Ausgabe April 2023

Kindergrundsicherung: Kaum angekündigt, schon demontiert?

Kinderarmut und Kindergrundsicherung, Symbolfoto, 3.12.2018 (IMAGO / photothek)

Bild: Kinderarmut und Kindergrundsicherung, Symbolfoto, 3.12.2018 (IMAGO / photothek)

Sie spielt sich oft im Verborgenen ab und steht noch immer zu wenig im Fokus: Kinderarmut. Dabei sind hierzulande rund drei Millionen Kinder und Jugendliche betroffen und damit 21,3 Prozent aller Minderjährigen. Immerhin: Nachdem man sie lange nur in Sonntagsreden bedachte, betrachten mittlerweile große Teile der Öffentlichkeit Kinderarmut als ein gravierendes soziales Problem, das die Politik sehr viel konsequenter als bisher angehen muss. Und seit die SPD „Hartz IV hinter sich lassen“ will, wie ihre damalige Vorsitzende Andrea Nahles, heute Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit, immer wieder betonte, gehört eine Kindergrundsicherung (KGS) zu den Instrumenten dieser Partei, um die Armut und die damit verbundene soziale Ausgrenzung von Minderjährigen zu bekämpfen.[1] Schon kurz nach der Jahrtausendwende hatten die Grünen ein Konzept entwickelt, das sich auf Kinder als besonders vulnerable Armutsrisikogruppe konzentriert. Sie können deshalb als Urheber:innen des Reformprojekts gelten, das nun, nach über zwei Jahrzehnten, langsam Gestalt annimmt.

Nachdem die Ampelkoalition mit dem am 1. Januar 2023 in Kraft getretenen Bürgergeld zunächst die landläufig als „Hartz IV“ bezeichnete Grundsicherung für Arbeitsuchende reformiert hat, steht für den Rest der Legislaturperiode die Kindergrundsicherung als ihr zweites familien- und sozialpolitisches Kernanliegen im Fokus. Damit sollen neben dem Kindergeld sämtliche kindbezogenen Transferleistungen – der Kinderzuschlag, die entsprechenden Regelbedarfsstufen des Bürgergeldes sowie Teile des Bildungs- und Teilhabepaketes (BuT) – zusammengelegt werden.

Laut den „Eckpunkte[n] zur Ausgestaltung der Kindergrundsicherung“, die Familienministerin Lisa Paus (Bündnis 90/Die Grünen) ihren Koalitionskolleg:innen im Januar vorlegte, soll diese aus zwei Komponenten bestehen: einem für alle Kinder gleichen Garantiebetrag, der dem heutigen Kindergeld entspricht, und einem Zusatzbetrag, der sich nach dem Alter des Kindes und dem Haushaltseinkommen richtet.[2] Vor allem über die Höhe des Zusatzbetrages wird es in der Ampel vermutlich noch harte Auseinandersetzungen geben, weil die FDP das Projekt offenbar verhindern, verschieben oder nur in einer Schrumpfversion passieren lassen will – die schwarze Null und den Verzicht auf Steuererhöhungen als vordringliches Ziel vor Augen. Doch unabhängig von einem möglichen späteren Kompromiss der Koalition stellt sich die Frage, ob das – bislang noch recht vage – Konzept des Bundesfamilienministeriums überhaupt seinem Anspruch genügen kann, „einfach, unbürokratisch und bürgernah“ zu sein.[3] Wäre es also tatsächlich geeignet, die hierzulande weit verbreitete und oft verdeckte Armut von Minderjährigen zu beseitigen oder die soziale Ungleichheit innerhalb der nachwachsenden Generation wenigstens zu verringern?

Kindergrundsicherung für alle?

