Ausgabe August 2022

Toastbrot und Scheiblettenkäse: Wie Klinikessen krank macht

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Es gibt diese Momente, die Sabine Wagner in Erinnerung rufen, weshalb sie ihren Beruf ergriffen hat. Der Patient mit schwerer Lebererkrankung, merklich mangelernährt, bescherte ihr einen solchen. Eine längere Zeit schon war die Heilung nicht vorangegangen, hatte das Ärzteteam der Klinik seine Blutwerte einfach nicht in den Griff bekommen. Dann durfte Wagner, die in Wirklichkeit einen anderen Namen trägt, ihn beraten. Sie stellte seine Ernährung um, passte Eiweißanteile an, sorgte für eine leichte Vollwertkost. Und hatte Erfolg: Der Zustand des Patienten besserte sich so schnell, dass er das Krankenhaus bereits vier Tage später verlassen konnte.

Vielleicht müssen Menschen erst selbst solche Erfahrungen machen, um zu begreifen, was gezielte Ernährungstherapie bewegen kann. Nur: Vielen der Kranken kann sie nicht helfen. Denn das Essen, das sie bräuchten, lässt sich in ihrer Klinik nicht bestellen.

Krankenhausessen genießt keinen besonders guten Ruf. Erstaunlich viele Menschen machen sich den zweifelhaften Spaß, in Blogs und auf Instagram Fotos von allem zu posten, was in Kliniken als Mahlzeit serviert wird. Mit dem Durchklicken lassen sich mühelos Stunden verbringen, die Bilder entwickeln ihre ganz eigene Faszination. Ja, sie zeigen auch kunstvoll angerichtete Teller, die optisch keine Konkurrenz mit guten Restaurants scheuen müssten. Häufig aber unzählige Tabletts mit lieblos unter Folie gepacktem, ungetoastetem Weizentoast, begleitet von einer armseligen Scheibe Käse, so blass, wie die Patient*innen hoffentlich nie sein mögen.

Sabine Wagner ist Diätassistentin an einem großen Klinikum irgendwo in Deutschland. Im Idealfall – wenn medizinisch angeordnet – beginnt ihre Arbeit mit den Patient*innen bei deren Aufnahme. Wie viele Kalorien benötigen sie? Fehlen ihnen wichtige Nährstoffe, ob Proteine, Vitamine oder anderes? Darüber spricht sie mit Betroffenen, ärztlichem und Pflegeteam und versucht, eine Kost zu organisieren, die dem Bedarf am nächsten kommt. In einer Computermaske gibt sie ein, was die Menschen zu essen bekommen sollen. Auf dieser Basis stellt der Küchenchef den Speiseplan zusammen, ein Caterer liefert die Zutaten. Doch schon hier beginnen die Probleme: Wagner hat wenig Zeit, die genauen Bedürfnisse zu ermitteln. Oft weiß sie dennoch gut, was helfen könnte – aber eben auch, dass der Caterer das nicht liefern wird. Das Angebot ist standardisiert, auf drei Menülinien beschränkt, die Komponenten erreichen die Klinik tiefgekühlt. Fordert Wagner vegetarische Kost an, weiß sie: Es gibt jeden Tag Beilage mit Soße. Einseitiger geht es kaum. „Mehr ist aufgrund der organisatorischen Belange nicht möglich“, sagt sie. Wie soll ein Mensch da gesund werden?

»Das kostet Menschenleben«

Für die Diätassistentin ist Krankenhausessen kein Luxusthema, keine bloße Wohlfühlfrage nur für die paar Tage, die die meisten Menschen im Hospital verbringen. Es ist Bestandteil der Therapie. Im besten Fall hilft die richtige Ernährung beim Gesundwerden. Im schlimmsten Fall macht eine falsche Ernährung die Menschen zusätzlich krank. Wagner findet, dass es an den Kliniken ein viel zu geringes Verständnis für die Bedeutung von Ernährung für das Wohlergehen der Kranken gibt. Und aus eigener Erfahrung sagt sie: „Was wir hier machen, kostet Menschenleben.“

