
Bild: Eine Migrantenfamilie pendelt zwischen Mexiko und den USA hin und her. Derzeit leben mehr als 12.000 Migranten unter einer Brücke in Del Rio, Texas, holen sich aber Vorräte, wie z.B. Lebensmittel, aus Mexiko. 22.9.2021 (IMAGO / ZUMA Wire)
Wir erleben gerade eine welthistorische Zäsur. Das Ende des internationalen Afghanistan-Einsatzes stellt viele Vorstellungen des westlichen Weltverständnisses in Frage. Wenn sich heute die Menschenrechte und der Westen als zwei verschiedene Dinge erweisen und wir vor der Erkenntnis stehen, dass Menschenrechte nicht von außen oktroyiert und als Nebenprodukt einer Intervention, die eigentlich andere Ziele verfolgt, eingeführt werden können, dann müssen wir unseren Begriff der Menschenrechte „entwestlichen“ und dekolonisieren. Das ist ein guter Anlass, noch einmal mit anderen Augen auf Haiti zu schauen. Denn das Land ist nicht nur ein Ort exemplarischer westlicher humanitärer Interventionen, die angesichts der jüngsten Entwicklung genauso vor dem Scheitern stehen wie der „Krieg gegen den Terror“ in Afghanistan. Haiti birgt auch ein welthistorisches Ereignis, das die Moderne mit ihren Ideen der Emanzipation und Aufklärung erst zu einer universellen Möglichkeit machte: Die haitianische Revolution, die 1791 als Sklavenaufstand in der französischen Kolonie Saint-Domingue begann und 1804 mit der Abschaffung der Sklaverei und der Gründung des Staates Haiti endete – des ersten unabhängigen, durch ehemalige Sklaven geformten Staates Lateinamerikas. Wenn wir die Menschenrechte als einen Vorschlag verstehen, die Welt im Ganzen zu ändern, dann müssen wir die haitianische Revolution – neben der Französischen und amerikanischen Revolution – als eigenes drittes, die Moderne bedingendes Ereignis in ihr Recht setzen und in die kollektive Weltgeschichte einschreiben.
Genau das Gegenteil aber geschieht gegenwärtig in der medialen Berichterstattung: Hier gilt Haiti als aufgegebener Fall. Das Land, das sich eine Insel mit der Dominikanische Republik, dem Urlaubsparadies der globalen Mittelschichten teilt, ist nur noch für Katastrophenmeldungen gut. Nach dem verheerenden Erdbeben von 2010, bei dem mehrere hunderttausend Menschen (die Zahlen schwanken zwischen 200 000 und 300 000) ums Leben kamen, gab es noch drei Anlässe zur Berichterstattung in den Medien des globalen Nordens: der verheerende Hurrikan „Matthew“ 2016, die bis heute nicht aufgeklärte Ermordung des haitianischen Präsidenten Jovenel Moïse Anfang Juli 2021 und das Erdbeben im August 2021 im Süden Haitis, bei dem über 2000 Menschen ums Leben kamen, mehrere tausend verwundet und 50 000 Häuser zerstört wurden. Dass heute von der Karibikinsel fast ausschließlich berichtet wird, wenn sich eine Katastrophe ereignet, ist kein Zufall, sondern die ständige Überschreibung der haitianischen Revolution als eines Weltereignisses.
Ein Präsidentenmord unter den Augen der internationalen Gemeinschaft
Wie sehr dabei der westlich-koloniale Blick die Berichterstattung über Haiti prägt, zeigt sich exemplarisch an einem aufwändig recherchierten Artikel des „Spiegel“ über den Mord an Präsident Jovenel Moïse.[1] Dabei ist nicht so sehr interessant, was das Nachrichtenmagazin erzählt: nämlich das auf die Spitze getriebene übliche Klischee von korrupten Politikern und Gangstern in Haiti. Interessant ist eher, was nicht erzählt wird: jeder Kontext, der diese Geschichte über Haiti hinaus hätte erklären können. Man hätte erzählen können, ja müssen, dass dieses für die Haitianer schockierende Ereignis nicht nur unter den Augen der internationalen Gemeinschaft stattfand, sondern für diese auch absehbar war. Denn Haiti ist finanziell vollkommen von der sogenannten Core Group abhängig, die sich infolge des Erdbebens von 2010 gebildet hat und seither die Geschicke des Landes lenkt. Sie besteht aus den USA, Kanada, der UNO, der EU, Frankreich sowie nicht zuletzt Deutschland. Sie entscheidet, ob, wann und wie viele Mittel die haitianische Regierung erhält und wer nach einer Tat wie der Ermordung des Präsidenten, den sie bis zum Schluss gegen die gesamte politische und zivilgesellschaftliche Opposition in Haiti unterstützte, Interimspräsident wird.[2] Damit ist die Core Group zur entscheidenden Größe in der haitianischen Politik geworden. Nichts in Haiti lässt sich nur aus dem Land heraus erklären, wenn Verwaltung und Macht quasi in ihrer Hand liegen.
