Auf der Suche nach einem neuen Gemeinwohl

Bild: Simon Shim / Unsplash
In den vergangenen fünfundzwanzig Jahren hat sich das Wort „homeland“, Heimat, das zuvor kaum ein Amerikaner in den Mund zu nehmen pflegte, zu einer alles beherrschenden Parole gemausert: nämlich in der Formel „homeland security“ (Heimatschutz), die zugleich eine obsessive Idee und ein monströses Bundesministerium bezeichnet, das mit Hilfe zahlreicher ihm unterstellter Behörden die Grenzen überwacht, den Präsidenten beschützt und im Fall von Naturkatastrophen eingreift (beziehungsweise wegsieht). Der Begriff „homeland“ suggeriert einen Ort inniger Eintracht, dem unser aller Leben entspringt, etwas zutiefst Vertrautes oder zumindest das, was Robert Frost ein Zuhause nannte: die Stätte, an der dir, klopfst du nur an, aufgetan wird.
Nichts dergleichen haben wir heute. Die Parole „homeland“ steht für eine Ära der Spaltungen, in der einen alles Mögliche zum Außenseiter machen kann, der Wohnort, die Kleidung, die eigenen Ängste – deren Auslöser oft genug andere Amerikaner sind. Und einige von uns haben sehr viel mehr zu befürchten als andere. Da ich diese Sätze schreibe, ist es gerade zehn Tage her, dass Beamte des United States Immigration and Customs Enforcement (ICE), einer dem Department of Homeland Security unterstehenden Polizei- und Zollbehörde, Samuel Oliver-Bruno verhaftet haben, einen seit zwanzig Jahren in Durham (North Carolina) lebenden Familienvater ohne amerikanische Staatsangehörigkeit, der die Kirche, in der er seit fast zwölf Monaten Asyl genoss, in Begleitung eines Geistlichen verlassen hatte, um eine Verlängerung seiner Duldung zu beantragen. Freunde von mir – ich habe bis zum Winter 2018/19 fünfzehn Jahre lang in Durham gelebt und an der Duke University unterrichtet – wurden verhaftet, weil sie das ICE-Fahrzeug, in dem Oliver-Bruno weggebracht wurde, mit friedlichen Mitteln aufzuhalten versuchten. Da ich dies schreibe, bereiten sie sich auf ihren Prozess vor und Oliver-Bruno wartet in Atlanta auf seine Abschiebung.[1] Das ist der Preis für die „Sicherung“ der „Heimat“. Dieses Land hält uns beieinander und auseinander, in tiefer Verunsicherung.
Doch der amerikanische Boden hat die Menschen, die auf ihm leben, schon immer beieinander- und auseinandergehalten, und die Abgrenzungen nach außen und die Verwerfungen im Inneren der „Heimat“ stehen in einem engen Zusammenhang.
Die Geschichte dieses Landes begann mit einer Landnahme welthistorischen Ausmaßes und einem ebenso welthistorischen Experiment republikanischer Selbstbestimmung. Die Unabhängigkeitserklärung setzt ihre aufrührerischen Ansprüche auf die Gleichheit „aller Menschen“ und zugleich auf das Recht der Kolonisten, ihre Siedlungen über die Allegheny Front in den Appalachen hin auszudehnen, die die britische Krone 1763 als Grenze gegen französische und indigene Gebietsansprüche festgelegt hatte. George Washington und Henry David Thoreau waren in vielen Dingen nicht derselben Meinung – aber beide sind Landvermesser gewesen. Der Boden war der common wealth, der gemeinsame Reichtum, der das Leben von Präsidenten und Dissidenten in einem Land bestimmte, das seine Unabhängigkeit seinem größten Bodenspekulanten verdankte.
Doch auch wenn sich die Bundesstaaten Massachusetts und Virginia bis heute offiziell „Commonwealth“ nennen, ist aus dem gemeinsamen Reichtum nie ein dem Gemeinwohl verpflichtetes Gemeinwesen entstanden. Stattdessen führten die Grundbesitzverhältnisse immer neue Grenzziehungen herbei. Dass sie den indigenen Bewohnern das Land wegnahmen, „rechtfertigten“ die Kolonisten durch unbeirrtes Beharren auf dem Axiom, Eigentum an einem Terrain könne nur der erwerben, der es – wie die Siedler beziehungsweise Farmer – adäquat bearbeite. Ihr Besitzanspruch beruhte auf Äxten, Pflügen und Vermessungslinien.