Eine drastische Aussage, doch die Wissenschaft gibt ihr recht. Wer sich mit der Studienlage befasst, kommt an dieser unbequemen Wahrheit nicht vorbei: Krankenhausessen kostet nicht nur Lebensqualität, sondern auch Menschenleben. Das hat mit dem zu tun, was die Menschen am Klinikbett bekommen – und mehr noch mit dem, was sie nicht bekommen. Denn belegt ist: Mangelernährung erschwert die Heilung. Die einfachsten Mittel, um zu helfen, sind ein gutes Angebot an Standardessen und eine professionelle Ernährungstherapie für all diejenigen, die sie benötigen. Belegt ist aber auch: In den meisten deutschen Krankenhäusern passiert dies eben nicht.

Ende 2019 stellte die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) eine Warnung vor den „gravierenden Folgen“ von Mangelernährung in Krankenhäusern ins Zentrum ihres 14. Ernährungsberichts im Auftrag der Bundesregierung.[1] An einem Stichtag im Jahr 2018 hatte sie Daten von 767 Patient*innen in 48 deutschen Stationen ausgewertet: Rund 35 Prozent stufte sie als mangelernährt ein, in den Kliniken sicher als solche*r erkannt worden war davon nur jede*r Dritte. „Ein relevantes Gesundheitsproblem“, befand die DGE. Was die Kliniken mit ihren Angeboten nicht zu lösen vermochten: Viele Teller blieben nach dem Essen zu weiten Teilen voll, obwohl die Patient*innen die Kalorien dringend benötigt hätten. Darüber hinaus fehlte es bereits an den Voraussetzungen, um den Mangel zu bekämpfen: Nur in fünf der 48 Stationen, gut zehn Prozent, gab es eine Diätassistenz. In anderen europäischen Ländern, die zeitgleich Daten erhoben, waren es immerhin mehr als 60 Prozent.

Mehr als die Hälfte der Betroffenen kategorisierte die DGE sogar als schwer mangelernährt. Selbst sie erhielten nur zu einem Teil Hilfe in Form einer Ernährungsintervention, also durch gezielte Gabe hochkalorischen Essens oder jener Nährstoffe, an denen es ihnen fehlte. In ihrem Fazit läutete die ansonsten eher nüchterne DGE vergleichsweise schrill die Alarmglocke: „Ernährungsstrukturen sind nicht standardmäßig vorhanden, ein deutliches Defizit an ernährungsmedizinischer Fachkompetenz wurde aufgedeckt. Maßnahmen zur Verbesserung der Ernährungsversorgung in Krankenhäusern und Pflegeheimen sind dringend erforderlich, um der Entwicklung von Mangelernährung präventiv entgegenzuwirken und bestehende Ernährungsprobleme adäquat zu behandeln.“

Bei Klinikaufnahme: Jede*r Vierte ist mangelernährt

Neu ist der Befund keineswegs, und er beschreibt auch kein Randphänomen. Seit Jahren untersuchen Forschungsgruppen immer wieder, wie viele Patient*innen bei der Klinikaufnahme mangelernährt sind. Ihr Anteil liegt zuverlässig bei um 25 Prozent. Eine umfassende Untersuchung mit mehr als 1800 Fällen aus 13 deutschen Kliniken zeigte 2006, dass besonders viele alte Menschen sowie Menschen mit Krebs­ oder Magen-Darm-Erkrankungen betroffen sind.[2] Als mangelernährt gelten Untergewichtige, denen es an Kalorien fehlt, aber auch Menschen, die mit wichtigen Nährstoffen – Eiweiß, Vitamine, Mineralien – kritisch unterversorgt sind. Auch für Übergewichtige kann das gelten. Als klarer Hinweis auf einen Mangel gilt ein übermäßiger Gewichtsverlust in kurzer Zeit.

