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Beamte müssen auf Anweisung der Vorgesetzten während der Corona-Pandemie im Home-Office arbeiten, entschied das Berliner Verwaltungsgericht am 15. April.[1] Geklagt hatte eine über 60jährige, die im März zum Arbeiten nach Hause geschickt worden war, weil sie aufgrund ihres Alters besonders gefährdet sei. Die Amtsinspektorin wehrte sich und verwies auf die fehlende Rechtsgrundlage für diese Anordnung, aber ohne Erfolg. Es könne ihr zugemutet werden, dass sie während der Dauer der Pandemie nur in Rufbereitschaft arbeite, sie werde dadurch nicht aus dem Dienst gedrängt, so die Begründung der Richter*innen.
Der Ausgang dieses Präzedenzfalls hat für die Klägerin sicher keine tödlichen Wirkungen. Es ist auch nicht davon auszugehen, dass sie bewusst diskriminiert werden sollte, sondern dass die Vorgesetzten vielmehr nur ihrer Fürsorgepflicht nachkommen wollten. Dennoch ist es nachvollziehbar, dass eine solche Maßnahme als diskriminierend erlebt wird und Ängste provoziert. Grundsätzliche Bedeutung hat der Fall, weil er sich einordnet in die seit Mitte März laufende Debatte über ein neu definiertes Bevölkerungssegment, die sogenannten Risikogruppen, die dem besonderen Schutz des Staates und der Allgemeinheit anheimfallen.
Zu ihnen gehören nicht etwa nur ältere Menschen – wobei die Altersgrenzen frei flottieren und die „jungen Alten“ ab 60 manchmal miteinschließen, manchmal nicht –, sondern auch Menschen mit Behinderung oder solche mit risikobehafteten, ebenfalls nicht genau umrissenen Vorerkrankungen. Dass die beiden letzteren Gruppen bei der „Verwaltung des Risikos“ staatlicherseits zunächst gar keine Rolle spielten, war Anlass zu Protest.[2]
Zusammen mit den Nachrichten und Bildern aus Italien, Spanien und dem Elsass, wo aufgrund knapper Ressourcen im Gesundheitssystem Covid-19-Patient*innen ab dem 80. Lebensjahr wochenlang nicht mehr hinreichend versorgt, sondern lediglich sediert dem Sterben überlassen wurden, könnte diese Diskussion einen Generationenkonflikt schüren. Das aber würde vom eigentlichen Skandal ablenken: Das gemeinhin als vorbildlich geltende deutsche Gesundheitssystem ist nämlich doch nicht so umfassend gerüstet für eine Epidemie wie Covid-19, weil es seit Jahren auf Verschleiß fährt und die Nähte nun zu platzen drohen.
Die Vorstellung, dass auch hierzulande Ärzt*innen möglicherweise darüber entscheiden müssen, wer behandelt wird und wer nicht – und nach welchen Kriterien –, überfordert in einer Zeit, die ohnehin als Ausnahmezustand erlebt wird, die mentale Ausstattung der Bevölkerung. Insbesondere aber verunsichert es jene so genannten Risikogruppen, die, isoliert und herausgerissen aus ihren üblichen Routinen, ausgegrenzt werden und aufgrund des Virus unter Umständen tatsächlich um ihr Leben fürchten müssen.
Frappierende Risikoumkehr
Wer zuerst den stigmatisierenden Finger erhoben hat, ist heute nicht mehr genau nachzuvollziehen, denn Risikopatient*innen waren mit dem Ausbruch der Pandemie sofort ein Thema. Wichtig war sicher ein Interview, das Ärztepräsident Klaus Reinhardt am 20. März dem „Redaktionsnetzwerk Deutschland“ gegeben hat, in dem er signalisierte, dass „unsere Gesellschaft die jetzigen Einschränkungen nicht ewig“ durchhalten könne. Deshalb müssten Menschen „im Alter 65 plus“ und „andere Risikogruppen“ darauf vorbereitet werden, „dass die jetzt geltenden Einschränkungen für sie länger“ gälten. Es bedürfe, so kündigte er an, „umfassender Maßnahmen, um die Bevölkerungsgruppe isolieren zu können, während sich das öffentlich Leben wieder schrittweise normalisiert.“[3]
Damit war die Vorlage für das nun immer wieder aufgerufene Narrativ gesetzt: Hier die Bevölkerungsmehrheit, der längere Isolation nicht zuzumuten sei, dort die heterogene Risikogemeinschaft, die geschützt werden müsse durch – man muss es so sagen – freiheitsberaubende Maßnahmen. Vorbilder dafür gab es bereits in anderen europäischen Ländern. Bereits Mitte März hatte die britische Regierung die ältere Bevölkerung – Menschen ab 70 Jahren – für zwölf Wochen praktisch unter Hausarrest gestellt, um die dramatische Situation für den Nationalen Gesundheitsdienst (NHS) etwas zu entspannen. Zudem wurde den Betroffenen geraten, jegliche Sozialkontakte zu vermeiden.
