doch nicht von Dauer. Denn nun hat der Extraktionskapitalismus die Grenzen seiner Ausdehnung erreicht. Die Verallgemeinerung unseres Konsumniveaus für eine Weltbevölkerung von 10 Milliarden überschreitet radikal die Tragfähigkeit der Erde – und das wird von Jahr zu Jahr spürbarer und messbarer werden.

„Wir sind der Klimawandel“, schreibt der Romancier Jonathan Safran Foer. Das aber heißt: Es geht heute nicht darum, Diesel durch Wind zu ersetzen, und dann ist alles gut. Es geht nicht nur um den Kohlenstoff in der Luft, sondern um die Endlichkeit der Rohstoffe, die Qualität der Böden, die Organisation der Wirtschaft, die Verteilung der Menschen auf dem Globus. Klima ist kein Problem unter anderen, sondern das spürbarste Symptom eines „totalen sozialen Phänomens“. Und dieses Phänomen heißt Wachstum.

Wie wir im Westen leben, sind wir der Klimawandel, aber die globalisierte Menschheit ist kein WIR. Die Lasten und die Wohltaten sind ungleich verteilt, national wie global, und die Erderwärmung wird diese Ungleichheit noch steigern. Der doppelte Wachstumszwang – der Konsumenten und der profitabhängigen Kapitale – verschärft die Auseinandersetzungen um die Rohstoffreserven der Erde und der Ozeane: an Öl, an Kupfer, an Mangan, an seltenen Erden, an Lithium, an Phosphor, ja an Sand. Die „große Regression“ hat begonnen. Die Furcht vor Kriegen, um Wasser oder Coltan, ist längst nicht mehr hysterisch. Und auch nicht die vor Bürgerkriegen um Teilhabe: Ein Jahrhundert lang wurde die Gerechtigkeitsfrage in den kapitalistischen Industriegesellschaften durch Wachstum neutralisiert; in einer demokratischen „Postwachstumsgesellschaft“ käme sie in neuer Schärfe auf die Tagesordnung. Erst recht stößt die Idee einer Wachstumsbeschränkung außerhalb der OECD-Welt an politische Grenzen: Die Regierungen des globalen Südens würden hinweggefegt werden, wenn sie ihren Bürgern die nachholende Modernisierung – sprich: ein Leben wie im Norden – verweigern. Außerdem gibt es keinen moralisch legitimierbaren Einwand gegen dieses Begehren der Massen, solange die Regeln des kapitalistischen Weltmarkts und die globalisierten Konsummuster des Nordens gelten.

An all dem wird klar, dass Demonstranten und Politiker zu kurz springen, wenn sie den Kampf gegen den Klimawandel zum alles überwölbenden globalen Großthema erklären. Nicht der Klimawandel ist das zentrale Problem, er ist bloß das vielleicht massivste Symptom des Grundproblems: Wachstum.

Follow the Science – das ist gut gesagt. Doch selbst wenn der Gedanke, dass unendliches Wachstum auf einem endlichen Planeten nicht möglich ist, kaum widerlegbar ist: Die Frage, wie eine Wirtschaft, deren Funktionieren auf Wachstum beruht, in einen stationären Zustand gebracht werden kann, wird an unseren Wirtschaftsfakultäten bisher nicht einmal ernsthaft gestellt.

Die Sicherung eines auch nur annähernd stabilen „holozänartigen Anthropozän“ – um auf die barocke Formulierung aus dem Gutachten des Umweltrats der Bundesregierung zurückzukommen – bedürfte einer global wirksamen Politik. Und das macht „einen Grad transnationaler Zusammenarbeit nötig, der die in der internationalen Arena bis heute geübte Praxis bei weitem übersteigt. [...] Die Vereinten Nationen stagnieren, und selbst die Europäische Union ist ein Versuch mit ungewissem Ausgang“.

So schreibt es Jürgen Habermas, der soeben eine monumentale Geschichte der europäischen Philosophie veröffentlicht hat. Zweitausend Seiten, das Resümee eines lebenslangen Denkens über vernünftige Freiheit: Ausgehend von jener Achsenzeit am Ende der neolithischen Umwälzung rekonstruiert Habermas die allmähliche Verwandlung einer Gesetzesreligion mit Erlösungsversprechen in eine säkulare Philosophie der menschlichen Autonomie und des Fortschritts im Bewusstsein der Freiheit. Eine Transformation, die über die Stationen Naturrecht und Aufklärung in die kantische Idee der Weltrepublik, des kategorischen Imperativs, des Rechtsstaats und der Demokratie mündet. Diese Gedankensysteme, Rechtsordnungen und Ideale verknüpfen die Würde und das Leben des Einzelnen mit dem Leben des Ganzen. Sie beerben damit nicht nur den Totalanspruch der Religion, sondern sie zehren zugleich in dialektischer Weise auch vom emotionalen Gehalt und dem Verpflichtungscharakter der überkommenen Religionen.