Dafür können Krankenhäuser zunächst nichts: Die meisten betroffenen Patient*innen sind bereits bei der Aufnahme mangelernährt. Klinikessen sollte jedoch dazu beitragen, den Mangel zu beheben – vielerorts geschieht das Gegenteil davon: Ein großer Teil der stationär Behandelten – manche Studien sprechen von drei Viertel und mehr – nimmt während des Klinikaufenthalts sogar noch deutlich ab.[3] Der Mangel verschärft sich also, und in manchen Fällen entsteht er erst dort, wo die Menschen zum Gesundwerden hingehen. Sind wir gesund und bekommt unser Körper nicht, was er benötigt, wird er schwächer, als er sein könnte. Kommt dann eine Erkrankung dazu, kann er sie schlechter bekämpfen. Das ist der Grund, weshalb Mangelernährung im Klinikalltag solche Probleme bereitet: Die Betroffenen sind anfälliger für Infekte, zeigen schwächere Immunreaktionen und eine schlechtere Wundheilung, Therapien schlagen langsamer an, es gibt häufigere und schwerere Komplikationen.

All das ist gut belegt. In einer systematischen Literaturstudie, im Juni 2021 als Entwurf veröffentlicht[4], kommt die staatliche US-amerikanische Agency for Healthcare Research and Quality zu dem Schluss: Mangelernährte Patient*innen, die auf der Intensivstation behandelt werden, müssen mit einer längeren Zeit im Krankenhaus und mehr Komplikationen rechnen, sie überleben den Klinikaufenthalt seltener als gut Ernährte. Messbar ist eine höhere Sterblichkeit insbesondere für Mangelernährte mit Herzschwäche und Zirrhose, die auf eine Transplantation warten. Andere Studien zeigen, dass Mangelernährte erst nach deutlich längerem Aufenthalt aus der Klinik entlassen werden als normal Ernährte mit denselben Erkrankungen. Sind ältere Patient*innen in der Geriatrie mangelernährt, stürzen sie häufiger, leiden stärker unter Gebrechlichkeit und funktionellen Einschränkungen. Sie sterben – altersunabhängig, häufiger im Krankenhaus als normal Ernährte.

Ein diabolischer Kreislauf

Nicht weniger dramatisch sind die Konsequenzen nicht behobener Mangelernährung bei Krebserkrankten. Als eine Studie vor wenigen Jahren mehr als 8000 Fälle aus Kanada und Europa analysierte, war das Ergebnis eindeutig: Normalgewichtige Erkrankte, die ihr Gewicht stabil halten, leben ein Vielfaches länger mit ihrer Erkrankung als Mangelernährte.[5] Allein: Die wenigsten schaffen das. Die fatalen Folgen zeigte eine österreichische Ernährungswissenschaftlerin 2021 in einer Übersichtsarbeit zur weltweiten Forschung zum Thema Mangelernährung und Krebs auf: Bis zu 20 Prozent der Patient*innen sterben demnach nicht an ihrer Krebserkrankung, sondern aufgrund von Mangelernährung.[6]

Es ist ein diabolischer Kreislauf: Eine Krankheit schwächt uns und raubt den Appetit. Sind wir krank, fällt es uns schwerer, uns mit den nötigen Nährstoffen zu versorgen. Und umgekehrt: Fehlen uns wichtige Nährstoffe, schwächt auch dies den Körper, er ist anfälliger für Erkrankungen und zieht gehemmt in den Abwehrkampf.

Um den Kreislauf zu durchbrechen, Mangelernährung zu verhindern oder schnell zu therapieren, müssten sich die meisten Kliniken anders aufstellen als heute. Wo interdisziplinäre Ernährungsteams aus Ernährungsmediziner*innen, Ökotropholog*innen und Diätassistent*innen zum Einsatz kommen, hat dies nachweislich klinisch relevante Effekte.[7] Die Teams können Mangelernährung und ihre Folgen nicht verschwinden lassen, sie können sie mit gezielten Interventionen jedoch verringern. Das verbessert das Wohlbefinden der Patient*innen.

