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In dem am 7. Oktober veröffentlichten Fortschrittsbericht der EU-Kommission zum Beitrittsland Türkei heißt es vornehm: „Die türkische Außenpolitik kollidiert zunehmend mit den Prioritäten einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU.“ Im Klartext meint dies: Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan wendet sich aus Sicht der EU immer häufiger direkt gegen deren Interessen.
Das bezieht sich zunächst auf die jüngsten Auseinandersetzungen der Türkei mit Zypern und Griechenland um die Ausbeutung der Bodenschätze im östlichen Mittelmeer. Es schließt aber auch die permanenten Verstöße der Regierung von Präsident Erdoğan gegen das Verbot von Waffenlieferungen nach Libyen mit ein und, ganz aktuell, auch die Unterstützung des Angriffs Aserbaidschans auf Berg-Karabach. In allen drei Fällen setzte oder setzt der türkische Präsident auf militärische Gewalt, entweder durch direkten Einsatz der türkischen Armee, häufiger aber auch durch die Entsendung von Söldnern sowie gezielten Waffenlieferungen. Schon in den vergangenen Jahren hat Erdoğan in Syrien bewiesen, dass er nicht vor militärischer Gewalt zurückschreckt, um seine politischen Ziele zu erreichen. Im Sommer 2016 startete die erste große Militäroperation über die syrische Grenze, angeblich um den „Islamischen Staat“ von dort zu vertreiben. Tatsächlich sollte die Operation die Milizen der syrischen Kurden daran hindern, das von ihnen kontrollierte Territorium nach Westen auszudehnen. Der Bekämpfung der syrischen Kurden, die in den Augen der Erdoğan-Regierung nur ein Ableger der türkisch-kurdischen „Terrororganisation“ PKK sind, diente auch der zweite Angriff in Nordsyrien, als Erdoğan den kurdischen Kanton Afrin besetzen und die meisten Kurden von dort vertreiben ließ. Die letzte große Operation östlich des Euphrats verfolgte dann angeblich das Ziel, die Entstehung eines „PKK-Staates“ entlang der Grenze zur Türkei verhindern.
Obwohl es für jede einzelne dieser Militärinterventionen eine eigene Begründung gibt, stellen sie alle einen fundamentalen Bruch mit der jahrzehntelangen Politik der türkischen Republik dar. Diese erfolgte auf der Vereinbarung, sich angesichts der Erfahrungen vor und während des Ersten Weltkrieges aus den Händeln der Welt herauszuhalten. Knapp hundert Jahre nach der Republikgründung im Jahr 1923 will Erdoğan sich an die damals im Vertrag von Lausanne festgelegte Ordnung nicht länger halten: Die Türkei sei zu groß, zu wichtig und zu mächtig, verkündet er allenthalben vor seinen Anhängern, um sich noch länger herumstoßen zu lassen.
Das neo-osmanische Projekt
Dabei ist es erst elf Jahre her, dass sein damaliger Außenminister und spätere Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu mit der Parole „Null Probleme mit den Nachbarn“ antrat und zunächst tatsächlich einen Ausgleich mit Griechenland und Armenien suchte. Damals bestand in der Regierungspartei AKP noch eine Resthoffnung, den Sprung in die Europäische Union zu schaffen und als einflussreicher östlichster Außenposten von EU und Nato eine wichtige Rolle in der muslimischen Welt zu spielen.
Während die Hoffnung auf einen EU-Beitritt zerstob, schien der 2011 beginnende „Arabische Frühling“ der Türkei plötzlich die Möglichkeit zu eröffnen, zur Regionalmacht aus eigenem Recht aufzusteigen. Erdoğan verfügte schon immer über ein großes islamisches Sendungsbewusstsein, das nun auch begann, seine Außenpolitik zu dominieren. Er gerierte sich als Held der arabischen Straße, weil er eines schnell begriffen hatte: Der Aufstand gegen die arabischen Potentaten würde nicht die schmale Schicht der säkularen, westlich orientierten Intellektuellen an die Macht bringen. Stattdessen würden die zuvor unterdrückten Muslimbrüder als Speerspitze des politischen Islam von diesen profitieren. Damit aber bot sich aus Sicht Erdoğans die Gelegenheit, den früheren Einfluss der Türkei im Nahen Osten wieder zurückzugewinnen – das neo-osmanische Projekt nahm Gestalt an.