Das zeigt sich besonders, seit Haiti von einer großen Aufstandswelle erfasst wurde, die 2018 begann und bis in die Diaspora reicht. Bei Demonstrationen und Streiks, auf Barrikaden, ja sogar in Gottesdiensten in den wichtigsten Kirchen des Landes forderten die Menschen seither die Absetzung von Präsident Moïse wegen nachgewiesener Korruptionsvorwürfe. Einzig die in Haiti operierenden Gangs und die Core Group hielten an ihm fest. Selbst als Moïse ab Februar 2021 nur noch per Dekret und ohne Parlament regierte, änderte die internationale Gemeinschaft ihren Kurs nicht. Moïse, der mittlerweile die Gangs aus den Elendsvierteln mit Waffen und Munition versorgt hatte, um politische Gegner stillzustellen, galt in den Augen der Biden-Administration vielmehr als die einzig mögliche Option, um Haiti zu „stabilisieren“. Doch von Stabilität kann keine Rede sein: Seit 2018 haben in Haiti 13 Massaker stattgefunden, wurden wichtige Oppositionelle und Journalisten ermordet. Im Bericht des haitianischen Menschenrechtsnetzwerkes Réseau National de Défense des Droits Humains (RNDDH)[3] ist gar von der „Gangsterisierung des Landes“ die Rede, die unter seiner Präsidentschaft stattgefunden habe.
Das Erdbeben von 2021 oder Déjà-vu eines ausgelieferten Landes
Auch die Bilder vom Erdbeben, das sich kurze Zeit später im August 2021 in dem Inselstaat ereignete und weltweit eine Welle von Mitleid hervorrief – man könnte fast von einem globalen Reflex sprechen –, bedienten das Narrativ vom armen, hilflosen Haiti. Die hohe Zahl an Toten und Verletzten, die vielen Obdachlosen sind tatsächlich erschütternd. Das gilt umso mehr, weil sie zeigen, dass sich nach dem verheerenden Erdbeben von 2010 offenkundig nichts geändert hat. Nach wie vor fehlt in Haiti – das zwar auf derselben tektonischen Plattenverschiebung liegt wie Japan, aber anders als dieses 200 Jahre von Erdbeben verschon blieb – das generationenübergreifende Wissen über Methoden und Notwendigkeit von Präventionsmaßnahmen. Trotz der milliardenschweren humanitären Hilfe, die in der Folge des Bebens von 2010 ins Land floss, sind das Land und die Menschen solchen Naturkatastrophen weiterhin hilflos ausgeliefert. Das jüngste Erdbeben, dem laut Seismologen weitere folgen werden, ereignete sich in einer ländlich geprägten Region, weshalb über 2000 Tote eine vergleichsweise hohe Zahl ist. Wie viele Menschen wirklich ums Leben gekommen sind, wird man jedoch nie erfahren. Denn Geburtenregister funktionieren wie alle Institutionen in Haiti nicht gut und der verfrühte Tod, den der Philosoph Achille Mbembe als eine Form der „Nekropolitik“[4] bezeichnet, ist ein ständiger Begleiter des haitianischen Lebens. Haiti gehört zu den Ländern mit der niedrigsten Lebenserwartung überhaupt. Dass die Dörfer der Bergregionen, in denen viele Menschen ums Leben kamen, nach dem Erdbeben völlig abgeschnitten waren, hat wiederum mit der verflochtenen Weltgeschichte zu tun: Denn Haitis gebirgige Landschaft, die sich von der Karibikküste aus in Landesinnere entfaltet, ist fast komplett entwaldet. Die Bäume verließen das Land schon Ende des 19. Jahrhunderts: Sie wurden gefällt, um die Schulden zurückzuzahlen, die Haiti gleich nach der Unabhängigkeit zur Entschädigung der Kolonisten aufgebürdet worden waren. Wenn die