Von Anfang an mündeten durch Spekulationskapital angeheizte Ansprüche auf neu erschlossenes Grenzland in gewaltige Booms und Pleitewellen, was im Grunde bis heute so geblieben ist. In seinem im Jahr 1800 eröffneten Testament verfügte George Washington über mehr als zweiundfünfzigtausend Morgen Land. Und 216 Jahre später bestimmte eine Minderheit der amerikanischen Wähler einen Immobilienentwickler zum Tribun dieses weiten Landes.
Das Land ist schon immer die Gemeinsamkeit gewesen, die uns voneinander trennt. Grundbesitz verleiht den einen Macht über andere, das galt für die damaligen Landpächter in der Gegend um Durham ebenso wie für die heutigen Arbeitsmigranten in den Geflügelfarmen und Mastschweineanlagen im östlichen North Carolina. Eigentum ist die Grundlage für Kredite, mit denen man seinen Besitz noch erheblich ausweiten kann (man spricht zu Recht von der „Hebelwirkung“ des Kredits als einer archimedischen Kraft, mit der sich die Welt aus den Angeln heben lässt); wer hingegen nichts besitzt, muss seine Haut zu Markte tragen.
Das Land teilt uns in jene, die eigenen Grund und Boden besitzen, jene, denen der Grund und Boden gehört, auf dem andere leben – wie die Unternehmen, in deren „Händen“ appalachische Kohlevorkommen wie nordkarolinische Schweinemastanlagen „liegen“ (obwohl solche immateriellen Körperschaften natürlich andere für sich zupacken lassen müssen) –, und jene, denen nichts anderes übrig bleibt, als sich diesen Großgrundbesitzern als Tagelöhner anzudienen.
Heimat ist das Land, in das man sich tief genug eingegraben hat
Trotz der sehr ungleich verteilten Möglichkeiten gibt es hier keineswegs nur Feindschaft und Entfremdung. Es ist nur menschlich, einen Ort zu lieben, an den man in irgendeiner Art und Weise gebunden ist, und trotz aller Einengung ein gewisses Maß an Freiheit und Stolz zu empfinden. Aus Familienerzählungen weiß ich, dass der Großvater meiner Frau, der sein Leben lang Bergmann und Gewerkschafter war (und, als die Minen niemanden mehr einstellen wollten, auch Totengräber wurde – er wusste eben, wie man ein Loch in den Boden macht), sich sogar sehr gerne unter Tage aufhielt, weil er die Dunkelheit liebte, die Kälte und Enge der Mine, bis die Staublunge ihn seiner Arbeitskraft beraubte. Es ist nur menschlich, die Sache zu lieben, die einen auf lange Sicht umbringt, und in Eintracht mit ihr zu leben. Heimat ist das Land, in das man sich tief genug eingegraben hat. Doch unser Heimatland ist nie ein Commonwealth gewesen.
Das Wort „wealth“, Wohlstand, Vermögen, hat mittelenglische Wurzeln, die „well-being“ oder „wellness“ bedeuten, einen Zustand der Zufriedenheit und des Glücks, der auch mit „health“ zusammenhängt. Erst im späten Mittelalter nahm „wealth“ seine heutige Bedeutung an und bezeichnete materiellen Reichtum. „Common“ wiederum stammt von einem französischen Wort, das „gemeinsam“ bedeutet. Dieser egalitäre Gedanke erregte natürlich den Zorn der Aristokraten, weshalb „common“ auch niedrig, gemein, unkultiviert, derb und so weiter bedeutet. So bezeichnete Walter Raleigh, der Höfling und unersättliche Kolonisator, der Übersiedler nicht nur in North Carolina, dessen Hauptstadt nach ihm benannt ist, sondern auch in Ulster und Virginia anpflanzte, den Commonwealth verächtlich als eine „Entartung [...], eine Herrschaft der großen Masse des niedrigen und ärmeren Typs, ohne Respekt vor den anderen Rängen“.[2] John Locke hingegen verstand darunter „jede unabhängige Gemeinschaft“,[3] ein Gemeinwesen, das sich, ob als Monarchie, Demokratie oder in einer anderen Staatsform, selbst verwaltete. Es gibt aber auch noch eine ältere Bedeutung von Commonwealth, die sich mit „Wohl der Allgemeinheit“ oder kürzer „Gemeinwohl“ wiedergeben lässt: Wohlstand, der unter allen aufgeteilt wird, an dem alle teilhaben können.
