Ausgabe Mai 2021

Missbrauch mit System

Das Ringen um die Zukunft der katholischen Kirche

Der Kölner Erzbischof Rainer Maria Kardinal Woelki bei einem Gottesdienst in Köln, 11.06.2020 (IMAGO / Future Image)

Bild: Der Kölner Erzbischof Rainer Maria Kardinal Woelki bei einem Gottesdienst in Köln, 11.06.2020 (IMAGO / Future Image)

Als der Strafrechtler Björn Gercke am 18. März das Gutachten über Pflichtverletzungen von Kölner Diözesanverantwortlichen im Umgang mit Missbrauchsfällen[1] der Öffentlichkeit präsentierte, sah ich vor meinem inneren Auge eine lange Reihe ähnlicher Szenen: Im Januar war der Bericht der Erzdiözese Berlin vorgestellt worden, im November vorigen Jahres der Bericht aus Aachen, zwei Jahre zuvor, im September 2018, die erste bundesweite Missbrauchsstudie, die sogenannte MHG-Studie.[2] Nun also ein weiteres Gutachten. Erneut eine Pressekonferenz. Und wieder bleibt festzuhalten, dass die Befunde, wiewohl vernichtend für einige leitende kirchliche Würdenträger, nur einen Teil des Ausmaßes sexualisierter Gewalt innerhalb der Kirche sichtbar machen. Denn in das Gutachten konnte lediglich eingehen, was aus jenen Akten hervorging, die die kirchlichen Behörden selbst übermittelt hatten. Zudem waren laut kirchlicher Selbstauskunft wiederholt große Aktenbestände vernichtet worden.

Das aber hindert die jeweiligen Würdenträger nicht daran, sich durch die Veröffentlichung solcher Gutachten regelmäßig selbstbewusst und mit scheinbar reinem Gewissen als Aufklärer und Durchgreifer in Szene zu setzen. Die Bischöfe erwecken geradezu den Eindruck, als wollten sie gelobt werden, wenn sie Befunde über gewissenlose Vorgänger im Bischofsamt, Sexualstraftäter im Priesteramt und traumatisierte kindliche Opfer präsentieren, denn auf kritische Reaktionen sind sie kaum vorbereitet. So rechnete bei der Pressekonferenz anlässlich der Veröffentlichung der MHG-Studie vor knapp drei Jahren offenbar niemand mit der Frage, ob auch nur ein deutscher Bischof persönliche Verantwortung für das kirchliche Leitungsversagen übernehmen und zurücktreten würde. Nach sekundenlangem, beredtem Schweigen lautete die knappe Antwort des damaligen Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Reinhard Marx: „Nein.“ Auch im jüngsten Kölner Gutachten schien das wichtigste Ergebnis darin zu bestehen, dass dem amtierenden Erzbischof Woelki keine Pflichtverletzungen nachgewiesen werden könnten.[3] Bei unzähligen ähnlichen Pressemeldungen heißt es, die Mehrheit der Priester habe sich nie etwas zuschulden kommen lassen. Bei den Tätern handele es sich um eine kleine Minderheit des Klerus und nicht um ein weit verbreitetes Problem. Solchen Aussagen folgt in aller Regel die Beteuerung, man werde nun aufklären, Leitlinien verfassen oder Arbeitsgruppen gründen.

Fortwährendes Verharmlosen und Vertuschen

Das erste so lautende Statement einer Bischofskonferenz gab es bereits im Juni 1985, als die sogenannte Missbrauchskrise in den USA ausbrach.[4] Doch Kleriker wie die Massentäter John Geoghan und Paul Shanley, von deren Vergehen gegen Minderjährige die zuständigen Bischöfe wussten, blieben allen Beteuerungen zum Trotz weiter im Amt. Außerhalb der USA, zumal in Deutschland, war das erst recht der Fall. Hier gab es damals noch kaum öffentliche Diskussionen über klerikalen Kindesmissbrauch. Beschuldigungen gegenüber Klerikern waren kircheninterne Angelegenheiten und viele beschuldigte Männer wie der Essener Priester Peter H. und der Kölner Priester Johannes O. blieben weiter im Amt. Selbst als der Wiener Erzbischof und Kardinal Hans Hermann Groër 1995 wegen sexueller Übergriffe gegen Schüler von seinem Amt zurücktreten musste, löste das im deutschsprachigen Raum keine weiteren Debatten aus.[5]