Hurrikan-Saison beginnt, verwandeln sich in diesen entwaldeten Regionen ansonsten passierbare ausgetrocknete Flussbetten in gurgelnde Ströme, die alles mit sich reißen, was ihnen in den Weg kommt. Dass das Land derart verletzlich gegenüber natürlichen Katastrophen ist, liegt zwar auch an den klimatisch-geographischen Bedingungen der Tropeninsel. Doch es ist vor allem der Klimawandel, der seine Wirkung in Haiti auf besonders fatale Weise entfaltet. Tropenstürme haben zugenommen, sind heftiger und unberechenbarer geworden. Und obwohl das Land an der ökologischen Krise kaum einen Anteil hat, zählt es zu den fünf Ländern der Welt, die dem Klimawandel am heftigsten ausgesetzt sind.[5]
Warum aber hilft die Hilfe nicht, die dem Land nicht erst seit dem Beben von 2010 zuteil wird?
Haiti ist seit 1990 Gegenstand internationaler Hilfsbemühungen. Damals wurde der erste frei gewählte Präsident Jean-Bertrand Aristide von Anhängern des Duvalier-Regimes, das fast 50 Jahre lang die Menschen grausam unterdrückt hatte, weggeputscht. Aristide floh in die USA, die in der Folge die Zusammenarbeit mit den Putschisten boykottierten. Die anschließende humanitäre Krise wurde durch die Arbeit internationaler Hilfsorganisationen aufgefangen, darunter viele christlich-missionarische Organisationen aus den USA. Seither gilt das Land als Republik der NGOs, der Nichtregierungsorganisationen.
Weltrekord im Scheitern
Als Aristide mit Hilfe des damaligen US-Präsidenten Bill Clinton vier Jahre später nach Haiti zurückkehrte, traf er nicht nur auf ein von Hilfsorganisationen auf gut verkäufliche Spendenprojekte – gerne solche, die sich um das Wohl der Kinder kümmern – zugerichtetes Land, sondern musste eine bedingungslose Marktöffnung für landwirtschaftliche Produkte durchsetzen. Die Folgen für die einheimische Ökonomie waren fatal: Die das Land versorgende Reisproduktion brach zusammen, Bauern verarmten und mussten in die Stadt ziehen. Der Ballungsraum von Port-au-Prince, das unter Duvalier 700 000 Einwohner hatte, wuchs mit den Bidonvilles, den Elendsvierteln, auf heute 2,3 Millionen Menschen an. 2004 wurde ebenjener Aristide, der sich mittlerweile vom Befreiungstheologen zum Autokraten gewandelt hatte, von Frankreich und den USA abgesetzt. Der Anlass allerdings war seine – erfolglose – Forderung nach Rückzahlung der illegitimen Schulden, die Haiti von 1826 bis kurz nach dem Zweiten Weltkrieg als Entschädigung für die im Zuge der Revolution von weißen Siedlern enteigneten Plantagen an internationale Banken zahlen musste.[6]
Mit der Absetzung Aristides begann der bisher längste Einsatz von UN-Interventionstruppen, der MINUSTAH. Er dauerte bis 2017, kostete täglich eine Million US-Dollar und markierte den Beginn eines regelrechten humanitären Interventionismus. Ricardo Seitenfus, brasilianischer Völkerrechtler und von 2010 bis zu seiner Absetzung 2011 Chef der Mission der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) in Haiti, schrieb in der haitianischen Tageszeitung „Le Nouvellist“: „30 Jahre, zehn internationale Missionen und 30 Mrd. Dollar später hält Haiti den Weltrekord im Scheitern.“[7] Sich diesen gescheiterten humanitären Interventionismus etwas genauer anzuschauen, ist auch ein Unterfangen, das westliche Weltverständnis zu dekolonisieren.
