
Bild: Hunderte demonstrieren beim Uniklinik-Streik in Köln, 1.6.2022 (IMAGO/NurPhoto)
Während in der Urlaubssaison die Streiks des Bodenpersonals an den Flughäfen enorme mediale Resonanz erfuhren und rasch mit einem Tarifvertrag beendet wurden, fand der Ausstand der Pfleger*innen an den sechs nordrhein-westfälischen Unikliniken kaum mediale Beachtung. Dabei sind die Zustände in Normal- und Intensivstationen, Ambulanzen, Kreiß- und Operationssälen sowie Kinderstationen katastrophal, wie in dem während des Streiks entstandenen „Schwarzbuch Krankenhaus“ zu lesen ist.[1] Langjährig in ihrem Beruf Tätige, aber auch Auszubildende und Hilfskräfte zeichnen dort ein Bild der Realität in deutschen Kliniken, das einen schaudern und verstehen lässt, warum viele Beschäftigte sagen, so möchten sie selbst nicht gepflegt werden. Da wird von Patient*innen erzählt, die stundenlang in ihren Exkrementen liegen oder alleine sterben, von unterversorgten Neugeborenen, Menschen, die auf eine Operation warten und aus Personalnot alleine gelassen werden. Die Rede ist von unterbesetzten Röntgenstationen, Ambulanzen, in denen es nicht nur zu verbaler Gewalt kommt, und Nachtschichten, die von einer einzigen Kraft gestemmt werden müssen. Und es geht um Mitarbeiter*innen, denen „oft zum Heulen zumute“ ist, wenn sie nach Hause kommen, die „gerne weglaufen“ würden und vor Erschöpfung fast umfallen.
Das „Schwarzbuch“ wurde während des längsten Streiks, den das Krankenhauspersonal in Nordrhein-Westfalen je initiiert hat, fortwährend ergänzt. 79 lange Tage haben die Streikenden in Aachen, Bonn, Düsseldorf, Essen, Köln und Münster ausgeharrt, nachdem die Leitungen der Universitätskliniken ein 100tägiges Ultimatum haben verstreichen lassen. Sie erstellten Notfallpläne und sind auf Zuruf in die Klinik zurückgeeilt, wenn es nötig war. Gemeinsam entwickelten sie Forderungen – ganz eng an ihrem Arbeitsbereich und unter Einbeziehung der Kolleg*innen. Und sie reagierten mutig und selbstbewusst, wenn ihnen vorgeworfen wurde, die Patientensicherheit zu vernachlässigen.
Gefährlicher Normalzustand
Denn gerade um die Patientensicherheit ging es in diesem Streik. Nicht der Ausstand gefährde die Gesundheit der Patient*innen, so die immer wiederkehrende Erklärung, sondern der permanent unzureichende Normalzustand: Gefährdung besteht, wenn regelmäßig der ohnehin knapp bemessene Personalschlüssel unterlaufen wird, wenn die Pflegekräfte von einem Bett zum anderen hetzen, Überstunden ableisten oder kranke Menschen in den Ambulanzen viele Stunden warten müssen, kurz: wenn einfach zu wenig Manpower da ist, um die von allen Seiten gewünschte „gute Pflege“ zu leisten.
Dann riskieren nicht nur die Beschäftigten ihre Gesundheit, sondern auch Patient*innen leiden darunter. „Man fühlt sich ohnmächtig“, erzählt Personalrätin Petra Bäumler-Schlackmann, vor ihrer Freistellung als Betriebsrätin Teamsekretärin am Essener Klinikum, „wenn man täglich Überlastungsanzeigen bekommt und den Beschäftigten akut nicht helfen kann, weil wir dem Problem immer nur hinterherrennen.“[2] Allein in Nordrhein-Westfalen fehlen nach Verdi-Angaben rund 20 000 Fachkräfte in den Krankenhäusern und 14 000 in der Altenpflege. Deshalb forderten die Beschäftigten auch nicht mehr Geld wie bei einem gewöhnlichen Streik, sondern einen Tarifvertrag „Entlastung“ nach dem Berliner Vorbild, wo ein solcher im vergangenen Jahr ebenfalls nach einem wochenlangen Streik an den großen Krankenhäusern durchgesetzt werden konnte.[3] Ziel des Streiks waren entsprechend verbindliche Personalschlüssel für alle Arbeitsbereiche sowie die Dokumentation der konkreten Arbeitssituation, um den Betroffenen einen Belastungsausgleich – möglichst in Form freier Tage – zukommen zu lassen. Verdi fordert außerdem gesetzliche Personalvorgaben, die für alle Krankenhäuser gelten.