Die Diskussion über die systematische Vertuschung sexualisierter Gewalt in den Kirchen brach in Deutschland rund ein Vierteljahrhundert später aus als in den Vereinigten Staaten. Wer weiß, wann sie in Ungarn, auf den Philippinen oder Simbabwe beginnt. Wo doch Kardinäle wie Peter Turkson glauben, sexualisierte Gewalt gegen Kinder sei vor allem ein Problem der westlichen Welt.[6] Andere behaupten reflexartig, Abtreibung sei noch schlimmer als sexueller Kindesmissbrauch.[7] Als könne man ein solches Verbrechen durch das Anführen einer anderen vermeintlichen Sünde relativieren und als gäbe es nicht die vielen Fälle, in denen Priester missbrauchte Mädchen und Frauen zu Abtreibungen nötigen, um ihre Taten zu vertuschen.[8]

Angesichts solcher Aussagen und moralischen Abgründe wirkt die offizielle kirchliche Rhetorik immer unglaubwürdiger. Mit jedem neuen Gutachten hat die Öffentlichkeit einen immer tieferen Abgrund vor sich: Auf der einen Seite geht aus den untersuchten Akten eine derart kühl kalkulierende Logik kirchlicher Verantwortungsträger im Umgang mit sexualisierter Gewalt hervor, dass einem die Spucke wegbleibt. Auf der anderen Seite versuchen Würdenträger die öffentliche Entrüstung mit professioneller PR zu beruhigen.

Die Quittung für diese Groteske erhalten sie von den eigenen Gläubigen. Je länger das unwürdige Schauspiel dauert, desto mehr Menschen kehren der katholischen Kirche den Rücken. In den USA, in Irland, in Deutschland. Und je mehr Fälle bekannt werden, desto mehr fällt auf: In keinem anderen Kontext, in dem es zu massenhafter sexualisierter Gewalt gekommen ist, sprechen wir von einer „Missbrauchskrise“. Stattdessen sprechen wir von Menschenhandel, von Folter oder von organisierter Kriminalität. In vielen anderen Fällen, in denen Menschen massenhaft Opfer solcher Verbrechen geworden sind, die von Angehörigen einer internationalen Organisation begangen wurden, wartet die Staatengemeinschaft nicht jahrzehntelang wohlwollend ab, ob die Täterorganisation diese Verbrechen eventuell selbst aufklären möchte. Stattdessen werden solche Organisationen vor Internationalen Gerichtshöfen zur Verantwortung gezogen, mit Sanktionen belegt oder zumindest öffentlich scharf verurteilt. Im Fall der katholischen Kirche sind bis heute nur wenige und nur äußerst zaghaft dazu bereit. Amnesty International ebenso wie der ehemalige irische Premierminister Enda Kenny sprachen immerhin von „Folter“. Betroffenenorganisationen versuchen die katholische Kirche mittlerweile völkerrechtlich zur Rechenschaft zu ziehen.[9] Bisher allerdings nur mit mäßigem Erfolg.

Ermittlung und Urteilsspruch liegen in derselben Hand

Derweil gehen nicht nur im Begriff der Missbrauchskrise, sondern auch im öffentlich gezeichneten Bild wesentliche Aspekte regelmäßig unter – nämlich jene, die das Selbstbild, die Ideologie, Struktur und Eigenlogik der katholischen Kirche betreffen, und Fakten, ohne die man dieses Phänomen nicht verstehen kann, die sich aber teils nicht einmal Insidern erschließen: Dazu gehört die Logik des kirchlichen Rechts, in der es gar keinen Straftatbestand des „sexuellen Kindesmissbrauchs“ gibt, sondern entsprechende Taten als „Straftaten gegen das sechste Gebot mit einem Minderjährigen“ oder als „Verstöße gegen die Heiligkeit des Bußsakramentes“ verhandelt werden.[10] Betroffene Kinder sind vor kirchlichen Gerichten konsequenterweise keine Geschädigten und keine Kläger, sondern lediglich Zeugen eines priesterlichen Zölibatsverstoßes. Ohne Recht auf Nebenklage, Akteneinsicht und anwaltlichen Beistand sind sie in kirchlichen Verfahren entsprechend marginalisiert, während beschuldigte Kleriker umfangreiche Rechte besitzen und obendrein sicher sein können, dass ihre Ankläger und Richter in jedem Fall selbst Kleriker sind. Dazu kommen weitere Eigenarten kirchlicher Strafprozesse: Ermittlung und Urteilsspruch liegen hier in derselben Hand. Und selbst nach der Aufhebung des sogenannten päpstlichen Geheimnisses durch Papst Franziskus bleiben kirchenrechtliche Verfahren grundsätzlich geheim.[11] Das heißt, die Öffentlichkeit hat bis heute keinen echten Einblick in den kirchlichen Umgang mit Beschuldigten. Gläubige wissen nicht, welche und wie viele Fälle aktuell an örtlichen Kirchengerichten verhandelt, wie viele nach Rom gemeldet werden, wie die Ermittlungen und die Urteile aussehen und wie hoch die Prozentzahl der verurteilten Kleriker ist.