Umso enttäuschter zeigte sich Erdoğan, als die USA und Europa den Putsch von General Fatah as Sisi gegen den ägyptischen Präsidenten und Muslimbruder Mohammed Mursi, der zum wichtigsten Pfeiler der neoosmanischen Politik geworden war, stillschweigend unterstützten.
Nachdem Erdoğan Mursi in Ägypten nicht im Amt halten konnte, schlug er sich im Syrienkrieg auf die Seite der Muslimbrüder. Er überwarf sich mit Saudi-Arabien und den Emiraten, weil diese die Muslimbrüder als ihre Gegner betrachten. Aus islamisch-ideologischen Gründen führte er die Türkei im gesamten Nahen Osten, mit Ausnahme von Katar, in die Isolation.
Für seine vergebliche Unterstützung der sunnitischen Aufständischen bezahlte Erdoğan in Syrien einen hohen Preis: Sowohl die knapp vier Millionen syrischen Flüchtlinge in der Türkei als auch die Verantwortung für die von Islamisten dominierte Provinz Idlib als Überbleibsel der syrischen Revolution hängen wie ein Mühlstein um seinen Hals. Sie sind das Ergebnis der Vision eines Nahen Ostens unter Erdoğans ideologischer Führung.
Der Putschversuch gegen ihn selbst im Sommer 2016 stellt für Erdoğan – nach dem Putsch gegen Mursi – die zweite Zäsur im Verhältnis zum Westen dar. Weil er bis heute vermutet, dass Teile der US-Geheimdienste darin verwickelt waren, wandte er sich dem russischen Präsidenten Wladimir Putin zu – obwohl dieser den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad unterstützt. Dass die USA eng mit der syrisch-kurdischen YPG-Miliz – für Ankara ein Ableger der PKK – zusammenarbeiteten, gab für Erdoğan letztlich den Ausschlag, sich in Syrien – scheinbar paradox – mit den Kontrahenten Russland und Iran zu verständigen.
Die Vision, als neue islamische Vormacht der Region ein neo-osmanisches Reich zu errichten, legte Erdoğan erst einmal auf Eis. Stattdessen dominiert nun Realpolitik à la Erdoğan. Auch außenpolitisch setzte der türkische Präsident nun auf die bislang vor allem im Inneren der Türkei angewandte Strategie, wonach Angriff die beste Verteidigung sei – gegenüber der EU nur verbal, in Syrien auch mit militärischem Einsatz.
Aus Erdoğans Sicht stellte sich die Lage unmittelbar vor der ersten Militärintervention in Syrien im August 2016 wie folgt dar: Teile des Militärs hatten unter Anleitung oder mindestens mit dem Wissen amerikanischer Geheimdienste gegen ihn geputscht. Sein Versuch, Assad zu stürzen und in Damaskus eine ihm genehme Regierung zu etablieren, war gescheitert. Die Verhandlungen mit der PKK in den Jahren 2012/13 sowie die Wahl im Jahr 2015 hatten gezeigt, dass die PKK angesichts der Erfolge ihrer syrischen Kämpfer nicht bereit war, die Waffen niederzulegen; gleichzeitig sprach sich die Mehrheit der Erdoğan-Wähler gegen ein Abkommen mit der PKK aus. Und schließlich zeigte sich immer deutlicher, dass die von ihm angestrebte Präsidialdiktatur nur mit Hilfe der Nationalisten und äußersten Rechten durchgesetzt werden konnte. Auch das schloss erneute Verhandlungen mit der PKK kategorisch aus und verhinderte zugleich eine Verständigung mit den syrischen Kurden.