Das sind wohlklingende Worte – mich zumindest sprechen sie an. Doch was genau bedeuten sie?
Man könnte mit den Dingen anfangen, die die Vereinigten Staaten ihren Bewohnern oder zumindest denen, die ohne Einschränkung als Mitglieder der Gemeinschaft angesehen wurden, immer wieder versprochen und zuweilen auch geboten haben: einen fairen Anteil an der Welt, die Würdigung ihrer Arbeit oder der Bedingungen, die ihnen Arbeit unmöglich machen, ihre Respektierung durch Vertreter von Staat und Justiz, die Möglichkeit, sich ohne Furcht und Scham in der Öffentlichkeit zu bewegen, und die Sicherheit, nicht alleingelassen zu werden, wenn man verletzt oder krank ist. Das entspricht einer Idealvorstellung von Freiheit im Alltag, im Beruf und in der Freizeit, die achtbar, erfreulich, schön und erstrebenswert erscheint. Schon mit diesen wenigen Worten sind die wesentlichen Elemente eines „gemeinen Wohls“ skizziert, das eine Gemeinschaft ihren Mitgliedern anbieten oder vorenthalten kann. Je weiter sie es ausdehnt, desto mehr eignet sie sich die Grundeigenschaft eines Commonwealths an: eine Gleichheit, die über die Freiheit hinausgeht, sich in einer hyperkompetitiven Wirtschaft auf der Verliererseite wiederfinden zu dürfen.
Das Ideal eines Commonwealths geht aber noch darüber hinaus. So könnte sich ein solches Gemeinwesen durch eine Wirtschaft auszeichnen, in der niemand seinen Lebensunterhalt mit der Entwürdigung und Ausbeutung anderer beziehungsweise des Landes beziehungsweise der weiteren Lebenswelt verdient. In einem solchen Gemeinwesen würden das Gedeihen aller und das Gedeihen von allem das Gedeihen des Einzelnen erhalten. Das Leben wäre bis auf den Grund von Gegenseitigkeit und Gleichheit durchdrungen. Die Freiheit dieser Gemeinschaft hieße nicht: frei sein von der Verantwortung für die Folgen meines Handelns. Sie hieße nicht: frei sein vom Angewiesensein auf andere oder von der Verantwortung für meinen Nächsten. Es wäre die Freiheit, die Ergebnisse meines Tuns gutheißen zu können und meine Verantwortung für und mein Angewiesensein auf andere ohne Gram und Ressentiment anzuerkennen.
Die Vereinigten Staaten sind so weit davon entfernt, ein solches Gemeinwesen zu sein, dass schon der Versuch, darüber nachzudenken, sinnlos erscheinen mag. Doch zumindest jenen Bewohnern des Landes, die als „echte Amerikaner“ galten, haben politische Wortführer und Propheten immer wieder verschiedene Formen eines solchen Commonwealths versprochen. Beispielsweise Abraham Lincoln mit dem 1859 vor der Wisconsin State Agricultural Society geäußerten Anspruch, in einer Demokratie solle niemand einer entwürdigenden Arbeit nachgehen müssen und jeder die Möglichkeit haben, sich seiner Hände und seines Kopfs zu bedienen.[4] (Warum sonst, fragte er, haben wir beides?) Oder mit der Idee eines von den Eigentümern der Arbeitskraft zu bildenden „kooperativen Commonwealths“,[5] den Teile der frühen Arbeiterbewegung anstrebten.