Zugleich gibt es in der katholischen Kirche kaum Hoffnung auf grundlegende Gesetzesreformen. Ihre Verfassung, die im Wesentlichen der einer ständisch organisierten absolutistischen Monarchie ähnelt, steht dem im Wege: Alle Macht ist an den Klerikerstand rückgebunden und läuft beim Papst in Rom zusammen. Parlamente, Gewaltenteilung, transparente und demokratische Gesetzgebungsverfahren gibt es in dieser Kirche nicht. Alles das ist schließlich auch deswegen besonders heikel, weil diese Kirche einen einzigartigen völkerrechtlichen Status genießt. Das beispiellose völkerrechtliche Konstrukt des „Heiligen Stuhles“ verleiht der katholischen Kirche eine Unantastbarkeit und einen Einfluss auf der internationalen politischen Bühne, die keine andere Religionsgemeinschaft in dieser Form besitzt.

Ein totaler Missbrauch von Macht

Angesichts all dessen drängt sich der Eindruck auf, klerikaler Kindesmissbrauch ist womöglich eher ein Symptom als eine Ursache der aktuellen Kirchenkrise. Mehr noch: Womöglich handelt es sich gar nicht nur um eine innerkirchliche „Krise“, sondern vielmehr um das Ende dieser Kirche, wie wir sie kannten. In einem legendären Interview sagte der ehemalige Dubliner Erzbischof Diarmud Martin[12]: „Missbrauch ist nicht nur die eigentliche sexuelle Handlung, die entsetzlich ist. Sondern der sexuelle Missbrauch eines Kindes ist ein totaler Missbrauch von Macht. Es bedeutet, zu einem Kind zu sagen: Ich kontrolliere dich, und das heißt, zu einem Kind zu sagen: Du bist wertlos.“ Der springende Punkt an dieser Aussage ist: Dieses Machtgefüge, das es einigen erlaubt, andere zu kontrollieren und sie als wertlos zu behandeln, ist in der katholischen Kirche nicht die Abweichung, sondern die Norm. Es ist verfassungsmäßig, kulturell und ideologisch tief verankert. Namentlich der Papst verfügt „kraft seines Amtes über höchste, volle, unmittelbare und universale ordentliche Gewalt, die er immer frei ausüben kann“.[13] Mit ihm verfügt der leitende Klerus über die Gläubigen, die in ihrer Kirche keine einklagbaren Rechte besitzen, weder Mitbestimmungs- noch Abwehrrechte. Dafür haben sie einen langen Katalog von Pflichten – und das ab dem Moment ihrer Taufe, den die meisten als Säuglinge erleben.

Je hochrangiger Kleriker sind, desto weniger scheinen sie sich für die Belange normaler Gläubiger zu interessieren, deren Appelle und Protestnoten in Schubladen verschwinden, auch und gerade, wenn sie mit höchster theologischer Fachexpertise und aus dringender Sorge um die Kirche verfasst sind. Im Grunde ist dies ein jahrhundertealtes Machtspiel. Manche Gläubigen finden sich damit ab; andere verlassen die Kirche – während die Institution sich scheinbar nicht verändert.