Betrachtet man die haitianische Krise heute, so stößt man neben der geschilderten Geschichte der Neoliberalisierung einer verwundbaren halben Insel unweigerlich auch auf die Folgen des Erdbebens von 2010 und seiner Bewältigung.
Das Erdbeben von 2010 oder die Industrie der Entmächtigung
Mit dem Beben begann ein neues Kapitel des humanitären Interventionismus. Nachdem in Port-au-Prince und der Kleinstadt Leogane – dem Epizentrum – unzählige Menschen ums Leben gekommen waren und alle Institutionen, vom Präsidentenpalast bis hin zur wichtigen Universität des Landes, in Schutt und Asche lagen, schien dieser größte Hilfseinsatz der Welt gerechtfertigt und nötig. Für die internationale Hilfe, die Vereinten Nationen sowie die „internationale Gemeinschaft“ wurde der Haiti-Einsatz deshalb zu einem Lackmus-Test ihrer Fähigkeit, schnell und effektiv zu helfen. Die während des Tsunami von 2004 gesammelten Erfahrungen, die in einem neuen, „professionelleren“ Humanitarismus zusammengeführt wurden, sollten in Haiti nun in der Praxis erprobt werden. Der Sonderbeauftragte der Vereinten Nationen für die Erdbebenhilfe, Bill Clinton, versprach: „Wir werden Haiti besser wiederaufbauen.“
Elf Jahre später ist von dem Versprechen nichts Wirklichkeit geworden. Im Gegenteil: Die Gangsterisierung Haitis ist nicht nur die Folge der jahrhundertelangen Marginalisierung und Isolierung des Landes, sondern auch und nicht zuletzt der humanitären Intervention nach dem Erdbeben. Sie fügte dieser Geschichte ein weiteres Menetekel hinzu: Haiti ist heute ein paradigmatisches Bespiel für die Verwaltung einer No-go-Zone, in der es nur noch um die Abwehr von Flüchtlingen und die Verwaltung von Arbeitskräften geht. Die Grundsteine dafür wurden gleich nach dem Erdbeben von 2010 gelegt. Die Interimskommission zum Wiederaufbau von Haiti unter Bill Clinton, dem UN-Sonderbeauftragten und dem haitianischen Ministerpräsidenten Max Bellerive, der allerdings systematisch übergangen wurde, hatte sich eine dringend nötige Dezentralisierung und einen institutionellen Aufbau und Wiederaufbau vorgenommen – ein Programm für die nächsten 30 Jahre. Doch schon nach anderthalb Jahren gab Clinton das Projekt auf. Die USA, der unumstrittene Hegemon in Haiti, setzten stattdessen auf Präsidentschaftswahlen, aus denen – bei einer Wahlbeteiligung von nur knapp 25 Prozent und massiven Vorwürfen der Wahlfälschung – ein von ihnen ausgesuchter Kandidat als Sieger hervorging: der Sänger Michel Martelly. Sein Wahlslogan lautete: „Haiti is open for business“, in Haiti lassen sich gute Geschäfte machen. Und genau dieser Slogan wurde umgesetzt. Statt einen nachhaltigen Wiederaufbau einzuleiten, der auch öffentliche Institutionen hätte umfassen müssen, wurde dieser fortan zu einem Geschäft. Der ungebrochene Glaube an die Heilkraft des Marktes ersetzte die Arbeit der Interimskommission, die man doch wenigstens für gescheiterte Maßnahmen zur Verantwortung hätte ziehen können. So wanderte das Geld in private Unternehmen, allen voran ins Baugeschäft – die Unternehmen kamen aus den USA, Kanada, Brasilien und der Dominikanischen Republik, unter ihnen auch der Baukonzern Odebrecht, eines der korruptesten Unternehmen Lateinamerikas, das in vielen Ländern nachweislich die Politik schmierte – oder in die Hände von zehntausenden Nichtregierungsorganisationen, die mit guten und weniger guten Projekten nach Gutdünken ihre jeweils eigene Agenda verfolgten. Im Ergebnis wurde der Schutt weggeräumt, verschwanden die Zeltstädte der Obdachlosen aus Port-au-Prince, gibt es einen hübschen Flughafen und viele gescheiterte Großprojekte wie einen Exporthafen in Caracol, der nie gebaut wurde. Das haitianische Menschenrechtsnetzwerk RNDDH hat in seinen Studien zur Verwendung der Erdbebengelder festgestellt, dass 80 Prozent der Mittel in die Geberländer zurückflossen.[8] Die Kosten der Militäreinsätze schlugen dabei genauso zu Buche wie die hohen Gehälter der Expats, der internationalen Mitarbeiter. Die Opfer der Katastrophe wurden mit geringen Geldsummen aus den Lagern gelockt oder in eine neu entstandene Elendsstadt außerhalb der Hauptstadt verbracht: 300 000 Menschen leben seither in Canaan in provisorischen Hütten, denen die versprochenen festen Häuser nie folgten.