Ein Gemeinwesen versprach auch Lyndon B. Johnson, als er 1964 für den Aufbau einer „Great Society“ warb, „in der die Sinnhaftigkeit unseres Lebens den wunderbaren Produkten unserer Arbeit entspricht“ und die Wirtschaft „nicht nur die körperlichen Bedürfnisse und die Erfordernisse des Kommerzes befriedigt, sondern auch die Sehnsucht nach Schönheit und den Hunger nach Gemeinschaft stillt“.[6] Dasselbe Versprechen enthielt die radikale Vision, der Martin Luther Kings Kampfgenosse Bayard Rustin im selben Jahr Ausdruck verlieh, als er zu einer zweiten Welle der Bürgerrechtsbewegung aufrief und „staatliche Bauaufträge und Bildungsmaßnahmen, eine nationale Wirtschaftsplanung, Bundeshilfe für Familien und attraktive Sozialwohnungen“ forderte – mit anderen Worten: die „Sicherheit des Wohlstands“.[7]
Dieser amerikanische Commonwealth ist immer wieder durch Spaltungen und Ausbeutung verhindert worden – durch Rassismus, durch groteske Vorstellungen von den Geschlechterrollen, durch subtile und offene Gewaltausübung von Eigentümern und Bossen, zumeist durch alles zusammen. Man hat jede Menge politische, emotionale, juristische und imaginative Energien in die Schaffung einer Klasse gesteckt, deren Mitglieder angeblich für miese Jobs gemacht sind. Und ebenso viel in die Bereitstellung mieser Jobs, die die sie Ausübenden deformieren. Vor diesem historischen Hintergrund – der von den Schweinemastfarmen über die Kohlereviere bis in die Hochburgen der Arbeitslosigkeit bis heute lebendig ist und bis heute tötet – mag die Vorstellung eines amerikanischen Gemeinwesens durch und durch müßig erscheinen, als ein Märchen für jene, die in dem von Ta-Nehisi Coates aufgespießten „Traum [...] aus schmucken Häusern mit hübschen Vorgärten“ leben, in einer scheuklappengestützten Phantasie der USA als sorgenfreiem Heim.[8]
»Das Land gehörte uns schon, bevor wir in das Land gehörten«
Schließlich entfaltete sich die Geschichte dieses weiten Landes in den zurückliegenden fünfhundert Jahren zum einen aus blanken Phantasien, zum anderen aus einer rückhaltlosen, nicht selten inhumanen und destruktiven Wohlstandsgewinnung. „Das Land gehörte uns schon, bevor wir in das Land gehörten“ – die Zeile aus „The Gift Outright“, die der greise Robert Frost bei der Feier zur Amtseinführung John F. Kennedys spontan rezitierte (da er seine für den Anlass geschriebenen augusteischen Knittelverse im grellen Sonnenlicht des Wintertags nicht vom Blatt ablesen konnte), macht ob ihrer Triftigkeit frösteln. Der dominante amerikanische Anspruch lautete immer, dass die Völker, die dort seit Jahrtausenden lebten, dieses Land nur durch Zufall besessen hätten, während es aus grundsätzlichen Erwägungen tatsächlich den Siedlern gehöre. Die fremden weißen Siedler beanspruchten das Land für sich.
Zunächst aus dem auf diese Weise erworbenen Grund und Boden, dann aus der Arbeit von Menschen, die versklavt worden waren, wurden enorme Mengen an Wohlstand geschöpft. Manche Staaten des Südens räumten einem Siedler für jeden versklavten Menschen, den er dort unterzubringen versprach, Anspruch auf zusätzliches Ackerland ein. Die Plantagen des „Deep South“, der südöstlichen Staaten der USA, wurden, wie der Historiker Sven Beckert konstatiert, durch einen „Kriegskapitalismus“ aufgebaut:[9] Zur Rodung der Wälder und Trockenlegung der Sümpfe rekrutierte man die Versklavten, entriss sie ihren Angehörigen und brachte sie in weit entfernten Lagern unter, in denen eine hohe Sterblichkeit herrschte. Die verschiedenen Formen einer Gewalt, die weiße, schwarze und braune Körper nach den konkreten Abstraktionen der Ethnie und Kaste modelliert, sind auch dem Land eingeschrieben: in der regionalen Verteilung der Menschen, den Eigentumsverhältnissen und hinsichtlich der Frage, welche Menschengruppen sich schon nach ein paar Generationen einbilden können, einen „ursprünglichen“ Anspruch auf das Land zu haben oder gar mit dessen eigenen „Wünschen“ in Einklang zu stehen.
Nach der Eroberung des Westens kam das Redlining, die Abgrenzung von Gebieten nach der ethnischen Zugehörigkeit der Einwohnerschaft. Noch vor kurzer Zeit hätte man die aktuelle Demographie einer Stadt wie Durham mühelos an den achtzig Jahre alten Aufzeichnungen zur sozialen Wohneigentumsförderung während des New Deal ablesen können. (Dass dies heute nicht mehr so ist, liegt an einer Gentrifizierungswelle, in der der vermeintlich „farbenblinde“ Markt dafür gesorgt hat, dass die einkommensschwächeren schwarzen und lateinamerikanischen Bewohner beinahe ebenso systematisch – lediglich mit etwas feineren Abstufungen und erweiterten Einspruchsmöglichkeiten – von weißen, wohlhabenderen Bewohnern verdrängt wurden wie einst während der Zeit rassistischer Segregation.) Die von der Geschichte bevorzugten Viertel lassen sich von höher gelegenen Aussichtspunkten ohne weiteres ausmachen, weil man die Straßen dort vor achtzig Jahren mit Weiden-Eichen bepflanzt und die „weißen“ Boulevards mit einem grünen Baldachin beschattet hat, der an der alten Grenze zwischen den ethnischen Gruppen jäh endet – und die Geschichte der rassistischen Segregation um einen ökologischen Aspekt erweitert.