Das Ende der Kirche, wie wir sie kannten

Doch im Laufe des 20. Jahrhundert haben sich die Koordinaten dieses Machtspiels gründlich verschoben, so dass es immer weniger reibungslos funktioniert. Erstens leben katholische Gläubige weltweit seit dem vergangenen Jahrhundert praktisch überall in Demokratien mit Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit, Teilhabe- und Abwehrrechten – und verstehen immer weniger, warum sie diese Rechte als Mitglieder ihrer Kirche nicht haben sollen. Zweitens ist nach dem großen Reformgestus des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-1965) deutlich geworden, dass der leitende Klerus das Machtgefüge allen innerkirchlichen Bemühungen und bischöflichen Rhetoriken zum Trotz im Wesentlichen unangetastet lassen möchte. Und drittens wird seit dem Ausbruch der sogenannten Missbrauchskrise klar, dass es hier nicht nur um theologische Glasperlenspiele zwischen dem hohen Klerus und dem katholischen Fußvolk geht, sondern buchstäblich um Menschenleben. Genauer: um das Leben der schwächsten Mitglieder dieser Kirche.

Angesichts dieser Entwicklungen ist es nicht nur dringend moralisch geboten, den innerkirchlichen Machtkampf erneut aufzunehmen, sondern er findet unter völlig neuen Bedingungen statt. Die sogenannte Missbrauchskrise markiert den ersten Moment in der Geschichte, in dem interne Dokumente und Beweise über die systematische Vertuschung krimineller Taten katholischer Kleriker weltweit in großer Zahl öffentlich werden, und den ersten Moment, in dem der führende Klerus der katholischen Kirche sich hierfür vor einer zunehmend säkularisierten Öffentlichkeit verantworten muss. Das heißt: vor einer Öffentlichkeit, die sich dem Anspruch der kirchlichen Herrschaft nicht nur nicht unterworfen fühlt, sondern ihn gar nicht mehr begreift. Das Schauspiel immer neuer Gutachten und Aufklärungsabsichtsbekundungen, das Würdenträger mit ihren PR-Leuten und Rechtsgelehrten seit 1985 weltweit aufführen, verdeckt nur mühsam den immer deutlicher zu Tage tretenden Kollaps einer kirchlichen Verfassungsordnung, die auf der Vorstellung der fundamentalen Ungleichheit der Menschen beruht. Je mehr die Öffentlichkeit den Stimmen der Opfer dieser Kirche zuhört, die innerhalb der kirchlichen Systemlogik kein Rederecht besitzen, desto schneller vollzieht sich dieser Zusammenbruch. Zusätzlich beschleunigt wird er von Gläubigen, die ihre Kirche am Maßstab ihrer eigenen Heiligen Texte messen, wo von der Würde und Gottebenbildlichkeit aller Menschen die Rede ist.

Von der Frage, wie sich die Mehrheit der Gläubigen in dieser Dynamik positionieren wird, hängt die Zukunft der Kirche ab. Zwei mögliche Szenarien lassen sich an aktuellen Massenbewegungen innerhalb der katholischen Kirche ablesen. Es gibt eine wachsende Zahl von Gläubigen, die durch den Einblick in den kirchlichen Umgang mit klerikalen Sexualstraftätern und deren Opfern zur Überzeugung gelangt sind, dass die Legitimation, Verteilung und Kontrolle von Macht in der Kirche grundlegend überdacht und neu organisiert werden muss. Und es gibt eine große Schar von katholischen Christinnen und Christen, die angesichts der Kirchenkrise umso offener und radikaler für das kompromisslose Festhalten am bestehenden institutionalisierten Autoritarismus eintreten.

Für die gleiche Würde und die gleichen Rechte aller Gläubigen

Die Speerspitze der zweiten Bewegung bilden fanatisierte katholisch-fundamentalistische Gruppen mit einer Affinität zum rechtsradikalen Spektrum.[14] Sie sind überzeugt von der gottgewollten Ungleichheit der Menschen, insbesondere, aber nicht nur, in Bezug auf Männer und Frauen. Ihre Vertreterinnen schreiben Bücher mit Titeln wie „Heirate und unterwirf Dich“.[15] Sie verunglimpfen Missbrauchsberichterstattung in verschwörungsgläubiger Manier als kirchenfeindliche Propaganda und sehen sich und ihren Glauben von einer gottlosen Welt bedroht. Viele von ihnen verehren Donald Trump und Wladimir Putin, und ihre verwegenen Wunschträume gehen in Richtung katholischer Gottesstaaten. „Dignitatis Humanae“, die rechte Kaderschmiede des ehemaligen Trump-Beraters Steve Bannon,[16] kann genauso als ein Vorgeschmack dieser Entwicklung gelten wie das texanische Megaprojekt Veritatis Splendor.[17] Diese Bewegungen werden vor allem von Laien getragen, aber in ihnen gibt es auch hochrangige katholische Würdenträger. Einige gehen auf Tuchfühlung mit antidemokratischen Staatschefs und in offene Opposition zu modernen Rechtsstaaten. Auch wenn es für manche anders aussehen mag, aber eine Kirche, die diesen Weg wählt, hat mit der katholischen Kirche der Vergangenheit nicht mehr viel gemein. Denn der kirchliche Autoritarismus vergangener Jahrhunderte war die längste Zeit über reine Zeitgeistanpassung, die es Bischöfen erlaubte, auf Augenhöhe mit weltlichen Mächten zu sein. Diesen Autoritarismus heute anachronistisch fortzusetzen, völlig ungeachtet der historischen, wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen der vergangenen 100 Jahre, würde die Kirche endgültig in ein ebenso trauriges wie gefährliches weltpolitisches und soziales Abseits führen.