Wie schon in der Hauptstadt schlossen sich auch in Nordrhein-Westfalen Tätige aus allen Bereichen zusammen: Pflegekräfte, Reinigungspersonal, Beschäftigte aus Ambulanzen und Laboren, Transport und sogar der Verwaltung. Nach sechs Wochen Streik wurde schließlich klar, dass die Arbeitgeber zwar den Pflegenden „am Bett“ entgegenkommen wollten, weil dies durch das Pflegestärkungsgesetz hätte refinanziert werden können, die Beschäftigten in den übrigen Bereichen – mehr als die Hälfte des betroffenen Personals – aber außen vor geblieben wären. Der Vorschlag, den die Unikliniken im Juni schließlich unterbreiteten, wurde von der Verhandlungsgruppe in Absprache mit den Delegierten deshalb als „Mogelpackung“ abgelehnt. Die Spaltungsabsicht der Arbeitgeber war zu offensichtlich. Diese reagierten, indem sie mit Verweis auf die Patientensicherheit und ausgefallene Operationen versuchten, den Streik auf dem Klageweg zu beenden – allerdings erfolglos.[4]
Verbesserungen sind notwendig
Erschwert und verzögert wurden die Gespräche, weil die Unikliniken nicht einzeln bzw. zusammen mit Verdi verhandeln durften. Sie waren bis dahin Teil des Arbeitgeberverbandes des Landes (AdL), der wiederum der Tarifgemeinschaft der Länder (TdL) angehört. Diese hatte es jedoch abgelehnt, über einen Tarifvertrag Entlastung zu verhandeln. So mussten die Kliniken aus dem AdL austreten, was eine Änderung des Hochschulgesetzes erforderte. Diese wiederum ließ jedoch auf sich warten, weil sich die neue nordrhein-westfälische Landesregierung noch nicht konstituiert hatte. Am Ende verließen die Kliniken die AdL, nicht unbedingt zur Freude von Verdi: „Unser Wunsch wäre es gewesen, dass wir im Verband bleiben und schauen, was passiert. Wir bedauern sehr, dass die Landesregierung dazu nicht bereit war“, erklärt der Essener Gewerkschaftssekretär Jan von Hagen.[5]
Sie würden den Streik erst beenden, wenn sie im Alltag tatsächliche Verbesserungen spürten, war von den Beschäftigten vielfach zu hören. Es müsse sich grundlegend etwas ändern. Der schließlich ausgehandelte Kompromiss sieht vor, dass in allen patientennahen Bereichen – von den Stationen über die Ambulanzen bis zur Psychiatrie – und in jeder Schicht kontrolliert wird, ob ausreichend Personal arbeitet. Ist dies nicht der Fall, gibt es Belastungspunkte für die dort Tätigen, bei sieben Punkten steht ihnen fortan ein freier Tag zu, bis zu maximal elf Tagen im ersten, 14 im zweiten und 18 im dritten Jahr. Für eine Übergangszeit, bis die entsprechend dafür nötigen IT-Systeme eingerichtet sind, gibt es pauschal fünf Tage. Auch für andere Bereiche wie die Radiologie oder Betriebskindergärten wurden Belastungsvereinbarungen erzielt.