Weil sie um die Bedeutung einer gezielten Ernährungstherapie weiß, macht Sabine Wagner häufig Überstunden. Sie bleibt dann länger bei den Patient*innen als vorgesehen, „um es gut zu machen und nicht larifari“. Für jeden, zu dem sie geschickt wird, hat sie etwa 30 Minuten Zeit, und zwar für alles: ein Erstgespräch über Situation und Bedürfnisse. Das Festlegen der geeigneten Kost und die Absprache mit ärztlichem und pflegerischem Team sowie mit dem Küchenchef. Und die Beratung der Betroffenen. „Die Zeit reicht eigentlich nie“, sagt sie. Wagner ist gut ausgebildet, seit vielen Jahren im Beruf – und verbringt trotzdem einen großen Teil ihrer Zeit mit Hilfsarbeiten in der Küche. Für das Krankenhaus geht es ums Geld: je einfacher die Tätigkeiten, umso niedriger auch die Eingruppierung beim Gehalt.

Hilfsarbeiten statt Ernährungsberatung

Beim Verband der Diätassistenten (VDD) sind die Probleme allzu gut bekannt. Viele der meist weiblichen Berufskolleginnen in den Kliniken sind nicht dem medizinischen Bereich zugeordnet, sondern der Kostenstelle Küche. Ein „Fehler im System“, meint VDD­-Geschäftsführerin Evelyn Beyer-Reiners. Denn wenn die Diätassistent*innen Patient*innen beraten, bringen sie den Küchenverantwortlichen keinen betriebswirtschaftlichen Nutzen, sie verursachen nur Personalkosten. Hinzu kommt: Weil die Vorgesetzten häufig Verwaltungsleute sind, fehlt ihnen das Wissen und oft auch das Verständnis für Ernährungsfragen als wichtiger Teil der Therapie. Was mit Essen zu tun hat, gilt an den Kliniken vor allem als Kostenfaktor. Eine ungesunde Gemengelage angesichts des ohnehin brachialen Kostendrucks im Gesundheitssystem.

Aber müssen die Kliniken Mangelernährten nicht helfen? Gibt es keine Vorgaben? Ja und nein, die Lage ist kompliziert. Es beginnt damit, dass Mangelernährung häufig gar nicht erst erkannt wird, weil die Patient*innen bei Aufnahme daraufhin nicht untersucht werden. „Es gibt keine verbindliche Screening-Vorgabe“, beklagt Johann Ockenga, Ernährungsmediziner und Klinikdirektor der Medizinischen Klinik II im Klinikum Bremen-Mitte. Es gibt zudem keine Vorgaben für die Kliniken, in welchen Fällen sie Ernährungsinterventionen anbieten müssen. Ein Schlüssel, auf wie viele Betten ein*e Diätassistent*in kommen muss, fehlt. Es ist noch nicht einmal vorgeschrieben, dass ein Krankenhaus überhaupt eine solche Stelle einrichten muss. Der Gesetzgeber hat sich einen schlanken Fuß gemacht und überlässt es ganz der Interpretation, was der theoretische Anspruch auf alle „notwendigen“ Heilmittel im Einzelnen bedeutet.

So regiert bei der Verpflegung der Kostendruck. Er zeigt sich in Form eines massiven Personalabbaus. Gab es 1994 noch 3132 Diätassistent*innen an Kliniken[8], waren es 2019 nur noch 2403 – ein Viertel weniger in gerade einmal 25 Jahren. Auch beim Essenangebot selbst sparen die Kliniken. Rund fünf Euro geben sie laut einer Befragung von Einrichtungen im Auftrag des Deutschen Krankenhausinstituts am Tag pro Patient*in für Lebensmittel aus. Preisbereinigt gaben die Kliniken 2018 rund 14 Prozent weniger für Lebensmittel aus als noch 2006. Die Zahl der angebotenen Menülinien ist rückläufig, Snack-Automaten ersetzen Cafeterien, Küchen werden reihenweise outgesourct an Caterer oder, bei größeren Klinikverbünden, an zentrale Servicegesellschaften.[9] Doch an welcher Stelle läuft hier etwas schief? Die Kliniken wirtschaften schließlich mit unserem Beitragsgeld. Von den Krankenversicherungen erhalten sie festgelegte Summen nicht nur für die medizinische Behandlung, sondern auch für die Verpflegung. Sind sie zu gering? Oder setzen die Krankenhäuser die vorgesehenen Beträge gar nicht vollständig für Lebensmittel ein?