Das ist alles andere als klar: Laut Eckpunktepapier soll der für alle Familien gleiche Garantiebetrag beim 2025 geplanten Start der Kindergrundsicherung „mindestens“ der Höhe des dann geltenden Kindergeldes entsprechen. Verteilungsgerecht und in sich schlüssig ist eine Kindergrundsicherung damit aber noch nicht. Das wäre erst der Fall, wenn sie neben dem Kindergeld und ergänzenden Familienleistungen auch den bisherigen steuerlichen Kinderfreibetrag integrieren würde, an dem die FDP, vermutlich auch die Unionsparteien, mit ihrer starken Stellung und praktischen Vetofunktion im Bundesrat festhalten. Es ist nicht bloß ungerecht, sondern auch unlogisch, den steuerlichen Kinderfreibetrag, der die Steuerfreistellung eines Einkommens in Höhe des kindlichen Existenzminimums bewirkt, beizubehalten bzw. seine Abschaffung auf den Sankt-Nimmerleins-Tag zu verschieben: Denn dieser entlastet Spitzenverdienende im Jahr 2023 um gut 354 Euro pro Monat, während Normalverdienenden, die das Kindergeld (heute 250 Euro) bzw. künftig den vermutlich gleich hohen KGS-Garantiebetrag erhalten, monatlich 104 Euro weniger zur Verfügung stehen. In den Eckpunkten der Bundesfamilienministerin heißt es vage, „perspektivisch“ solle der geplante Garantiebetrag der maximalen Entlastungswirkung des steuerlichen Kinderfreibetrages entsprechen. Vorerst aber verhindert die FDP innerhalb der Ampelkoalition, dass dem Staat jedes Kind gleich viel wert ist. Warum sollen Investmentbanker, Topmanager und Chefärzte im Gegensatz zu Erzieherinnen, Pflegekräften oder Verkäuferinnen statt der Kindergrundsicherung für alle Minderjährigen weiterhin einen gesonderten Steuerfreibetrag für ihren Nachwuchs in Anspruch nehmen können? Dieses grundsätzliche Gerechtigkeitsproblem bleibt nach den Plänen des Familienministeriums vorerst weiter bestehen.

Zwar ist die von Paus vorgestellte Absicht, die Grundsicherungsleistungen von einer „Holschuld“ der Familien zu einer „Servicepflicht“ des Sozialstaates zu machen, grundsätzlich zu begrüßen. Denn obwohl viele Kinder schon jetzt Anspruch auf Unterstützung hätten, nehmen zu viele Familien diese – oft aus Unkenntnis und wegen hoher bürokratischer Hürden – bislang nicht in Anspruch. Das soll sich nach den Plänen des Familienministeriums fortan ändern: Nunmehr sollen ein digitales Kindergrundsicherungsportal und ein automatisierter Kindergrundsicherungscheck die Beantragung der Kindergrundsicherung erleichtern. Doch es ist nicht auszuschließen, dass diese Digitalisierung des Antragsverfahrens gerade jene Familien benachteiligt, die am meisten auf KGS-Leistungen angewiesen sind: weil gerade ihnen oft die nötigen Kenntnisse, die passenden Geräte oder ein WLAN-Anschluss fehlen. Wer als „bildungsfern“ gilt, könnte damit noch mehr als bisher im Hinblick auf das Antragsverfahren benachteiligt werden.

Hinzu kommt, dass die geplante Schaffung einer Kindergrundsicherungsstelle nicht, wie beabsichtigt, zu weniger, sondern zu mehr Bürokratie führen würde – und womöglich gar zu einem Behördenchaos, weil auch das Jobcenter für die Eltern im Grundsicherungsbezug zuständig bleibt. Der maximale Zusatzbetrag soll zusammen mit dem Garantiebetrag „das pauschale altersgestaffelte Existenzminimum des Kindes“ abdecken, also den altersgestaffelten SGB-II-Regelbedarfen in Verbindung mit den anteiligen Wohnkosten sowie einzelnen Bildungs- und Teilhabeleistungen entsprechen. Positiv zu bewerten ist, dass der KGS-Zusatzbetrag nicht pauschal ausgezahlt werden soll, was besonders für Kinder aus sozial benachteiligten Familien problematisch wäre. Denn dadurch würden alle Minderjährigen über einen Kamm geschoren, ganz unabhängig davon, wo und in welcher Haushaltskonstellation sie leben, wie alt sie sind und ob sie sozial benachteiligt oder gesundheitlich eingeschränkt sind – Sonderbedarfe sollen also auch fortan geltend gemacht werden können.