Jeder Erdenbürger hat das Recht auf den gleichen Anteil an der Atmosphäre

Die zeitgemäße Formulierung des kategorischen Imperativs in einer globalisierten Erde, in der die Energiefrage, das demokratische Gleichheitspostulat und der materielle Glücksanspruch verbunden sind, fand ironischerweise ausgerechnet Angela Merkel vor neun Jahren auf dem Klimagipfel in Japan: Jeder Erdenbürger hat das Recht auf den gleichen Anteil an der Atmosphäre. Das Postulat ist mit Gründen nicht zu bestreiten, sondern nur mit Macht, und mit Mauern zu ignorieren. Zu Ende gedacht heißt es: Ein „holozänartiges Anthropozän“ erfordert viel Technik und eine neue, global geltende und exekutierbare Rechtsordnung des gemeinsamen Eigentums aller Erdenbürger an den Gütern der Erde: Wasser, Boden, Luft, Naturschätze.

Das ist zwar vorstellbar, aber es hätte massive Konsequenzen. In den Wohlstandsregionen der Welt müssten die Bürger ihre Ansprüche auf die Erde radikal reduzieren, ihre Schulden gegenüber der Natur und den ehemaligen Kolonien anerkennen, was praktisch hieße: mehr Gleichheit ertragen. Und an dieser Wegmarke hilft Argumentieren nicht weiter. Hier beginnt, mit den Worten des katholischen Ökologen Carl Améry, das Reich der religiösen Regungen, „wo solche Einsichten in Schuld und Last nicht als Minderung, sondern als Mehrung unserer Menschlichkeit empfunden werden“.

Hier aber kann auch die Vernunft der Philosophen nicht weiterhelfen. „Erst im Akt der Bindung unserer Willkür an die aus praktischer Vernunft gewonnene Einsicht erfüllt sich das richtige moralische Urteil im autonomen Handeln“, stellt Habermas fest. Doch „nichts und niemand“ zwinge uns zu solcher Bindung. Die Suche nach einem Ausweg aus der Wachstumsfalle, die nicht auf technische Willenslenkung à la China oder Facebook setzen will, kann sich – so endet das große Buch – auf keine Gewissheit stützen. „Es hängt von unserem Selbstverständnis ab, ob wir als Individuen [...] oder als Bürger und Politiker [...] in Situationen der Wahrnehmung unausweichlicher Probleme uns selbst und gegenseitig die Spontaneität vernünftiger Freiheit sowohl zutrauen wie zumuten.“ Es hängt von uns ab – auf diesem hellgrauen Ton endet Habermas‘ Lebenswerk. Mehr kann uns die Philosophie nicht versprechen.

Trauen und muten wir uns die Spontaneität vernünftiger Freiheit zu

Uns selbst und gegenseitig etwas zutrauen und zumuten – kein strafender Gott der Israeliten schärft unser Gewissen, keine Freiheitsphilosophie garantiert einen guten Ausgang. Wir können nur, schreibt Habermas, „Zutrauen“ und „Ermutigung“ gewinnen aus der Erinnerung an die Fortschritte im Bewusstsein und in den Institutionen der Freiheit, die sich den kämpferischen Lernprozessen unserer Vorgänger verdanken.

Uns etwas zuzumuten – dafür waren in der alten Welt die Propheten zuständig. Seit einem halben Jahrhundert erheben Wissenschaftler, Philosophen, Theologen, Nobelpreisträger und Religionsoberhäupter ihre mahnenden Stimme gegen die Weltzerstörung. Aber alle diese „Posaunen der Propheten“, so Carl Améry, selbst ein Prophet, „brachten nicht einmal die Vorwerke des Techno-Systems“ zum Wanken.

So haben auch die ebenso ökologische wie ökumenische Botschaft von Papst Franziskus in seiner Enzyklika „Laudato si“ aus dem Jahr 2015, seine scharfen Attacken auf den „Imperialismus des internationalen Finanzkapitals“, in diesem Land wenig bewirkt. Aber vielleicht ist es ein Unterschied, ob es ein 82jähriger sagt oder ob eine 16jährige einfach stur weiter sitzen bleibt, stellt, mit einem schmunzelnden Blick nach oben, der Münsteraner Weihbischof Rolf Lohmann fest. Wie er haben auch die Bischöfe von Berlin und Hildesheim Greta Thunberg als Prophetin apostrophiert.