Es geht hier um ein materielles Problem mit ökologischem Antlitz. Beim Median der amerikanischen Haushalte steht das eigene Haus für zwei Drittel des Eigenkapitals. Im Jahr 2015 besaßen siebzig Prozent der weißen, aber nur vierzig Prozent der schwarzen Amerikaner ein Haus. Das Vermögen eines durchschnittlichen weißen Haushalts ist sieben Mal so groß wie das eines durchschnittlichen schwarzen Haushalts, das des Medians der weißen Haushalte über elf Mal so groß. Das Land und der Wohlstand, der mit ihm seinen Anfang nahm, sind noch immer von der Vergangenheit geprägt. Die Kluft zwischen weißem und schwarzem Wohlstand entsprang der Verfügung über Grund und Boden und entspringt ihr bis jetzt. Das Land vergisst nicht.
Aber was wissen wir noch von unserem Land? Jeder politische Kampf um Grund und Boden ist auch ein Kampf um Erinnerung und Vergessen. Mit dem Vergessen graben sich die herrschenden Verhältnisse in das Land selbst ein, als wären sie ein Teil der Natur.
Man kann ein Territorium auf viele Weisen für sich beanspruchen – mit Gewalt oder mit Vorstellungskraft, mit Hilfe der Kartographie oder mit Erzählungen. Die Siedler verwandelten die indigenen Amerikaner in einen Rohstoff für ihre Erzählungen, in eine Chiffre, die ihnen zu glauben half, dass sie tatsächlich „in das Land gehörten“, das sie erobert hatten.
Das ungerecht verteilte Erbe
Noch bevor Meriwether Lewis und William Clark 1804 die Weiten Nordamerikas im Auftrag Präsident Jeffersons geographisch zu erfassen begannen und die „schönen“ und „erhabenen“ Schauplätze des Westens, die späteren heiligen Orte der amerikanischen Landschaft, mit ästhetischer Präzision dokumentierten, bereitete der Dichter Philip Freneau, ein Propagandist Jeffersons, in seinem Poem „The Indian Burying Ground“[10] der langen literarischen Tradition des pittoresken Wilden den Weg:
„By midnight moons, o’er moistening dews; In habit for the chase arrayed, The hunter still the deer pursues, The hunter and the deer, a shade!
And long shall timorous fancy see The painted chief, and pointed spear, And Reason’s self shall bow the knee To shadows and delusions here.“
Freneau veröffentlichte diese Zeilen in den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts, noch vor der Ratifizierung der amerikanischen Verfassung und mehr als hundert Jahre vor dem Massaker der US-Army an den Lakota in Wounded Knee. Wenn es stimmt, dass weiße Siedler Gewinn aus dem Boden schlugen, bevor sie eine Vorstellung davon entwickelten, inwiefern sie überhaupt dorthin gehörten – wie die prosaische Lesart des Verses von Frost nahelegt –, dann kehrten sie diese Reihenfolge in ihren Gedichten und ihrer Imagination um: Bereits ein Jahrhundert vor Abschluss der Eroberung sogen sie den Rohstoff ihrer Mythologie und Nostalgie aus der indigenen Bevölkerung. Selbst während der aufeinander folgenden zunehmend asymmetrischen Grenzkriege um den Besitz des nordamerikanischen Kontinents produzierten die Neuankömmlinge Nostalgie und Romantizismus. Und die Gründung der Boy Scouts 1910 beruhte auf der Vorstellung, dass aus jungen Männern tugendhafte Amerikaner würden, wenn sie der strengen Disziplin und der Naturerfahrung der „kleinen Wilden“ nacheiferten, von denen Mitgründer Ernest Thompson Seton so überaus liebevoll sprach. Auch heute noch hängen selbst so kluge Autoren wie Wendell Berry der Vorstellung an, die ersten Bewohner des Kontinents hätten in Harmonie mit einer „jungfräulichen Welt“ gelebt, und machen sie damit zu einer moralischen und imaginativen Ressource für die Ökologie der Gegenwart.[11]
Diese Vergangenheit, in der man sich das Land angeeignet und dabei den Wohlstand so ungleich, so wenig am Gemeinwohl orientiert verteilt hat, sie lastet schwer auf der Idee eines amerikanischen Commonwealths. An ihr ist abzulesen, dass das allen Amerikanern gemeinsame Erbe ungerecht verteilt und kompromittiert ist, und zwar von Beginn an, seit der Ankunft der ersten Siedler, die den Kontinent unter seinem neuen Namen kannten (dem Namen Amerigo Vespuccis, des italienischen Entdeckers, der ihn kartographiert hatte, was in etwa so ist, als würden wir die Antarktis nach Fabian Gottlieb von Bellingshausen „Fabia“ und Australien, Captain James Cook zuliebe, „Jimbo“ nennen).