Konsequente Ernährungstherapie spart Kosten

Die erstaunliche Antwort ist: Niemand weiß es. Die Krankenhausfinanzierung ist an dieser Stelle ähnlich transparent wie das Agieren eines Geheimdienstes. Abhängig von den Diagnosen erhalten die Kliniken fixe Fallpauschalen. Diese festzulegen, obliegt der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen. Damit die Verbände von Krankenkassen und privaten Versicherungen auf der einen, die Deutsche Krankenhausgesellschaft auf der anderen Seite nicht im Dauerclinch über das Geld liegen, übernimmt diese Aufgabe das zwischen sie geschaltete und von beiden getragene Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus (InEK). Dazu erhält es regelmäßig von rund 300 Kliniken Angaben zu ihren tatsächlichen Ausgaben und setzt auf dieser Basis die Pauschalen fest – einschließlich eines Anteils für Essen. Nur: Wie viel die Krankenhäuser pro Patient*in für Lebensmittel ausgeben, erfährt das InEK gar nicht. Die Kliniken übermitteln diese Ausgaben als Bestandteil einer größeren Kostenstelle, vermischt mit anderen Ausgaben. Der Anteil für Lebensmittel bleibt dem Institut also verborgen, und damit auch seinen Trägern: Die Krankenkassen tappen im Dunkeln darüber, wie viel ihrer Beitragsgelder sie in die Verpflegung umleiten. Ebenso wenig erfahren die Kliniken, welcher Anteil der Pauschale für Lebensmittel angesetzt ist. Sie haben keine Möglichkeit, dieses Soll mit dem Ist im eigenen Budget abzugleichen. Das System ist damit völlig unkontrollierbar, und zwar für alle.

Hoffnung machen könnte, dass nicht nur das Essen Kosten verursacht, sondern auch die Mangelernährung. Eine Untersuchung der Unternehmensberatung Cepton von 2007 bezifferte diese Kosten allein im deutschen Gesundheitssystem auf neun Mrd. Euro[10], wovon mit fünf Mrd. der größte Teil in den Kliniken zu Buche schlägt: verursacht durch höhere Behandlungskosten und längere Aufenthalte. Dabei ließe sich mit einer konsequenten Ernährungstherapie sogar Geld sparen. Das gilt gesamtgesellschaftlich, wie die niederländische Stiftung SEO Economisch Onderzoek im Auftrag von Unikliniken und dem niederländischen Verband der Diätassistenten vorrechnete: Demnach kann eine Gesellschaft für jeden in die patientenbezogene Diätetik investierten Euro mehrere Euro zurückerhalten.[11] Es gilt aber auch betriebswirtschaftlich für jede einzelne Klinik.

Seit fast 20 Jahren rechnen deutsche Krankenhäuser inzwischen über die beschriebenen Fallpauschalen ab. Wie viel Geld sie erhalten, hängt also allein von der Diagnose ab – und nicht davon, welchen Behandlungsaufwand sie betreiben, welche Komplikationen es gibt oder wie lange Patient*innen auf der Station bleiben. Wird die Mangelernährung nicht bekämpft, ist die Behandlung der eigentlichen Erkrankung schwieriger und damit teurer. Jeder Tag, den Mangelernährte länger im Klinikbett bleiben, verursacht Kosten, die das Krankenhaus nicht erstattet bekommt.[12] Eine weitere niederländische Studie errechnete 2005, dass sich bereits mit 76 Euro für Ernährungstherapie pro Patient*in der Aufenthalt um einen Tag verkürzen lässt.[13]

