
Bild: Eine Demonstrantin vor dem iranischen Konsulat in Istanbul, 24.10.2022 (IMAGO / ZUMA Wire)
Seit mehr als zwei Monaten dauern die Proteste im Iran bereits an und noch ist kein Ende in Sicht. Die Bilder und Videoaufnahmen, die die deutsche Öffentlichkeit aus dem Land erreichen, zeigen Demonstrationen und Auseinandersetzungen im ganzen Land. Aber auch weltweit nimmt die Kritik am iranischen Regime zu. Denn dieses geht brutal gegen die Demonstrierenden vor: Seit Beginn des Aufstands hat der iranische Staat laut Menschenrechtsorganisationen rund 15 000 Menschen inhaftiert, einige Hundert wurden von den Sicherheitskräften getötet, darunter mehr als 50 Minderjährige.[1]
Der Widerstand hat schnell ein derartiges Ausmaß angenommen, dass es im Iran oft heißt, „das sind keine Proteste mehr, sondern das ist der Beginn einer Revolution.“ Was aber ist anders an diesen Protesten? Und wohin führen sie – oder genauer: Wohin können sie überhaupt führen, angesichts der brutalen Repression des Regimes? Und schließlich: Wo ist die iranische Opposition? Das sind nur einige der vielen Fragen, die sich in den letzten Wochen in den öffentlichen Debatten im Iran und weltweit immer wieder gestellt haben.
Als die 22jährige Kurdin Zhina Mahsa Amini am 16. September starb, nachdem sie von der Sittenpolizei wegen eines angeblich nicht korrekt sitzenden Kopftuchs in Teheran in Gewahrsam genommen und dort offenbar schwer misshandelt worden war, versuchte der iranische Staat mittels massiver Propaganda, den Tod als einen Zufall darzustellen, und sprach von Herzversagen. Doch die Familie von Zhina Amini ging sofort an die Öffentlichkeit und benannte den Vorfall als das, was er ist: Ein staatlicher Femizid wegen des „Verstoßes“ der jungen Frau gegen die Zwangsverschleierungsmaßnahmen des Regimes.
Seit Jahren foltert die Sittenpolizei iranische Frauen wegen der Nichteinhaltung dieser Vorgaben. Doch dieses Mal ließ die Familie von Zhina Amini den Staat mit seiner Propaganda nicht durchkommen. Auch über eine andere Diskriminierung klärte sie auf: Zhina Amini hieß deswegen Mahsa, weil der Staat Kurd*innen oft nicht erlaubt, sich kurdisch klingende Namen für ihre Kinder auszusuchen. Die kurdische Zivilgesellschaft, die über jahrzehntelange Erfahrungen im Kampf gegen den Terror des iranischen Regimes verfügt, organisierte nach dem Mord an Amini prompt Proteste und Streiks, zunächst in Kurdistan und später im ganzen Land. Bei der Beerdigung von Zhina Amini legten Frauen kollektiv ihre Kopftücher ab und riefen: „Mord wegen der Verschleierung, wie lange diese Erniedrigung?“ Einmalig in der Geschichte des Irans war nicht nur, dass die Frauen ihre Kopftücher kollektiv als Protest ablegten, sondern auch, dass Männer dabeistanden und sie unterstützten.
Es ist wichtig zu verstehen, dass der ganze Aufruhr wegen des Mordes an Zhina Amini zu einem Zeitpunkt entstand, als die iranische Gesellschaft bereits wegen eines ähnlich gelagerten Falls angespannt war: dem von Sepideh Rashno. Die Frau war ein paar Wochen zuvor wegen ihres Widerstands gegen die Zwangsverschleierung von den Revolutionsgarden festgenommen und gefoltert worden. Zuvor hatte eine andere Frau Sepideh Rashno in einem öffentlichen Bus angegriffen, sie mit ihrem Handy gefilmt und ihr angedroht, sie bei den Revolutionsgarden anzuzeigen, weil sie ihr Kopftuch nicht trug. Sepideh Rashno wiederum filmte ihre Angreiferin, und beide Frauen schickten die Videos in die Welt. Sepideh Rashno wurde daraufhin festgenommen und gezwungen, im staatlichen Fernsehen gegen sich selbst auszusagen. Als ihr Zwangsgeständnis ausgestrahlt wurde, berichteten Ärzte, dass sie zuvor aufgrund von Folter ins Krankenhaus eingeliefert worden war. Die Wunden in ihrem Gesicht waren während ihres erzwungenen Geständnisses noch sichtbar.