In den einzelnen Kliniken werden nun 30 neue Vollzeitkräfte eingestellt. Bitter sei es jedoch, so Verhandlungsführer Heinz Rech, dass Entsprechendes für den IT-Bereich und die Ambulanzen nicht erreicht wurde. Immerhin: Die Anbindung an den Branchentarifvertrag bleibt auch nach dem Austritt der Kliniken aus der AdL bestehen. Damit hätten die Beschäftigten, so Katharina Wesenick von Verdi, „den ersten Flächentarifvertrag für Entlastung“ durchgesetzt und „einen wichtigen Etappensieg“ erreicht.[6] Anfang August segneten die Mitarbeitenden der Unikliniken den Abschluss ab, mit knapp 74 Prozent. Das Ergebnis, so Verdi-Sekretär von Hagen, spiegele die Stimmung der Streikenden wider. Sie hätten gute Ergebnisse durchsetzen können, es gebe aber auch „Unmut über die Spaltung der Beschäftigten durch die Arbeitgeber, die nicht bereit waren, für alle Bereiche wirksame Entlastungsregelungen zu vereinbaren“.[7]
»Ich pflege wieder, wenn…«
Ein tatsächlicher Sieg für die Pflegekräfte wird der Abschluss erst, wenn es gelingt, die ohnehin schon vakanten Stellen und zudem die Lücken, in denen Kolleg*innen mit Belastungstagen ausfallen, mit Personal zu besetzen. Denn sonst wird es zu einem Nullsummenspiel, weil auf die Verbleibenden noch mehr Arbeit zukäme. Den Patient*innen wäre damit auch nicht geholfen. Eine Studie der Techniker Krankenkasse offenbart, dass Pflegekräfte häufiger krank sind als die Beschäftigten anderer Berufsgruppen, nämlich 22,3 Tage pro Jahr, neun mehr als der Durchschnitt.[8] Das ist zum einen auf die schlechten Arbeitsbedingungen zurückzuführen, zum anderen auf das Alter der Pflegenden, die durchschnittlich 40,6 Jahre alt sind. Damit aber tickt die Uhr, denn mehr als 100 000 in der Pflege Tätige werden in den kommenden Jahren in Rente gehen oder aus dem Beruf aussteigen – ein Umstand, der noch immer zu wenig im Fokus der Politik und der Öffentlichkeit steht.
Dabei gäbe es Abhilfe, ohne anderen Ländern durch Abwerbung das Pflegepersonal zu entziehen – das gilt auch für die Langzeit- und Altenpflege. In einer von der Hans-Böckler-Stiftung veröffentlichten Studie[9] wurden Aussteiger*innen und Teilzeitbeschäftigte danach gefragt, ob und unter welchen Bedingungen sie in den Beruf zurückkehren oder, wenn sie Teilzeit arbeiten, ihre Stunden aufstocken würden. Über 88 Prozent der Ausgestiegenen schließen eine Rückkehr nicht aus, ein Fünftel hält das sogar für wahrscheinlich. 70 Prozent der Teilzeitkräfte könnten sich eine Erhöhung der Stundenzahl vorstellen, wenn sich die Arbeitsbedingungen verbesserten, das heißt, mehr Zeit für die Pflege, eine wertschätzende Führungsstruktur, eine bedarfsorientierte Personalbemessung und bessere Bezahlung gegeben wären. Bei einer Erhöhung der wöchentlichen Arbeitszeit um zehn Stunden könnten in den Krankenhäusern laut der Studie zwischen 20 000 und 43 000 Vollzeitstellen ausgeschöpft werden. In der Langzeitpflege wären es zwischen 19 000 und 35 000. Durch eine Rückkehr ausgestiegener Pflegekräfte könnten rechnerisch zwischen 262 000 bis zu 583 000 Vollzeitkräfte gewonnen werden. Die Zahlen belegen, dass viele eigentlich gerne in ihrem Beruf arbeiten würden – wenn sich die Arbeitsbedingungen änderten.
Zusammenhalt zahlt sich aus
Gelingt es nicht, den Ausstiegstrend, der nach den großen Coronawellen unvermindert anhält, zu stoppen und mehr Pflegende ans Krankenbett zu bringen, wird sich die Situation in der hiesigen Krankenhauslandschaft weiter verschlechtern. Nachdem eine Studie der Bertelsmann Stiftung schon 2019 auf die Schließung von Krankenhäusern gedrungen hat, macht Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) keinen Hehl daraus, einer großen Zahl von Kliniken den Versorgungsauftrag entziehen zu wollen. Eine von ihm eingesetzte Kommission ist derzeit dabei, entsprechende Vorschläge auszuarbeiten. Durch Abwerbekampagnen könnte das Pflegepersonal dem unbeabsichtigt Vorschub leisten, weil es dorthin wechseln wird, wo es bessere Arbeitsbedingungen durchgesetzt hat.