Nach Reinhardts Vorstoß häuften sich in Deutschland dann die Stimmen einflussreicher Politiker*innen, die „Gefährdete“ zugunsten der Bewegungsfreiheit der anderen in Schutzquarantäne nehmen wollten. In einem Interview mit der „Zeit“ sinnierte Gesundheitsminister Jens Spahn öffentlich darüber, „wie wir Ältere, Hochbetagte, chronisch Kranke“ schützen können.[4] Die Älteren, das könne man schon absehen, sekundierte ihm Kanzleramtschef Helge Braun vier Tage später, „werden ihre Kontakte länger reduzieren müssen.“[5] Eine bemerkenswerte denklogische Grätsche schließlich legte der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer Anfang April hin. Sein Vorschlag, 16 Millionen ältere Menschen einer Risikoquarantäne zu unterwerfen, verband er mit „einem neuen Generationenvertrag, bei dem die Jüngeren arbeiten gehen und das Infektionsrisiko auf sich nehmen, während die Älteren und Kranken auf soziale Kontakte verzichten.“[6]
Was bei dieser Erzählfigur – die im Falle Palmers durchaus auch zynisch grundiert ist – auffällt, ist die in wenigen Wochen vollzogene Risiko-Umkehr. Denn da vor allem die Mehrheitsgesellschaft – und hier wiederum Kinder – oft ohne Wissen als Virenverbreiter fungieren und somit ein aktives Risiko für andere darstellt, frappiert es, wie schnell plötzlich durchaus auch gesunde Ältere oder Menschen mit Behinderung zum Risiko erklärt wurden.
Doch die fluide Wirklichkeit des Risikos, so hat es Ulrich Beck in seiner Analyse zur „Weltrisikogesellschaft“ ausgeführt, forciert deren Umstrittenheit und die damit verbundenen Deutungen. Die Risikowahrnehmung sei irrational, sie folge kulturellen Mustern und münde in Inszenierungen, die die Grundlagen des Zusammenlebens verändern. Dazu gehört, dass Personen und Gruppen „zu Risiko-Gruppen (gemacht) werden, deren Grundrechte bedroht sind. Das Risiko spaltet, grenzt aus, stigmatisiert.“ Das Fatale dabei ist: „In dem Moment, in dem eine Gruppe, eine Bevölkerung zum Risiko wird, löscht das Merkmal Risiko alle anderen Merkmale aus, und die Gruppe wird ebendies: ein Risiko für andere.“[7] Genau das erleben wir momentan, auch wenn sich die Politik im ersten Exit-Tableau Mitte April noch mit separierenden Maßnahmen für diese Bevölkerungsteile zurückgehalten hat. Sobald es aber zu weiteren Öffnungen kommt, dürfte die Debatte wieder offensiv geführt werden.
Unwidersprochen blieben diese Vorschläge indes nicht. Insbesondere Gerontolog*innen wie Johannes Pantel, die auf die fatalen Folgen langer Isolation für ältere Menschen aufmerksam machen, empören sich über die Art, wie „Risikogruppen“ in der Gesellschaft identifiziert und wahrgenommen werden. Statt sie zu willenlosen Schutzobjekten zu machen und kollektiv zu entmündigen, so Pantel, sei nach deren Willen zu fragen. Und sofern eine Person einwilligungsfähig und nicht infiziert sei, müsse sie selbst entscheiden können, ob sie in Isolation gehen will oder nicht.[8]
Triage: Die Angst, aussortiert zu werden
Die Angst, aussortiert zu werden, grassiert aber nicht nur im Hinblick auf den sozialen Ausschluss: Der Begriff der „Triage“ ist aus der medizinischen Fachliteratur in den Alltagsdiskurs eingewandert und Vertreter*innen von Fachgesellschaften und Ethikräten verhandeln coram publico darüber, wer unter welchen Umständen (zu) knappe Behandlungsressourcen zugeteilt bekommt. Damit steht der Wert des einzelnen Lebens plötzlich in Konkurrenz zum Wert anderer Leben oder dem der vielen, die gerettet werden könnten. Denn dieses aus der Kriegs- und Katastrophenmedizin stammende Prinzip besagt, dass Patient*innen in Notsituationen nach Behandlungsgruppen unterschieden und versorgt werden.[9] Traditionell gilt bei Katastrophen, möglichst vielen Betroffenen das Überleben zu sichern, das heißt, nur leicht oder aber sehr schwer Verletzte mit schlechter Prognose nachrangig zu behandeln.