Für Erdoğan ergab sich aus alledem, dass er eine autonome kurdische Region in Nordsyrien, wie sie im Nordirak bereits existiert, unbedingt verhindern musste – jedenfalls solange die Gefahr besteht, dass daraus ein „PKK-Staat“ hervorgeht. Um aber in Syrien einmarschieren zu können, musste Erdoğan zuvor ein taktisches Bündnis mit Putin eingehen. Dieser erwartete im Gegenzug, dass Erdoğan die von ihm finanzierten Dschihadisten ruhigstellen würde. Mit der Operation „Euphrat Shield“, die die Region direkt westlich des Euphrats bis an die Grenze des kurdischen Kantons Afrin einbezog, konnte Erdoğan mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen: Erstens sichert ihm die Anwesenheit der türkischen Armee in Syrien ein Mitspracherecht über die politische Zukunft des Nachbarlandes. Zweitens behauptete Erdoğan, den IS zu bekämpfen, tatsächlich aber besetzte er ebenjene Region, die den Kurden zwischen dem Kanton Afrin und den von ihnen bereits kontrollierten Gebieten östlich des Euphrats noch fehlte, um ein durchgängiges Territorium in Nordsyrien zu schaffen. Drittens setzte er die syrischen Rebellen bzw. Dschihadisten als seine militärischen Hilfstruppen ein, was die Verluste in den Reihen der türkischen Soldaten verringerte. Und viertens hatte der Einmarsch in Syrien auch einen innenpolitischen Effekt: Denn Erdoğan schickte die türkische Armee gerade einmal 15 Tage nach dem Putschversuch gegen ihn ins Feld und verhinderte so womöglich weitere Umsturzversuche.
Seinen strategischen Erfolg wollte Erdoğan ein Jahr später wiederholen: Im Januar 2018 ließ er die türkische Armee mit Unterstützung seiner syrischen Hilfstruppen auch in Afrin einmarschieren, um die dort lebenden Kurden aus ihrer angestammten Heimat zu vertreiben.
Die Rückeroberung Idlibs
Den größten Clou ermöglichte allerdings US-Präsident Donald Trump: Im Herbst 2019 zog er seine Soldaten aus der bis dahin gemeinsam von US-Truppen und der syrisch-kurdischen YPG kontrollierten Region im Nordosten Syriens ab. Der überraschende Schritt ermöglichte es Erdoğan, das Vakuum im wahrsten Sinne des Wortes zu füllen. Denn durch den Rückzug der US-Armee verloren die Kurden ihre strategisch wichtigsten Städte und fruchtbarsten Gebiete im Nordosten Syriens; sie kämpfen nun südlich einer 30 Kilometer tiefen Pufferzone um ihr Überleben. Erdoğan konnte zufrieden sein: Die „Gefahr“ eines prosperierenden Kurdenstaates in Nordsyrien war damit gebannt, die Türkei teilte sich mit Russland die Kontrolle.
Allerdings erhielt die Zusammenarbeit mit Moskau in Syrien einen schweren Dämpfer, als Putin im Winter 2019/2020 Assad grünes Licht für die Rückeroberung der letzten Rebellenhochburg Idlib im Nordwesten Syriens gab. Die direkt an die Türkei angrenzende Provinz war in den Jahren zuvor zum letzten Rückzugsgebiet der syrischen Rebellen und ihrer Familien geworden. Mehr als drei Millionen Menschen leben dort auf engstem Raum unter erbärmlichsten Bedingungen, unter ihnen auch viele Flüchtlinge aus anderen Teilen Syriens.
In Absprache mit Russland und Iran hatte die Türkei dort zuvor zahlreiche Beobachtungsposten errichtet und damit de facto das Protektorat über die Provinz übernommen. Putin erwartete dafür, dass Erdoğan die Dschihadisten entwaffnet oder zumindest Angriffe auf russische und syrische Regierungstruppen aus Idlib heraus unterbindet.