Viel zu niedrig fällt allerdings die geplante „Kinderwohnkostenpauschale“ aus: Sie soll sich am aktuellen Existenzminimumsbericht orientieren – und liegt derzeit bei viel zu geringen 120 Euro pro Monat. Wesentlich sinnvoller wäre es, die tatsächlichen Mietkosten im KGS-Zusatzbetrag zugrunde zu legen, denn nach den bisherigen Planungen sind bei höheren Kosten zwei unterschiedliche Ministerien (das Familien- und das Arbeits- bzw. Sozialministerium) zuständig. Bedarfsgerecht ist eine Kindergrundsicherung jedenfalls nur, wenn neben dem Alter eines Kindes auch die tatsächliche Wohnsituation seiner Familie angemessen berücksichtigt wird. Und auch das Geld etwa für Klassenfahrten oder das kostenfreie Mittagessen in einer Ganztagseinrichtung ist durch den geplanten Zusatzbetrag nicht abgedeckt. Aus dem Bildungs- und Teilhabepaket sollen bislang nur das Schulbedarfspaket und die 15 Euro pro Monat für kulturelle Teilhabe (für die Musikschule oder den Sportverein) im Zusatzbetrag aufgehen. Das aber heißt, dass Eltern alle anderen Leistungen weiter separat beantragen müssen. Von einer Vereinfachung des Antragsvorgangs kann in diesem Fall keine Rede sein.

Noch immer unklar ist zudem, wie genau bei einem steigenden Einkommen der Eltern die Höhe des Zusatzbetrags abgeschmolzen werden soll – dabei entscheidet auch das letztlich darüber, ob die Kindergrundsicherung im Einzelfall armutsfest und bedarfsgerecht ist oder nicht. Eine großzügige Ausgestaltung des Garantie- wie des Zusatzbetrages der Kindergrundsicherung stößt bereits im Bundeskabinett an Grenzen, vom Bundesrat ganz zu schweigen: Schon jetzt macht die FDP in gewohnter Manier Bedenken geltend, dass Geringverdienende durch höhere Leistungen davon abgehalten würden, mehr zu arbeiten.

Wiederkehr des Stammtischdenkens

Kaum hatten erste Sondierungsgespräche für den Bundeshaushalt 2024 begonnen, geriet die Kindergrundsicherung bereits in den Strudel sich zuspitzender Verteilungskämpfe zwischen den Koalitionären. Während die FDP künftig mindestens zehn Mrd. Euro jährlich für eine finanzmarktabhängige Altersvorsorge aufwenden will, plädiert Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) für eine Steigerung der Rüstungsausgaben um dieselbe Summe, und zumindest die Bündnisgrünen halten unbeirrt an der Kindergrundsicherung als dem sozialpolitischen Prestigeprojekt der Ampelkoalition fest. „Kinder oder Kriegsmaterial“ lautete angesichts dieser unterschiedlichen Prioritätensetzung der Regierungsparteien nicht unzutreffend die Zuspitzung der Medien.[4]

Bundesfinanzminister Christian Lindner, der Steuererhöhungen prinzipiell ablehnt und im nächsten Jahr die Schuldenbremse wieder einhalten will, steht der Kindergrundsicherung besonders skeptisch gegenüber. Er sieht das Projekt vordergründig als eines zum Bürokratieabbau und zur Digitalisierung des Sozialstaates, nicht aber zur Anhebung der Transferleistungen für bedürftige Familien. In einem Interview untermauerte Lindner seine Auffassung jüngst mit der Aussage, dass man „den Kindern keine Schuldenberge vererben“ und „auch keine Steuern erhöhen“ dürfe.[5]

In der hierzulande seit vielen Jahren, wenn nicht Jahrzehnten steigenden Kinderarmut sieht Lindner eher ein importiertes Problem, für das er die wachsende Zahl der Kinder von Geflüchteten verantwortlich macht. Dabei stützt sich Lindner auf Angaben der Bundesagentur für Arbeit, wonach die Zahl der Kinder mit deutscher Staatsangehörigkeit, die in Grundsicherung leben, seit 2015 um rund ein Drittel von 1,5 Millionen auf etwa eine Million gesunken ist.