Der Betrag mag seitdem gestiegen sein. An der Kosteneffizienz besteht jedoch kein Zweifel, wie weitere Studien belegen.[14] Wenn heute ein durchschnittlicher Krankenhaustag in Deutschland gut 700 Euro[15] kostet – noch mehr auf jenen Stationen, auf denen Mangelernährung so große Probleme bereitet –, wird deutlich: Es bleibt eine Menge Spielraum, um Ernährungstherapie zu finanzieren. So klar die monetären Vorteile wissenschaftlich belegt sind, so schwer sind sie betriebswirtschaftlich sichtbar zu machen. In den Büchern steht erst einmal das Investment, nicht der Return. Durch die Anreize des Fallpauschalensystems verkürzt sich die Aufenthaltsdauer der Patient*innen ohnehin – welchen Effekt da noch die Ernährungstherapie hat, ließe sich nur mit aufwändigen Studien im eigenen Hause evaluieren, doch für die fehlt meist die Zeit. Streicht die Klinik in der Küche dagegen Ausgaben zusammen, drückt sie die Preise bei ihrem Caterer, ist die Einsparung sofort sichtbar. Derselben Logik fallen Diätassistenzstellen zum Opfer, wenn sie in der Kostenstelle Küche angesiedelt sind.

Zynische Marktradikalität in Kliniken und Pflegeheimen

Die Politik könnte das ändern: Durch einen Rechtsanspruch für Patient*innen auf Ernährungstherapie. Durch verbindliche Ernährungsteams in den Kliniken, durch einen festen Schlüssel, auf wie viele Betten wie viele Diätassistenzstellen geschaffen werden müssen. Durch eine Stärkung ernährungsmedizinischer Inhalte in den Curricula und durch Lehrstühle für Ernährungsmedizin, wie es Fachgesellschaften seit langem fordern.[16]

Völlig unverbindliche Standards

Ob die Bundesregierung Maßnahmen plane, um die Ernährung in Kliniken zu verbessern und Mangelernährung vorzubeugen, war im Sommer 2020 Gegenstand einer Parlamentarischen Anfrage. Die bemerkenswerte Antwort des Bundesgesundheitsministeriums: „Für die Verpflegung sind die Kliniken im Rahmen ihrer Organisationshoheit selbst verantwortlich. Eine gesunde und patientenorientierte Verpflegung erscheint insoweit als Aspekt, bei dem sich die Krankenhäuser im Wettbewerb um die Patientinnen und Patienten in eigenem Interesse engagieren.“[17] Es sind Sätze, die zwei- bis dreimal gelesen werden wollen, bis sie ihre ganze zynische Marktradikalität offenlegen. Da erklärt das Gesundheitsministerium Mangelernährung – ein Problem, von dem Wohlergehen und Überlebenschancen von Menschen abhängen – mal eben zu einer beliebigen Frage des Wettbewerbs.

Kaum besser ist die Situation in Pflegeheimen. Jede*r vierte Bewohner*in war bei einer Befragung von freiwillig teilnehmenden Einrichtungen der DGE von Mangelernährung betroffen.[18] Dabei ist eine adäquate Ernährung im Alter besonders wichtig, denn mit höherem Alter und häufig abnehmender Mobilität sinkt der Bedarf an Energiezufuhr – nicht in gleichem Maße aber der an wichtigen Nährstoffen. Um sich gesundheitsfördernd zu ernähren, müssen Ältere annähernd die gleiche Menge Nährstoffe aus – kalorienmäßig weniger – Essen ziehen. Entsprechend leichter rutschen sie in eine Unterversorgung, die wiederum ihren Körper schwächt, anfälliger für Krankheiten macht und häufig auch Appetitlosigkeit auslöst – womit es ihnen noch zusätzlich schwerer fällt, die nötigen Nährstoffe zuzuführen