Demgegenüber stehen eine wachsende Schar von Laien, große Teile der akademischen Theologie und nicht zuletzt Kleriker, die seit Jahrzehnten dafür eintreten, die gleiche Würde aller Gläubigen in Form gleicher Rechte für alle Gläubigen umzusetzen.[18] Einige von ihnen sind durch die Erschütterung über sexualisierte Gewalt in ihrer Kirche aufgerüttelt worden.[19] Diese innerkirchlichen Demokratisierungs- und Emanzipationsbewegungen sind, anders als führende Kleriker bisweilen behaupten, nicht nur politisch motiviert, sondern möchten aus ihrer religiösen Überzeugung heraus verfassungsmäßig umgesetzt sehen, was den Kern des christlichen Glaubens ausmacht: die Gottebenbildlichkeit aller Menschen. Würde die Kirche diesen Weg beschreiten, müsste sie in letzter Konsequenz das Ständesystem abschaffen und sich eine neue Verfassung nach rechtsstaatlichen Standards geben. Das ist aus politischen Gründen nicht zu erwarten, denn die einzigen zur Umsetzung einer solchen Reform befugten kirchlichen Machthaber, der Papst, seine Römische Kurie und das Bischofskollegium, müssten ihre eigene Entmachtung beschließen oder ihr zustimmen. Auch dieses Szenario wäre also das Ende der Kirche, wie wir sie kannten. Zugleich aber wäre eine solche tiefgreifende Reform die logische institutionelle Voraussetzung für eine glaubhafte Missbrauchsaufarbeitung und der einzige Weg der katholischen Kirche in eine gute Zukunft.

Am wahrscheinlichsten ist aber wohl ein drittes Szenario: Immer mehr Menschen werden die Kirche ganz verlassen, und diejenigen, die bleiben, werden sich zunehmend zwischen dem autoritären und dem egalitären Spektrum innerhalb der Kirche aufteilen – solange bis das institutionelle Gefüge der katholischen Kirche vollends dysfunktional geworden ist, weil weder Autoritäre noch Egalitäre bereit sind, die geltenden Regeln oder die Autorität der amtierenden Machthaber anzuerkennen. Am Ende wird es eine unüberschaubare Vielzahl katholischer Splittergruppen geben – einige von der institutionalisierten Kirche abgespalten, andere formal noch zugehörig –, die alle ihre eigenen Regeln schaffen und ihren eigenen Autoritäten folgen. Teilweise ist das heute schon der Fall. Was so am Ende bleibt, ist die Frage, ob der Glaube katholischer Christinnen und Christen den institutionellen Kollaps dieser Kirche überleben wird und auf welche Form von Aufklärung und Wiedergutmachung jene Menschen hoffen können, die in dieser Kirche gelitten haben.

[1] Vgl. Gutachten: Pflichtverletzungen von Diözesanverantwortlichen im Erzbistum Köln im Umgang mit Fällen sexuellen Missbrauchs zwischen 1975 und 2018, https//mam.erzbistum-koeln.de, 18.3.2021.

[2] Schon viele Jahre zuvor hatten unter anderem Uta Ranke-Heinemann und Hans Küng, die beiden jüngst verstorbenen großen Kirchenkritiker, klar gesehen, wie schwer angeschlagen die katholische Kirche tatsächlich war: Uta Ranke-Heinemann, Papst Benedikt oder Die große Täuschung. Sexueller Missbrauch und die Geheimschreiben des Vatikan, in: „Blätter“, 4/2010, S. 43-50; Hans Küng, Die todkranke Kirche, in: „Blätter“, 11/2011, S. 39-48. Zur Rolle von Joseph Ratzinger vgl. auch Doris Reisinger und Christoph Röhl, Nur die Wahrheit rettet. Der Missbrauch in der katholischen Kirche und das System Ratzinger, München 2021.