Diese Vergangenheit zeigt auch, dass es von entscheidender Bedeutung ist, den Commonwealth nicht bloß als fadenscheiniges utopisches Ideal, sondern als radikales und praktisches Vorbild zu begreifen.
Denn diese Geschichte der Ungleichheit ist nur das Vorspiel. Die gerade erst beginnende globale Klimakrise wird um sich greifen und sich auf das Leben aller Menschen auswirken. Alle die Arten und Weisen, in denen sich der Planet gegen uns wendet und kleiner und zorniger und launischer wird, sind von Menschenhand verursacht – überwiegend von den früheren und heutigen Bewohnern Nordamerikas und Europas, zunehmend auch von den Milliarden in China und den anderen neuen Industrieländern der Welt. Alle Völker, heute schon durch Ökologie und Ökonomie miteinander verbunden, werden auf beispiellose Weisen noch enger zusammengedrängt werden: wenn Menschen auf der panischen Flucht vor Stürmen und Dürren und Rohstoffkriegen die Tore Europas und der Vereinigten Staaten belagern, wenn jedes Land seine Umwelt mit eigenen Geoengineering-Maßnahmen zu schützen versucht. Nicht unwahrscheinlich, dass die Krise neue Formen der Gewalt und neue Machtbestrebungen heraufbeschwört. Wird man ein Embargo gegen Brasilien verhängen, um dessen protofaschistische Regierung an der Abholzung der Amazonasregion, der grünen Lunge des Planeten, zu hindern? Werden die afrikanischen Länder, die riesige fruchtbare Landflächen langfristig an China verpachtet haben, in einer Nahrungsmittelkrise auf ihre Souveränität pochen und das Land zurückfordern? Werden die Neuseeländer ihre Flughäfen für Silicon-Valley-Millionäre und Hedgefondsmanager schließen, die nach einem sicheren Plätzchen suchen, an dem sich der „Untergang der Zivilisation“ aushalten lässt?
Den Klimawandelleugnern in den Vereinigten Staaten etwa geht es längst nicht mehr um wissenschaftlich belegbare Fakten, sondern nur noch darum, wer das Sagen hat: Auf diese Weise kann man Migranten ebenso wie die (mehr imaginierten als realen) Forderungen internationaler Institutionen und die weltweite Armut ignorieren und an einem engstirnigen Souveränitätsbegriff festhalten, der andernfalls von den steigenden Fluten hinweggeschwemmt zu werden droht. Die Mauer an der Grenze zu Mexiko und die durch Trump veranlassten Einschränkungen des Asylrechts zeugen von der festen Entschlossenheit, die Probleme der Welt nicht zu den Problemen der USA werden zu lassen. Doch der fast schon metaphysische Dimensionen annehmende amerikanische Exzeptionalismus ist nicht mehr als ein schlechter Witz. Oder wirkt jedenfalls, wie viele haltlose Drohungen, wie ein schlechter Witz – bis er in Gewalt ausufert. Die Frage ist nicht, ob die Probleme der Welt jeden von uns betreffen werden, sondern zu welchen Bedingungen sie dies tun werden. Militärisch gesicherte Grenzen, Rohstoffkriege und eine Ungleichheit, die immer noch zunimmt, weil sich ihre ökologische und ökonomische Seite ergänzen: Das sind die Merkmale einer rebarbarisierten Welt, in der die Menschen und Völker nicht einmal mehr versuchen, das Prinzip der Gegenseitigkeit mit Leben zu erfüllen oder sich gemeinsame Ziele jenseits der keinen verschonenden ökologischen Knappheit zu setzen. Die Weise, auf die die etablierten Herrscher der Welt den Anschein erweckt haben, ein globales Gemeinwesen aufbauen zu wollen, durch Handel und ökonomisches Wachstum, hat uns an diesen Punkt gebracht. Während die vornehme offizielle Reaktion auf die globale Ungleichheit nach wie vor darin besteht, Mitgefühl zu äußern und nach Möglichkeiten ihrer Milderung zu suchen, gleicht der grassierende politische Trend einem unverhüllten, kruden Aufruf, seinen (vorerst) relativ sicheren Platz in der Welt gegen all jene zu verteidigen, die weniger Glück gehabt haben.