Der US-Anthropologe Mark Schuller, einer der besten Kenner Haitis, bezeichnete die Folgen dieses milliardenschweren internationalen Einsatzes als weitere, nun „humanitäre Nachbeben“. Eine der tödlichsten Naturkatastrophen, die jemals in der Geschichte der Menschheit registriert wurde, war eigentlich eine „Katastrophe in zwei Phasen“: das Erdbeben selbst und die Antwort der Hilfe, „die eine Reihe unerwünschte Folgen hatte, darunter die Zerstörung der soziokulturellen Institutionen Haitis und eine wachsende Gewalt“.[9] Die Hybris des humanitären Einsatzes der Nichtregierungsorganisationen, der parastaatlichen und staatlichen Institutionen bestand darin, dass die allermeisten glaubten, wirklich zu wissen, was gut für Haiti und seine Bewohnerinnen und Bewohner sei. Ausgestattet mit enorm viel Geld wurde das Hilfsbusiness dabei jedoch zu einer Industrie der Entmächtigung. Unter den meisten dieser Akteure herrschte eine Tabula-Rasa-Mentaliltät, ganz so, als läge nichts Eigenes in Haiti vor. „Nach der haitianischen Erfahrung muss man festhalten, dass die Hilfe die Widerspiegelung des Kolonialismus und eine postkoloniale Zeitbombe darstellt“, so Mark Schuller.[10]
Was derzeit bleibt, sind trotzige Appelle an die US-Politik. Der Menschenrechtler Pierre Esperance schrieb zwei Tage nach dem Präsidentenmord in „Just security“, dass dieser kriminelle Akt ein unübersehbares Zeichen sei: „Die Vereinigten Staaten müssen ihre Politik gegenüber Haiti beenden.“ In diesem Zustand extremer Unsicherheit müsse die Biden-Administration Bedingungen schaffen, wie „wir, die Haitianer, und nicht die USA und die internationale Gemeinschaft die Zukunft unseres Landes entscheiden und die Demokratie und grundlegende Menschenrechte gewährleisten können“.[11] Ob es dazu kommt? Ein auf sein Ende hin unberechenbarer Prozess in Haiti ist für die ausländischen Mächte, insbesondere die USA und ihr Interesse an der Fluchtabwehr, kaum denkbar. Man hält Präsidenten, die sich auf Gangs stützen, und Politiker, die man schmieren kann, für zuverlässiger, um das Land in diesem Sinne zu „stabilisieren“. Der kamerunische Denker Achille Mbembe bezeichnet diese Politik auch als „Fernmanagement von No-go-Zonen“, die angesichts des Extraktivismus und der Finanzialisierung der Weltökonomie immer weiter zunähmen.[12] Die haitianische Entwicklung ist das Sinnbild einer solchen neuen „Landkarte der Entwicklung“, die Mbembe zufolge im Entstehen begriffen ist. Danach gibt es nur noch zwei Entwicklungsalternativen: „Eine Welt im Dauernotstand oder eine strukturelle Transformation der Gesellschaft und der Menschheit als Ganzes“.