Im Fall von Covid-19 in Italien sind die Mediziner*innen einer anderen Regel gefolgt – einer, die nach geretteten Lebensjahren differenziert. Ein 40jähriger wäre demnach eher zu retten als ein 68jähriger, so man die statistische Lebenserwartung unterstellt. Damit aber wird das Alter der Kranken zum Auswahlkriterium. Ähnliches scheint sich auch im Elsass durchgesetzt zu haben, von wo gemeldet wurde, dass über 80jährige aufgrund mangelnder Geräte nicht mehr beatmet werden.[10] Die Medizinethikerin Weyma Lübbe, die sich lange einschlägig mit dem Thema Triage befasst hat, formuliert offen ihr Unverständnis über diese Form der Verteilung. Diese habe die Begründungslogik der Triage auf den Kopf gestellt, weil sie den Wert eines Menschenlebens (bzw. den Wert der geretteten Lebensjahre) – also ein Effizienzkriterium – entscheidend mache.[11] Pragmatischer sieht es ihre Kollegin Annette Dufner. Auf den nachdrücklichen Vorhalt, dass auch deutsche Fachgesellschaften Kriterien an die Hand gäben, die beispielsweise Menschen mit Behinderung diskriminieren könnten,[12] erklärte sie: „Mit absoluter Sicherheit kann Diskriminierung nicht ausgeschlossen werden.“[13] Behinderten-Aktivisten befürchten eben dies: Aufgrund einer umstrittenen Gebrechlichkeitsskala aussortiert zu werden.[14]
Offiziell verwahren sich die beratenden Institutionen in Deutschland allerdings gegen eine utilitaristische Auslegung der Triage. In der Ad-hoc-Stellungnahme des Deutschen Ethikrats heißt es: „Jedes menschliche Leben genießt den gleichen Schutz.“ Und weiter dezidiert: „Der Staat darf menschliches Leben nicht bewerten.“ Differenzierungen aufgrund von Geschlecht, der ethnischen Herkunft, des Alters oder auch der prognostizierten Lebensdauer hätten seitens des Staates deshalb zu unterbleiben.[15]
Die Dilemmata, in die behandelnde Ärzt*innen aufgrund möglicher knapper Ressourcen kommen könnten, seien indessen nicht von der Hand zu weisen. Ihre ethisch begründeten Gewissensentscheidungen könnten bei einer möglichen nachträglichen strafrechtlichen Betrachtung deshalb „mit einer entschuldigenden Nachsicht“ rechnen.
Priorisierung: Nicht so neu, wie es scheint
Was aber, wenn betroffene Patient*innen überhaupt nicht mehr in den Begutachtungsradius von Intensivmediziner*innen und günstigenfalls anderen beratenden Fachleuten kommen? Wenn Hausärzt*innen oder gar Heimleitungen darüber entscheiden, wer noch in ein Krankenhaus eingeliefert wird? Lassen sie Patient*innen hohen Alters im Fall des Falles vielleicht eher sterben? In einer Seniorenresidenz in Freiburg genas kürzlich ein 96jähriger nach einer Covid-19-Erkrankung.[16] Hätte er sie auch überstanden, wenn er ein paar Kilometer weiter im Elsass gewohnt und kein Beatmungsgerät für ihn verfügbar gewesen wäre? Und wie sieht es mit den Überlebenschancen eines Boris Johnson aus, der dem – auch von ihm mit kaputtgesparten Gesundheitsdienst NHS sein Leben verdankt – und denen eines kranken Londoner Obdachlosen, der mit etwas Glück überhaupt noch in eine Klinik aufgenommen wird? Alter, soziale Herkunft und die Zufälligkeit des Wohnorts – sind das wirklich alles keine Kriterien für Triage?