Der Mord an Zhina Amini ereignete sich zudem kurz nach den Todesurteilen gegen zwei weitere iranische Frauen: Elham Choobdar und Sareh Sedighi, zwei LGBTQI+-Aktivistinnen, die von den Revolutionsgarden wegen ihres Engagements für die LGBTQI+-Community im Iran festgenommen worden waren. Die Urteile sind Teil einer staatlichen Offensive gegen Frauen, die sich in den letzten Jahren der Staatsgewalt widersetzt haben.
Historische Einigkeit: Der Kampf gegen das Regime
Dass nach dem staatlichen Femizid an Mahsa Zhina Amini schließlich das gesamte Land aufstand, hat aber nicht nur mit einer Genderfrage zu tun, sondern auch mit der Empörung der überwiegenden Mehrheit der iranischen Gesellschaft über die Brutalität der Gewaltmaschinerie des iranischen Staates. Das betrifft nicht nur die Zwangsverschleierung, sondern auch die Kriminalisierung aller sozialen und politischen Handlungen der iranischen Gesellschaft, die die Ordnung des Staates infrage stellen.
Die aktuelle Protestbewegung im Iran hat bereits für bislang einmalige Momente in der iranischen Geschichte gesorgt. So haben sich fast alle sozialen und politischen Bewegungen der letzten Jahre in diesem historischen Moment zu einer großen Bewegung vereint: Die Frauenbewegung geht ebenso auf die Straße wie die kurdische Bewegung, wodurch die Frage der ethnischen Minderheiten aufgeworfen wird. Studierende tragen die Proteste ebenso mit wie streikende Arbeiter*innen. Die Jugend ist ebenso rebellisch wie die sexuellen und Genderminderheiten und die Bewegung gegen Hinrichtungen. Selbst in den Gefängnissen wird protestiert. Auch die iranische Diaspora hat durch die große Demonstration am 22. Oktober in Berlin mit hunderttausend Teilnehmer*innen mehr denn je an Sichtbarkeit gewonnen. Es scheint, als seien sich die Iraner*innen im Land und weltweit erstmals darüber einig, dass das iranische Regime gestürzt werden muss. Dabei existiert der entsprechende Diskurs schon seit Jahren. Nun aber sieht man anhand der anhaltenden landesweiten Proteste erstmals, dass eine Mehrheit der iranischen Gesellschaft auch in der Lage ist, trotz der brutalen Repression des Regimes wochenlang für dieses Ziel zu kämpfen.
Neu ist auch, dass der Kampf der iranischen Frauen gegen die Zwangsverschleierung, der im Iran eine lange Geschichte hat, zum Auslöser landesweiter Proteste wurde. Und es ist auch das erste Mal in der iranischen Geschichte, dass sich Proteste, ausgehend von Kurdistan, verbreitet haben. Nicht ohne Grund wurde die kurdische Parole „Zhen, Zhian, Azadi“, „Frau, Leben, Freiheit“, im gesamten Land mit der persischen Übersetzung „Zan, Zendegie, Azadi“ von der Protestbewegung übernommen. Zum ersten Mal in der iranischen Geschichte werden landesweit aber auch Parolen wie „Kurdistan, das Auge und das Licht des Irans“ gerufen.