Was bedeutet Wohlstand – und was ist der Wert des Lebens?
Aber wir haben weder Zeit noch Welt genug – es bräuchte mehrere Planeten mit ähnlichen Ressourcen –, um uns bis zur Herabkunft eines globalen kapitalistischen Gemeinwesens durchzuschlagen. Und dennoch ist die Tatsache, dass wir alle – wie auch der Planet – auf lange Sicht sterben werden, zu einer perversen Quelle der Beruhigung für jene geworden, die die Katastrophe lange genug aussitzen zu können glauben, um das Leben zu genießen, bevor schließlich auch bei ihnen das Licht ausgeht.
Darauf läuft es also hinaus. Um einen alten Slogan zu variieren: Commonwealth oder Barbarei. Entweder wechseln die Volkswirtschaften der Welt zu einer gänzlich neuen Kalkulationsgrundlage über – was ist das Lohnendste, das sich mit einem kurzen, zerbrechlichen Leben an einem begrenzten, gefährdeten Ort anfangen lässt? – oder wir schlittern in eine Zukunft, in der die Idee eines Commonwealths jeder Chance beraubt ist.
Eine am Gemeinwohl orientierte Politik muss sich heute fragen, was sie unter Wohlstand verstehen und woran sie den Wert des Lebens bemessen will. Sie muss Antworten geben, die unser Zusammenleben ermöglichen – andernfalls werden wir einander als unversöhnliche Feinde gegenübertreten. Soziale Verwerfungen, militarisierte Grenzen und Diktaturen werden uns schlicht als „alternativlos“, weil überlebensnotwendig erscheinen. Wenn wir unsere Hoffnungen und Anstrengungen nicht in eine am Gemeinwohl orientierte Politik investieren können, werden diejenigen unter uns, die noch über ein Restmaß an Freiheit und Selbstbestimmung verfügen, vor der Wahl stehen, sich als Zyniker auf ein halbwegs würdevolles Überleben ihrer Angehörigen und engsten Freunde zu konzentrieren oder sich als Nihilisten in einer von Krisen erschütterten ungleichen Welt der schalen Befriedigung hinzugeben, es schon lange gewusst zu haben. Weder das eine noch das andere ist eine wünschenswerte Lebensweise.
Für den Umgang mit der gegenwärtigen Coronakrise und die womöglich noch tödlicheren künftigen Krisen sind drei Szenarien denkbar. Erstens das, was gegenwärtig in den USA geschieht: die Privatisierung. Die Reichen ziehen sich zurück, die Mittelklasse und die Akademiker isolieren sich, so gut sie können, bleiben aber vulnerabel, und die Arbeitenden und Armen werden krank und sterben. Selbst in unserer an Grausamkeiten gewöhnten Gesellschaft ist das ein Rezept für eine politische Gegenreaktion, die das zweite Szenario bildet: einen Katastrophen-Nationalismus. In mancher Hinsicht ist die Coronakrise eine beschleunigte Version der Klimakrise, denn indem sie unsere Vulnerabilität und Interdependenz hervorhebt, verschafft sie jenen einen politischen Vorteil, die gerade die Hand am Hebel haben – und uns oder jedenfalls vielen oder bestimmten Menschen helfen könnten. Irgendetwas in der Art ist wahrscheinlich das Standardreaktionsmuster der Politik in einer instabilen Welt voller Gefahren, in der sich staatliche Macht vor allem auf nationaler Ebene auswirkt und damit eine ständige Einladung zum Ethnonationalismus darstellt.