Studien zeigen: Der Mangelernährung ließe sich bereits wirksam etwas entgegensetzen, wenn die Pflegekräfte nur entsprechend ausgebildet wären.[19] Doch als sich die DGE 2018 in 69 Wohnbereichen deutscher Pflegeheime erkundigte, ob Diätassistent*innen bei ihnen tätig seien, bejahte dies nicht einmal jeder dritte. In anderen europäischen Ländern waren es 86 Prozent.[20] Das Bundesgesundheitsministerium sieht in alldem offenbar kein größeres Problem. Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung prüfe regelmäßig, ob Pflegebedürftige bedarfs- und bedürfnisgerecht ernährt würden, teilt es auf Anfrage mit. Die meisten hielten die Standards ein, und außerdem falle auch „die Verpflegung der Bewohnerinnen und Bewohner“ von Heimen „in den Verantwortungsbereich der Pflegeeinrichtung“. Ein Fortschritt wäre es bereits, wenn sich Krankenhauspatient*innen und Pflegeheimbewohner*innen darauf verlassen könnten, dass das Standardessen gewissen Mindestanforderungen genügt, es also ausgewogen zusammengestellt ist und der übliche Bedarf an Nährstoffen gedeckt wird. Genau für diesen Zweck ließ die Bundesregierung die DGE wissenschaftliche Qualitätsstandards erarbeiten[21], eine Art offizielle Anleitung, wie bedarfsgerechte, gesunde Verpflegung auszusehen hat. Die Standards haben nur einen Nachteil: Sie sind gänzlich unverbindlich. Die Einrichtungen dürfen sie anwenden, müssen es aber nicht.

Der Staat entscheidet – über das Recht und über das Essen

Richten sich die Einrichtungen nach den Empfehlungen, können sie sich von der DGE zertifizieren lassen. Doch wer – ganz im Sinne des Bundesgesundheitsministeriums, das die Einrichtungen im Qualitätswettbewerb um das beste Essenangebot wähnt – erwartet, dass sich Kliniken und Altersheime zur Eigenwerbung um die Zertifikate reißen, muss sich bitter enttäuschen lassen. Im Juni 2021 trugen es von den knapp 2000 Krankenhäusern in Deutschland gerade einmal 85, von den mehr als 1000 Reha-Einrichtungen 59. Pflegeheime weist das Statistische Bundesamt gut 15 000 aus, zertifizieren konnte die DGE gerade einmal 71 stationäre Senioreneinrichtungen. Das heißt freilich nicht, dass im Umkehrschluss alle anderen die Mindestanforderungen missachten. Es zeigt jedoch: Für die Menschen, deren Gesundheit auch vom Essensangebot abhängt, gibt es kaum eine Garantie – Qualität ist eben nicht wettbewerbsrelevant, auch wenn das Gesundheitsministerium diesen Eindruck erweckt.

In einem Restaurant mögen Koch und Kundschaft unter sich ausmachen, welche Qualität das Essen hat und wie gesund es ist. In Kliniken und Pflegeheimen liegt die Sache anders, weil das Angebot für die Menschen ohne Alternative ist und weil hier der Staat den Rahmen setzt: Mit Gesetzen und anderen Bestimmungen legt er fest, ob die Menschen in den Einrichtungen eine gesundheitsfördernde Verpflegung erhalten oder, im schlimmsten Falle, eine, die krank macht. Der Staat definiert die Vorgaben und setzt sie als Träger von Einrichtungen vielerorts selbst um. Doch ein Staat, der seine eigenen Mindeststandards systematisch unterläuft, der Mangelernährung, Krankheiten und sogar Todesfälle billigend in Kauf nimmt, erweist sich als denkbar schlechter Koch.

Der Beitrag basiert auf „Ihr macht uns krank. Die fatalen Folgen deutscher Ernährungspolitik und die Macht der Lebensmittellobby“, dem jüngsten Buch des Autors, das soeben im Econ Verlag/Ullstein Buchverlage GmbH erschienen ist

[1] Deutsche Gesellschaft für Ernährung (Hg.), 14. DGE-Ernährungs­bericht – Vorveröffentlichung Kapitel 2, Bonn 2019.

[2] Matthias Pirlich u.a., The German hospital malnutrition study, in: „Clini­cal Nutrition“, 4/2006, S. 563-572.