[3] Vgl. Deutschlandfunk Thema vom 23.3.2021: Warum das zurückgehaltene Gutachten brisant ist.

[4] Vgl. Sex charges against priest embroil Louisiana parents, in: „The New York Times“, 20.6.1985.

[5] Vgl. zu den Fällen: Church allowed abuse by priest for years, www.bostonglobe.com, 6.1.2002; Shanley’s revord long ignored, archive.boston.com, 4.9.2002; Ratzinger & der pädophile Priester, correctiv.org, 18.2.2020, Raoul Löbbert, Die Schuld des Kardinals, www.zeit.de, 10.12.2020; das erste „Spotlight“: Die Groer-Affäre als historischer Tabubruch, www.profil.at, 12.3.2016. .

[6] Vgl. Meet the man who could be the first black pope, https://amanpour.blogs.cnn.com, 2.12.2013.https://amanpour.blogs.cnn.com/2013/02/12/meet-the-man-who-could-be-the… Übrigens galt Peter Turkson im letzten Konklave immerhin als Papabile. Man wird seine Position nicht als absolute Nischenmeinung bezeichnen können.

[7] Im Jahr 2002 Kardinal George Pell, damals Erzbischof von Sydney: Cardinal George Pell Of Australia Is Convicted Of Child Sex Abuse, www.npr.org, 26.2.2019, und 2019 Kardinal Antonio Canizares, damals Präfekt der Gottesdienstkongregation: Abortion worse than child abuse, says Vatican figure, www.irishtimes.com, 29.5.2009.

[8] Vgl. Christiane Florin, Zwei Priester, zwei Bischöfe und das Trauma der Karin W., www.deutschlandfunk.de, 23.2.2021. Ein anderer Fall ist im Pennsylvania Grand Jury Report dokumentiert: Report: Timlin helped cover up rape, abortion, www.timesleader.com, 14.8.2018.

[9] Vgl. Carole Holohan, In Plain Sight. Responding to the Ferns, Ryan, Murphy and Cloyne Reports, Amnesty International Ireland, September 2011, www.amnesty.ie, Enda Kenny speech on Cloyne Report, www.rte.ie, 20.7.2011 sowie SNAP v. the Pope, et al., www.ccrjustice.org.

[10] Bernhard Sven Anuth im Gespräch mit Christiane Florin: „Dem Kirchenrecht fehlt die Opferperspektive“, www.deutschlandfunk.de, 12.3.2021.

[11] Missbrauch: Franziskus hebt „päpstliches Geheimnis“ auf, www.vaticannews.va, 17.12.2019. Als päpstliches Geheimnis (lateinisch: secretum pontificium) wird eine Schutzmaßnahme innerhalb der Römischen Kurie bezeichnet, wonach bestimmte kircheninterne Vorgänge strenger Geheimhaltungspflicht unterliegen.

[12] Vgl. The Archbishop of Dublin challenges the Church, www.cbsnews.com, 4.3.2012.

[13] Can. 331 CIC 1983.

[14] Dazu forscht unter anderem die Theologin Sonja Angelika Strube, vgl. „Schockierende Beobachtungen“, www.katholisch.de, 26.6.2015.

[15] Costanza Miriano, Sposati e sii sottomessa, Florenz 2011.

[16] Vgl. Matthias Rüb, Bannons „Kaderschmiede“ behauptet sich vor Gericht, www.faz.net, 29.5.2020.

[17] Vgl. Rachel Amiri, What‘s Motivation the Co-Founders of Veritatis Splendor?, www.wherepeteris.com, 4.3.2021 sowie www.splendorhq.com.

[18] Vgl. dazu u.a. Britta Baas, Maria 2.0: Götterdämmerung auf Katholisch, in: „Blätter“, 1/2020, S. 17-20. – D. Red.

[19] Die angemessene Aufklärung von sexualisierter Gewalt gegen Kinder ist ein Grundanliegen der Bewegung Maria 2.0: www.mariazweipunktnull.de/thesenanschlag-2-0.

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