Diese Erwartung konnte oder wollte er jedoch nicht erfüllen. Die mit ihm verbündeten Milizen unter dem Dach der „Freien Syrischen Armee“ erlitten eine schwere Niederlage gegen die radikalislamischen Nusra-Kämpfer, und Erdoğan unternahm wenig, um gegen diese vorzugehen. Das gab Assad den Vorwand, seine Rückeroberungspläne von Idlib zu forcieren.
Erdoğan in der Isolation
Putin nahm dabei hin, dass immer mehr Flüchtlinge aus Idlib in Richtung türkische Grenze getrieben wurden – eine Entwicklung, die Erdoğan nicht hinnehmen konnte: Wären nämlich hunderttausende weitere syrische Flüchtlinge aus Idlib in die Türkei gelangt, hätte das Erdoğans Herrschaft ernsthaft gefährdet. Wegen der Wirtschaftskrise und der prekären Lage auf dem Arbeitsmarkt war die Stimmung gegen die syrischen Flüchtlinge nach Jahren der Toleranz gekippt. Erdoğan entschloss sich daher zu seinem bislang riskantesten Militäreinsatz und schickte tausende Soldaten, Panzer und die in der Türkei produzierten Bayraktar-TB2-Kampfdrohnen nach Idlib.
Es gelang ihm, den Vormarsch von Assad zu stoppen, doch der Preis war hoch: Mehr als 50 türkische Soldaten fielen, allein 39 bei einem einzigen russischen Luftangriff – der auch die „Männerfreundschaft“ zwischen Erdoğan und Putin zerstörte. Da Russland damit als strategischer Partner ausfällt, steht Erdoğan außenpolitisch völlig isoliert da. In weiten Teilen der EU ist er regelrecht verhasst, nur die Bundesregierung hält aus taktischen Gründen noch den Kontakt aufrecht. Das Verhältnis zu den USA ist hingegen völlig zerrüttet: Sollte Biden die Präsidentschaftswahl gegen Trump gewinnen, wird er im Gegensatz zu Trump den Sanktionsforderungen des Kongresses stattgeben. Aus seiner Schwäche heraus setzt Erdoğan daher auf militärische Abenteuer.
Weil die Türkei in der Frage der Ausbeutung der Bodenschätze im östlichen Mittelmeer über keine Verbündete mehr verfügt, die ihr dabei helfen könnten, türkische Ansprüche diplomatisch durchzusetzen, schickte Erdoğan kurzerhand syrische Söldner nach Libyen. Sie sollen ein windiges Seerechtsabkommen mit der machtlosen Regierung in Tripolis absichern. Sie provozieren nun Griechenland und Zypern mit Geleitschutz für türkische Forschungsschiffe in jenen Gewässern, die die beiden EU-Länder für sich beanspruchen. Das aber führte nur dazu, dass sich die übrigen EU-Länder geschlossen hinter ihre Mitglieder stellen und keine der türkischen Forderungen bei ihnen mehr Gehör finden. Auch seine uneingeschränkte Unterstützung Aserbaidschans im Krieg mit Armenien ist zwar innenpolitisch populär, verschärft aber außenpolitisch seinen Konflikt mit Putin enorm. Kurzfristig mag ihm seine aggressive Außenpolitik im Land nutzen, langfristig erweist sie sich aber geradezu als katastrophal.
Denn Erdoğan führt die Türkei immer weiter ins Abseits. Seine hybriden Kriege sind kein Zeichen der Stärke, sondern der Schwäche. Syrien und die syrischen Flüchtlinge bleiben ein großes Problem, und die ungelöste Kurdenfrage stellt nicht nur in demokratischer und menschenrechtlicher, sondern auch in wirtschaftlicher Hinsicht eine schwere Hypothek dar. Und sicher ist auch, dass Erdoğan mit seinen Kriegsschiffen die Bodenschätze im Mittelmeer nicht gewinnen wird. Die meisten Türkinnen und Türken wissen das. Sollte Erdoğan die Präsidentschaftswahl – und damit die Abstimmung über seine desaströse Politik – wie derzeit vorgesehen für das Jahr 2023 zulassen, dürfte seine Zeit endgültig vorbei sein.