[3]  Vgl. etwa Carl Meißner, Malnutrition: Consequences for Clinical Outcomes in the Context of German Hospitals, in: Hans Konrad Biesalski, Adam Drewnowski und Johanna T. Dwyer (Hg.), Sustainable Nutrition in an Changing World, Cham 2017; Christian Löser, Malnutrition in hospital: the clinical and economic im­plications, in: „Deutsches Ärzteblatt International“, 51-52/2010, S. 911-917.

[4] Agency for Healthcare Research and Quality, U. S. Department of Health and Human Services (Hg.), Malnutrition in Hospitalized Adults. Draft Comparative Effectiveness Review, Rockville 2021.

[5] Lisa Martin u.a., Diagnostic criteria for the classification of cancer­ associated weight loss, in: „Journal of Clinical Oncology“, 1/2015, S. 90-99.

[6] Angelika Beirer, Malnutrition and cancer, diagnosis and treatment, in: „Magazine of European Medical Oncology“ (memo), Juni 2021, S. 168-173.

[7] Vgl. u.a. Meißner a.a.O.

[8] Gesundheitsberichterstattung des Bundes: Nichtärztliches Personal in Krankenhäusern. Fortlaufende Statistik, www.gbe-bund.de.

[9] Vgl. Deutsches Krankenhausinstitut, Verpflegungsdienstleistungen im Krankenhaus – Studie 2016. Ergebnispräsentation, www.dki.de, 9.8.2016; Ekkehart Lehmann, Auswertung der Care-Studie 2019, www.dki.de, Mai 2021.

[10] Michael C. Müller, Klaus W. Uedelhofen und Urs C.H. Wiedemann, Mangelernährung in Deutschland. Eine Studie zu den ökonomischen Auswirkungen krankheitsbedingter Mangelernährung und beispielhafte Darstellung des Nutzenbeitrags enteraler Ernährungskonzepte, München 2007. Hinzu kommen 2,6 Mrd. Euro im Heim-­ und Pflegebereich sowie 1,3 Mrd. Euro im ambulanten Sektor.

[11] Robert Scholte, Marloes Lammers und Lucy Kok, De waarde van diëtetiek bij onder­voede patiënten in het ziekenhuis, in: „SEO­rapport“, 4/2015.

[12] Vgl. Teresa Maria de Serpa Pinto Freitas Do Amaral u.a., The Economic Impact of Disease-related Mal­nutrition at Hospital Admission, in: „Clinical Nutrition“, 6/2007, S. 778-784.

[13] Hinke M. Kruizenga u.a., Effectiveness and cost-­effec­tiveness of early screening and treatment of malnourished patients, in: „The American Journal of Clinical Nutrition“, 5/2005, S. 1082-1089.

[14] Vgl. Karen Freijer u.a., The economic value of enteral medical nutrition in the management of disease­-related malnutrition: a systematic re­view, in: „Journal of the American Medical Directors Association“, 1/2014, S. 17-29.

[15]  Errechnet aus den durchschnittlichen Fallkosten von 5088 Euro und der durchschnittlichen Aufenthaltsdauer von 7,2 Tagen nach Angaben des Statistischen Bundesamtes für 2019: Pressemitteilung Nr. 194, www.destatis.de, 16.4.2021.

[16] Johannes Georg Wechsler, Anja Bosy-Westphal und Gerd Bönner, Memorandum für Lehrstühle Ernährungsmedizin, www. dgem.de, 30.3.2021.

[17] BT-Drs. 19/20695.

[18] Deutsche Gesellschaft für Ernährung (Hg.), 14. DGE-Ernährungsbericht – Vorveröffentlichung Kapitel 2, Bonn 2019.

[19] Vgl. Sílvia Fernández-Barres u.a., The efficacy of a nutrition education intervention to prevent risk of malnutrition for dependent elderly patients receiving Home Care: A randomized controlled trial, in: „International Journal of Nursing Studies“, Mai 2017, S. 131-141.

[20] Deutsche Gesellschaft für Ernährung (Hg.), 14. DGE-Ernährungsbericht, a.a.O.

[21] Deutsche Gesellschaft für Ernährung, DGE-Qualitätsstandards, www.dge.de.

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