Doch wo Bischöfe Religiosität erkennen, eine Weltsicht und Praxis, die den Einzelnen mit Wissen und Wollen an das Ganze der Welt bindet, einen Einsatz, der aufs Ganze geht, sehen andere nur die Ikone einer „notsüchtigen“ Mittelschicht, die Kreatur einer Bewusstseinsindustrie, die aus Angstrhetorik Profit saugt, so der postmoderne Allesdenker Norbert Bolz. Diese „ekstatische Ersatzreligiosität“ der Klimabewegung beute nur das Schuldbewusstsein der westlichen Kultur aus.

Offenbar leben wir in einer Zeit, in der aufklärerische Sturheit polarisiert, in der es aber auch charismatische Überraschungen gibt, in der Bündnisse entstehen, die vor kurzem noch nicht denkbar waren – und in der auch die Abwehr dagegen sich formiert. Ja, es geht einiges zu Ende dieser Tage: die goldenen Jahre der letzten großen Konjunktur, die Dominanz des euro-amerikanischen Kapitalismus, die Illusion einer unendlich verwertbaren Natur, letztlich das „gesamte Universum der westlichen Welt“: die Vorstellungen von Eigentum, die mit der neolithischen Revolution in die Welt kamen.

Eine alte Ordnung löst sich auf, und eine neue hat noch keine Konturen. Das sind Zeiten, in denen, in den Worten von John Maynard Keynes, Menschen „mehr als sonst eine grundlegendere Diagnose erwarten und ganz besonders bereit sind, sie aufzunehmen und zu erproben, wenn sie nur einigermaßen annehmbar sein sollte“. Zeiten auch, in den die Monster der Vergangenheit auftauchen und die Drohung des „Verwüstungsanthropozäns“ Gestalt annimmt. Zeiten, in denen es darauf ankommt, wie viele Millionen einzelne sich verhalten, wohin sie sich bewegen, was sie wählen und wie hartnäckig sie bleiben – unter dem offenen Himmel der Geschichte.

Dieser Text entstand für die Deutschlandfunk-Sendung „Essay und Diskurs“. Eine Hörfassung ist unter dem Titel „Saisonschluss. Klima, Kommentare und kleinere Katastrophen“ auf dlf.de/essay-und-diskurs, im Essay-und-Diskurs-Podcast oder in der Dlf-Audiothek-App verfügbar.

Aktuelle Ausgabe September 2025

In der September-Ausgabe plädiert Lea Ypi für eine Migrationsdebatte im Sinne der Aufklärungsphilosophie. Cinzia Sciuto fordert, der zunehmenden Aushöhlung des Völkerrechts mit einer entschiedenen Verteidigung desselben zu begegnen – und nicht mit Resignation und falschem Realismus. Für Georg Diez markieren die Kriegsverbrechen in Gaza und die fehlenden Reaktionen darauf einen Epochenbruch; sie stünden für nicht weniger als den Verrat des Westens an der Humanität. Herfried Münkler analysiert, wie Kriege historisch endeten und Friedenszeiten begannen und was das mit Blick auf den Ukrainekrieg bedeutet. Simone Schlindwein deckt auf, wie Russland junge Afrikanerinnen mit falschen Versprechen für die Kriegswirtschaft rekrutiert. Warum die grüne Digitalisierung ein Mythos ist und was der KI-Boom den Globalen Süden kostet, erläutern Ingo Dachwitz und Sven Hilbig. Und Eva-Maria Klinkisch sowie Markus Rieger-Ladich zeigen auf, wie Long Covid-Betroffene von der Gesellschaft und dem Gesundheitssystem systematisch ignoriert werden – und was dagegen zu tun ist. 

Zur Ausgabe Probeabo

Weitere Artikel zum Thema

Die Rückkehr des Besatzers

von Sergej Lebedew

Vor fünfzig Jahren, am 1. August 1975, wurde mit der Unterzeichnung des Abkommens von Helsinki die Unverletzlichkeit der nach dem Zweiten Weltkrieg errichteten Grenzen anerkannt. Wie wir wissen, dauerte die Ordnung von Helsinki etwa fünfzehn Jahre. Die Sowjetunion hörte auf zu existieren, und die Länder Ost- und Mitteleuropas fanden ihren Weg zu Freiheit und Eigenstaatlichkeit.