Während die haitianische Wirklichkeit derart von extremer Hoffnungslosigkeit geprägt ist, nimmt die haitianische Revolution in den gegenwärtigen Debatten um einen neuen, vom Eurozentrismus befreiten Universalismus eine zentrale Rolle ein. In dem Maße, indem nun auf geradezu erschreckende Weise deutlich wird, dass die emanzipatorische Idee des Menschenrechts in den vergangenen 20 Jahren des „Krieges gegen den Terror“ mehr und mehr zu einem Verblendungszusammenhang für einen westlichen Interventionismus geworden ist, der seine Versprechen nicht einhalten konnte, sind die haitianische Revolution und ihre Verleugnung als Ereignis der Moderne wieder in das Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Ihre Neubewertung steht an, nicht für die Denkerinnen und Denker des globalen Südens – für Frantz Fanon und Aimé Césaire war sie immer Ausgangspunkt schwarzer Emanzipation –, sondern im globalen Norden. Die „Sklaverei-Moderne“[13], die 500 Jahre lang die Ausbeutung des Südens mit ihrer „zivilisatorischen Überlegenheit“ begründete, steht angesichts der Klimakatastrophe vor der Aufgabe, sich selbst zu überwinden. Ein dekolonisiertes globales Verständnis aber wird die haitianische Revolution, die Abschaffung der Sklaverei durch die Sklaven selbst, nicht mehr nur als Nachahmung der Französischen Revolution begreifen. Allein die Tatsache ihrer systematischen Verleugnung weist ihr einen eigenständigen Platz in der Geschichte der Moderne zu. „Wir können es uns nicht erlauben, die Katastrophe des postrevolutionären Haitis überzudeterminieren und uns so ein Verständnis zu einem der radikalsten Versuche zu entsagen, die Gleichheit der ‚Rassen‘ und die Befreiung von der Sklaverei auf die Agenda der Moderne zu setzen“, schreibt die US-Literaturwissenschaftlerin Sibylle Fischer.[14] Wenn aber diese Geschichte der Verleugnung des haitianischen Ereignisses wesentlicher Bestandteil eines weißen Überlegenheitsdenkens ist, das sich angesichts der kommenden Katastrophen selbst abschaffen muss, dann verdienen auch die aktuellen Entwicklungen in Haiti eine andere Aufmerksamkeit als ein hoffnungsloses Abwinken und Aufgeben.
[1] „Wer erteilte den Mordauftrag?“, in: „Der Spiegel“, 28.8.2021.
[2] Ende September sind Wahlen geplant. Der von der Core Group unterstützte Interims-Premierminister, der 71jährige Ex-Innenminister und Neurochirurg Ariel Henry, ist selbst in den Fokus der Mord-Ermittlungen geraten. Vgl. Interims-Regierungschef unter Verdacht, www.tagesschau.de, 15.9.2021.
[3] RNDDH, Tragic assassination of Jovenel Moïse – The president was delivered by security officials, 20.8.2021.
[4] Vgl. Achille Mbembe, Kritik der schwarzen Vernunft, Berlin 2013.
[5] Global Climate Risk Index 2021, Who suffers Most from Extreme Weather Events? Weather-related Loss Events in 2019 and 2000 to 2019, www.germanwatch.org, 2021.
[6] Wie der französische Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty gezeigt hat, ist es nie zu einer Entschädigung der Siedler gekommen, für die die Gelder angeblich erhoben worden waren. Vgl. ders., Kapital und Ideologie, München 2019.
[7] Sandra Weiss, Auf den Barrikaden, www.ipg-journal.de, 18.2.2021.
[8] Vgl. Katja Maurer und Andrea Pollmeier, Haitianische Renaissance. Der lange Kampf um postkoloniale Emanzipation, Frankfurt a. M. 2020.
[9] Mark Schuller, Humanitarian Aftershocks in Haiti, New Brunswick 2016.
[10] Katja Maurer und Andrea Pollmeier, Haitianische Renaissance, a.a.O.
[11] Pierre Esperance, An Appeal to President Biden: Change Course on Haiti Now, www.justsecurity.org, 9.7.2021.
[12] Dieses und die folgenden Zitate: Achille Mbembe, The need and desire to repair the world, Vortrag auf der medico-Konferenz „The (Re)construction of the World”, 14.2.2021, www.medico.de.
[13] Michael Zeuske, Sklaverei, Ditzingen 2018.
[14] Sybille Fischer, Modernity Disavowed, Durham 2014.