Fraglos ist mit den großen Streiks in Berlin und nun auch NRW das Selbstbewusstsein der Pflegekräfte zumindest in den Häusern mit Maximalversorgung gestiegen. Dort ist der gewerkschaftliche Organisationsgrad erheblich höher als etwa in der zersplitterten Altenpflegelandschaft. Erfolgreich waren die Streiks an den Universitätskliniken jedoch auch aufgrund des strategischen Wechsels vom reinen „Pflegestreik“ zum Ausstand aller Beschäftigten, dem sich bislang nur das ärztliche Personal nicht angeschlossen hat.
In Nordrhein-Westfalen kam hinzu, dass alle sechs Kliniken koordiniert in die Auseinandersetzung gegangen sind. Ausgezahlt hat sich aber auch, dass ein starkes Delegiertensystem über die langen Wochen hinweg den Kontakt zwischen Streikenden und Verhandlungsführung aufrechterhielt, Forderungen unmittelbar an der Basis entwickelt und diese in die Verhandlungen eingebracht wurden. Die dabei gewonnenen Erfahrungen sind Thema in vielen Streikreportagen und dürften auch nachwirken, wenn es demnächst um die geplante flächendeckende bedarfsgerechte Personalbemessung in den Krankenhäusern (PPR 2) gehen wird, um Krankenhausschließungen und vieles andere. Ob dies Signalwirkung für andere Bereiche hat, den Sozial- und Erziehungssektor etwa, bleibt abzuwarten. Im aktuellen Fall konnten die Streikenden vermitteln, dass sie nicht nur für sich, sondern für das Wohl der Patient*innen kämpften, also für uns alle. Das fand breite Unterstützung. Gelänge es, dies zu verbinden mit anderen Forderungen, etwa der Abschaffung der Fallpauschalen, könnte daraus eine politische Bewegung entstehen, die über reine Arbeitskämpfe hinausgeht. Das pauschale Abrechnungssystem nach DRG (Diagnoses Related Groups) ist ein ausschlaggebender Grund für die Arbeitsüberlastung der Beschäftigten, denn es sorgt dafür, dass weder Patient*innen nach Bedarf versorgt noch Krankenhäuser nach Bedarf finanziert werden.[10]
Aus genderpolitischer Perspektive erinnern die Streiks in den Krankenhäusern an die späten 1970er und frühen 80er Jahre. Nach den langen Auseinandersetzungen um Leichtlohngruppen in der Industrie begannen sich damals die Verkäuferinnen in den großen Warenhäusern zu organisieren, der gesamte Handel geriet in Bewegung durch die Frauen, und die Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV) erlebte einen ungeahnten Aufschwung. Diese Geschichte ist noch gar nicht geschrieben – und nun in einem anderen, hoch sensiblen Bereich wieder in vollem Gange.
[1] Vgl. https://schwarzbuch-krankenhaus.net.
[2] Gespräch mit der Autorin am 20.6.2022.
[3] Vgl. Ulrike Baureithel, Pflege am Limit: Die hausgemachte Katastrophe, in: „Blätter“, 12/2021, S. 21-24.
[4] Vgl. Pressemitteilung des LAG Köln, Berufung zurückgewiesen. Streikmaßnahmen am Uniklinikum Bonn, www.lag-koeln.nrw.de, 1.7.2022.
[5] Vgl. Ulrike Baureithel, Das Krankenhaus ist kein sicherer Ort, in: „Freitag“, 25/2022, S. 5; Gespräch mit der Autorin am 20.6.2022.
[6] Tarifvertrag „Entlastung“ an NRW-Unikliniken ist ein großer Etappensieg für die Beschäftigten, Pressemitteilung von Verdi Nordrhein-Westfalen vom 19.7.2022.
[7] Mehrheit stimmt für Tarifvertrag Entlastung, www.bibliomed-pflege.de, 8.8.2022.
[8] TK-Gesundheitsreport: Pflegekräfte häufiger krank als andere Berufsgruppen, Pressemitteilung Techniker Krankenkasse vom 27.5.2022.
[9] „Ich pflege wieder, wenn…“. Potenzialanalyse zur Berufsrückkehr und Arbeitszeitaufstockung von Pflegefachkräften, April 2022.
[10] Vgl. Kai Mosebach und Nadja Rakowitz, Fabrik Krankenhaus, in: „Blätter“, 9/2012, S. 19-22.