Das dritte Szenario wäre Solidarität. Was einem von uns schadet, schadet tatsächlich allen; das ist nicht mehr nur eine Sonntagsrede. Selbst nationale Maßnahmen gegen globale ökologische und epidemiologische Krisen bewirken immerhin eine vorläufige Milderung. Im 21. Jahrhundert ist jedes Land darauf angewiesen, dass die ganze Welt zu grüner Energie und grüner Infrastruktur konvertiert und die Wirtschaft so umbaut, dass nicht der prekäre Wettlauf um den nächsten Job, den nächsten Profit, sondern Gesundheitsschutz und Gemeinwohl oberste Priorität genießen. Wir brauchen stehende Heere aus Krankenpflegern und Arbeitern in einer grünen Infrastruktur weit mehr als die stehenden Heere, die wir derzeit haben – und wir sind darauf angewiesen, dass es alle anderen auch so machen. Die Lehre der Klimakrise, der zufolge wir uns gemeinschaftlichen Wohlstand leisten können, während das Streben nach universellem privatem Überfluss uns alle umbringen wird, lässt sich auf die Pandemie übertragen: Wir können uns ein echtes öffentliches Gesundheitssystem leisten, doch wenn jeder angehalten ist, seine Gesundheit auf eigene Faust zu erhalten, wird es nicht funktionieren, und der Versuch allein wird viele von uns das Leben kosten.
Ist das wirklich unmöglich, wirklich zu viel verlangt? Vergessen wir nicht, dass unsere Alle-gemeinsam-jeder-für-sich-Welt individualistischer Ethik und materieller Interdependenz nicht einfach vom Himmel gefallen ist. Eine gewaltige hoch komplizierte Infrastruktur ist nötig, damit wir einander und in letzter Konsequenz der Profitmaximierung dienen können: von Autobahnen über die Kreditmärkte bis zur globalen Handelsordnung. Die Hände und Köpfe, die diese Ordnung errichtet haben, sind zweifellos in der Lage, eine andere zu erbauen – eine, in der das Gemeinwohl an erster Stelle steht, und zwar auf jeder Ebene: vom Einzelnen über die Gemeinden und das Land bis hin zum gesamten Planeten. Damit würden wir eine andere, eine grundlegende Krisenfestigkeit erreichen, auch wenn der Weg dorthin eine politische Auseinandersetzung erforderlich macht, in der wir die Frage beantworten müssen, ob wir hier sind, um Profit zu generieren, oder um einander leben zu helfen.
Der Beitrag basiert auf „Die Welt und wir. Politik im Anthropozän“, dem jüngsten Buch von Jedediah Purdy, das soeben im Suhrkamp Verlag erschienen ist. Die Übersetzung stammt von Frank Jakubzik.
[1] Vgl. Tina Vasquez, Samuel Oliver-Bruno: Deported after an immigration appointment, in his own words, in: „Rewire News“, 14.12.2018.
[2] Remains of Sir Walter Raleigh, Maxims of State, London 1772, S. 6.
[3] John Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, Frankfurt a. M. 1997 [1689], S. 282.
[4] Vgl. Abraham Lincoln, Address before the Wisconsin State Agricultural Society, Milwaukee (Wisconsin), 30.9.1859.
[5] Alex Gourevitch, From Slavery to the Cooperative Commonwealth, Cambridge 2014.
[6] Lyndon B. Johnson, The Great Society, Ann Arbor (Michigan), 22.5.1964.
[7] Bayard Rustin, From protest to politics: The future of the Civil Rights Movement, in: „Commentary“, 2/1965.
[8] Ta-Nehisi Coates, Zwischen mir und der Welt, Berlin 2016, S. 9.
[9] Sven Beckert, King Cotton. Eine Globalgeschichte des Kapitalismus, München 2014; ders., Der blutrote Faden. Das globale Baumwollimperium und die permanente Revolution des Kapitalismus, in: „Blätter“, 1/2015, S. 81-92.
[10] Freneau schildert in insgesamt zehn Strophen, wie die amerikanischen Ureinwohner, die „ancients of this land“, sich angeblich vorstellten, nach ihrem Ableben traumwandlerisch durch die Landschaft zu ziehen, mit ihren Freunden zusammenzusitzen, fröhliche Feste zu feiern, auf die Jagd zu gehen usw. [Anmerkung des Übersetzers].
[11] Wendell Berry, A Native Hill, in: ders., Essays, hg. von Jack Shoemaker, New York 2019, S. 95.