Tatsächlich ist es ist kein Zufall, dass das Zusammenfallen der Themen Zwangsverschleierung, staatliche Gewalt und kurdische Frage so ein enormes Potenzial entfaltet hat. Denn nach den Frauen waren die Kurd*innen eine der ersten Gruppen, die nach der Gründung der islamischen Republik von massiven Angriffen des Staates betroffen waren. Weil sie sich 1979 gegen Khomeini und seine Machtübernahme stellten, tötete der iranische Staat in den folgenden vier Jahren etwa 10 000 Menschen, darunter über tausend politische Gefangene. Seitdem hat die kurdische Gesellschaft im Iran nie aufgehört zu kämpfen – das ist auch einer der Gründe, warum fast die Hälfte aller Hinrichtungen im Iran Kurd*innen betrifft. Durch die jahrzehntelangen Kämpfe in Kurdistan verfügt die dortige Zivilgesellschaft über die Infrastruktur, aufgrund derer sie direkt nach dem Mord an Zhina Amini zu Protesten mobilisieren konnte. Damit hat sie letztlich allen sozialen Gruppen und unterdrückten Menschen im Iran die Gelegenheit verschafft, sich in einem historischen Moment gemeinsam zu artikulieren.
Auf dem Grabstein von Zhina Amini steht: „Du bist nicht gestorben, dein Name wird ein Symbol sein.“ Und tatsächlich ist ihr Name mittlerweile zu einem Symbol geworden. Er sorgt nicht zuletzt für einen Dialog zwischen gesellschaftlichen Gruppen, der vorher unmöglich schien. Als der prominente Fußballer Ali Daei – ein ehemaliger Spieler von Bayern München und Hertha BSC Berlin, der aus der türkischen Minderheit im Iran stammt – am 40. Tag nach dem Tod von Zhina Amini in deren Heimatstadt Saghez reiste, wurde er in seinem Hotel festgenommen. Es waren die Kurd*innen der Stadt, die als erste gegen seine Festnahme protestierten. So verringern die aktuellen Proteste sogar die Spaltung zwischen Kurd*innen und Türk*innen im Iran.
Es gibt jedoch noch einen weiteren Hintergrund des aktuellen Aufstands. So ist es kein Zufall, dass gegenwärtig Streiks als Protestform sehr präsent sind. Schon in den vergangenen Jahren haben Klassenkämpfe im Iran eine wichtige Rolle gespielt: Die letzten zwei großen landesweiten Aufstände in den Jahren 2017/2018 und 2019 hatten jeweils ökonomisch-politische Auslöser. Davor und danach verging kaum eine Woche, in der die Arbeiter*innen im Iran nicht gestreikt hätten. Manchmal nahmen diese Streiks landesweite Züge an, wie die Streiks der LKW-Fahrer oder der Lehrer*innen. Manche dieser Streiks sind von sehr wichtigen Wirtschaftssektoren ausgegangen, etwa der Erdölindustrie oder der Rohrzuckerproduktion. Die Kurd*innen wiederum blicken auf eine lange Tradition politischer Streiks zurück. Aktuell haben sich selbst Schüler*innen, die in den vergangenen Jahren die Streiks ihrer Lehrer*innen für kostenlose Bildung erlebten, den Streiks angeschlossen.
Die Genderfrage als Klassenfrage
Und ganz unabhängig davon ist im Iran die Genderfrage an sich bereits eine Klassenfrage. Denn nur 18 Prozent der iranischen Frauen haben einen Job – und das, obwohl über die Hälfte der Studierenden im Iran Frauen sind. Ähnliches gilt für ethnische Minderheiten wie Kurd*innen, Belutschis und andere. Sie alle sind von massiver Armut betroffen, sind sich aber zugleich darüber bewusst, dass ihre Armut auf ihre systematische Diskriminierung zurückzuführen ist. Generell ist Armut ein enormes gesellschaftliches Problem im Land: Über die Hälfte der iranischen Bevölkerung lebt mittlerweile unterhalb der Armutsschwelle, während sich die Angehörigen des Regimes bereichern.