Der Priorisierungsgedanke ist den europäischen Gesundheitssystemen nicht so fremd, wie es scheint. Und er hat sich interessanterweise dort am meisten durchgesetzt, wo der Staat es finanziert: in Großbritannien und – ausgerechnet – in Schweden.
Als Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt hierzulande mehrere und wenig populäre Gesundheits-„Reformen“ durchgesetzt hat, war Priorisierung allgegenwärtiges Thema: Welche Operationen sind notwendig, welche können aufgeschoben werden, wer bekommt was zugeteilt?
Der Gesundheitssoziologe Volker H. Schmidt hat schon vor 15 Jahren darauf hingewiesen, dass das Auswahlgeschehen in der Alltagstriage gleichsam einem „Utilitarismus mit ‚schlechtem Gewissen‘“ folge und sich gerne ins Gewand medizinischer Zwänge und Entscheidungen kleide.[17] Genau das kritisieren die Behinderten-Aktivist*innen an den aktuellen fachgesellschaftlichen Empfehlungen. Die Prämissen, so Volker H. Schmidt schon damals, würden aus dem Alltag abgeleitet, als wählbar erkannt und mit neuen Begründungsnotwendigkeiten versehen. In einem Ausnahmezustand wie dem jetzigen sind derlei Begründungen scheinbar evident – und normalisieren ein schreckliches Geschehen, das sich lange angekündigt hat.
[1] Beschluss vom 14. April – VG 28 L 119/20; vgl. auch den Beitrag von Silke van Dyk, Stefanie Graefe und Tine Haubner in dieser Ausgabe.
[2] So beklagte der Gründer des Vereins „Sozialhelden“, Raul Krauthausen, in einem Interview, dass Menschen mit Behinderung bei den Risikomaßnahmen „offenbar einfach vergessen wurden“ (vgl. „Die Welt“, 25.3.2020). Und die Sozialverbände Caritas und Diakonie mussten trommeln, um die dringende Sicherstellung der von Insolvenz bedrohten sozialen Dienste zu reklamieren.
[3] „Redaktionsnetzwerk Deutschland“, 20.3.2020.
[4] „Die Zeit“, 25.3.2020.
[5] „Der Tagesspiegel“, 29.3.2020.
[6] „die tageszeitung“,5.4.2020.
[7] Ulrich Beck, Weltrisikogesellschaft, Frankfurt a. M. 2007, S. 41 und 249.
[8] Vgl. „Die Zeit“, 2.4.2020.
[9] Obwohl wenig bekannt, wird Triage auch im Zuge terroristischer Anschläge, etwa bei der Versorgung der Verletzten nach dem Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz im Dezember 2016 angewandt (vgl. „Berliner Zeitung“ 10.6.2017).
[10] Vgl. „Frankfurter Rundschau“, 28.3.2020.
[11] Vgl. „Telepolis“, 22.3.2020; grundsätzlich: Weyma Lübbe (Hg.), Tödliche Entscheidung. Allokation von Leben und Tod in Zwangslagen, Paderborn 2004.
[12] Vgl. hierzu die Stellungnahme von Ability Watch zu den Handlungsempfehlungen der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung der Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), www.abilitywatch.de.
[13] „Die Zeit“, 5.4.2020.
[14] Erst nach Druckschluss der Mai-Ausgabe stellt die DIVI klar, „dass Grunderkrankungen und Behinderungen kein legitimes Kriterium für Triage-Entscheidungen sind. Zudem wurde die Prüfung des Patientenwillens vor der Aufnahme auf die Intensivstation stärker hervorgehoben“. Zit. nach: Pressemeldung der DIVI, Triage bei COVID-19: ‚Wir entscheiden nicht nach Alter oder Behinderung‘ – Intensiv- und Notfallmediziner aktualisieren klinisch-ethische Entscheidungsempfehlungen vom 23.4.2020, www.divi.de. – D. Red.
[15] Solidarität und Verantwortung in der Corona Krise. Ad hoc-Empfehlung, 27.3.2020.
[16] Vgl. „Badische Zeitung“, 4.4.2020.
[17] Vgl. Volker H. Schmidt, Veralltäglichung der Triage, in: Lübbe a.a.O., S. 80-103, hier: S. 103.