Und schließlich ist der Umstand, dass gerade viele junge Menschen im Iran unbeirrt auf die Straßen gehen, eine Reaktion auf die massive Staatsgewalt der vergangenen Jahre. Zwar hat der iranische Staat seit seiner Gründung Jugendliche in den Gefängnissen ermordet, aber 2019 hat er erstmals gewagt, auch auf der Straße auf Kinder zu schießen. Mahboobeh Ramezani, deren Sohn Pejman Gholipoor im November 2019 vom Regime ermordet wurde, hat sich schon ein paar Monate nach diesem Mord mit einem bewegenden Satz an den Staat gewandt: „Ihr wisst schon selbst, dass euer Ende mit diesem November gekommen ist, dieser November dauert an.“ Mit diesem November meinte sie das Verbrechen des Regimes in jenem Monat, in dem bei Demonstrationen mehr als 1500 Menschen innerhalb kürzester Zeit ermordet wurden.[2]
Die Jugend im Kreuzfeuer: Die Politisierung einer Generation
Mit dieser Brutalität hat der Staat zwar die damaligen Proteste niedergeschlagen, aber zugleich dazu beigetragen, dass sich die Bewegung weiter radikalisierte. Die Ermordung von Kindern und Jugendlichen durch das Regime hat eine ganze Generation von Jugendlichen politisiert. Jetzt, nach nur drei Jahren, ist diese Generation in der Lage, ganz bewusst gegen diesen Staat zu kämpfen – und für diesen Kampf Opfer zu bringen. Vielleicht mögen die Machthaber mit der Verschärfung der Brutalität gegen die Bevölkerung kurzfristig weiterkommen. Aber wenn man bedenkt, wie regelmäßig es in den letzten Jahren im Iran zu Protesten gekommen ist, und wenn man in Betracht zieht, dass diese im Laufe der Zeit immer radikaler und umfassender wurden, stellt sich die Frage der Niederlage dieses Mal etwas weniger eindeutig. Das Regime kann die Proteste vielleicht eindämmen – völlig beseitigen kann es sie aber
nicht.
Die Jugend, die gerade mit Schlagstöcken und anderen Waffen geschlagen wird und teilweise die Ermordung von Schüler*innen in der Schule erlebt, wird nicht so schnell aufhören zu kämpfen. Die iranischen Frauen, die nun zum ersten Mal erlebt haben, dass ihr Widerstand anerkannt wird, und zwar weltweit, werden nicht so schnell aufhören zu kämpfen. Die politischen Gefangenen, die schon in den „ruhigeren“ Tagen nicht aufgegeben haben, werden nicht so schnell aufhören zu kämpfen. Und auch die Studierenden, die in den letzten Wochen immer weiter protestiert haben, wenn die Straßen leer wurden, werden nicht so schnell aufhören zu kämpfen.
Wir erleben gerade – trotz aller Härte und Kriminalisierung – eine Explosion all dieser Kämpfe: die der Studierenden, der Arbeiter*innen, der Lehrer*innen, der Frauen und der queeren Community. Es ist damit zu rechnen, dass die iranische Gesellschaft alles dafür tun wird, die Aufmerksamkeit der Welt auch weiterhin auf sich zu ziehen, denn ohne diese Aufmerksamkeit ist es viel einfacher für den Staat, die Protestierenden zu ermorden.
Hinzu kommt: Viele politische Aktivist*innen „leben“ aufgrund ihres Engagements seit Jahren in den iranischen Gefängnissen, allen voran im berüchtigten Evin-Gefängnis. Sie sind es, die eines Tages die Rolle der kollektiven Führung in einer iranischen Demokratie übernehmen könnten, wenn sie denn die Gelegenheit dazu bekommen. Damit dies wahr werden kann, bedarf es aber einer fortwährenden internationalen Unterstützung des Aufstands – und einer ernsthaften Sanktionierung des iranischen Regimes. Andernfalls könnte dieses, sobald die internationale Aufmerksamkeit nachlässt, mit noch mehr Härte gegen Protestierende wie politische Gefangene vorgehen und ein neuerliches Massaker anrichten. Das aber gilt es unbedingt zu verhindern.
[1] Amnesty meldet 330 Tote bei Protesten im Iran, www.n-tv.de, 11.11.2022.
[2] Special Report: Iran’s leader ordered crackdown on unrest – ‚Do whatever it takes to end it‘, www.reuters.com, 23.12.2019.