Das lässt aber nur bedingt Aussagen über die soziale Lage von Familien mit deutscher Staatsangehörigkeit zu, die nicht mehr im SGB-II-Bezug sind. Denn diese Familien kommen nicht schon dadurch aus der Armutsrisikozone heraus, dass ihnen kein Bürgergeld mehr zusteht, weil sie den verbesserten Kinderzuschlag, den entfristeten Unterhaltsvorschuss oder das erhöhte Wohngeld in Anspruch nehmen können. Vielmehr bleibt ihr Haushaltseinkommen trotz einer leichten Verbesserung der Einkommenssituation in aller Regel unter den 60 Prozent des mittleren Einkommens, die laut einer EU-Konvention als Armutsgefährdungsschwelle bezeichnet werden.

Gemessen an diesem Armutskriterium hat sich an der Zahl armutsgefährdeter Familien von Kindern mit deutscher Staatsangehörigkeit wenig geändert. Abgesehen davon ist es ohnehin äußerst fragwürdig, arme Kinder nach ihrer Staatsangehörigkeit zu sortieren – nicht zuletzt deshalb, weil die Zukunftsfähigkeit unseres Landes eben auch davon abhängt, dass nicht ein großer Teil der jungen Generation sozial benachteiligt und wegen der Herkunft seiner Eltern diskriminiert wird. Unabhängig von der Staatsangehörigkeit hat die Kinderarmut hierzulande einen historischen Höchststand erreicht. Diese Tatsache durch den Hinweis zu relativieren, dass deutsche Familien weniger Transferleistungen beziehen, ist eines Bundesministers und Parteivorsitzenden unwürdig. Rein populistisch argumentiert Lindner, wenn er sagt: „Nehmen wir das Beispiel einer Familie, in der die Eltern keine Arbeit haben und kein Deutsch sprechen. Überweisen wir ihnen dann einfach mehr Geld? Oder investieren wir in die Sprachförderung von Eltern und Kindern? Und in das Bemühen, die Eltern in den Arbeitsmarkt zu integrieren?“[6] Man sollte das eine tun, ohne das andere zu lassen. Hier wird ein Scheingegensatz zu Lasten armer Familien konstruiert, der gar nicht existiert.

Vor der Verabschiedung des Gesetzes zur Kindergrundsicherung droht damit – wie durch die zu erwartende Konfrontation seitens der Union – eine politische und mediale Stimmungsmache auf Stammtischniveau, wie es sie zuletzt gegen die Bürgergeldreform gab, von der am Ende nur eine Schrumpfversion übrig blieb. Seinerzeit hieß es, der Regelsatz von 502 Euro monatlich für Alleinstehende werde dafür sorgen, dass hierzulande niemand mehr arbeiten wolle, weil er zusammen mit der Erstattung von Miet- und Heizkosten höher sei als der Nettoverdienst eines Geringverdieners.[7]

Bei der im Hinblick auf die Kindergrundsicherung ebenfalls zu erwartenden Kampagne auf „Bild“-Zeitungsniveau wird dieses Scheinargument in der Öffentlichkeit genauso fröhliche Urständ feiern wie die Unterstellung eines massenhaften Leistungsmissbrauchs. Wollen SPD und Grüne die Kinderarmut ernsthaft bekämpfen, müssen sie sich in diesem Punkt der seit den anhaltenden Wahlverlusten in den Bundesländern irrlichternden FDP dringend und entschieden entgegenstellen.

[1] Vgl. Carolin Butterwegge und Christoph Butterwegge, Kinder der Ungleichheit. Wie sich die Gesellschaft ihrer Zukunft beraubt, Frankfurt a. M. und New York 2021, S. 242 ff.

[2] BMFSFJ-Eckpunktepapier Kindergrundsicherung, www.grundeinkommen.de, 18.1.2023.

[3] Siehe ebd., S. 1.

[4] Vgl. etwa Geld für Kinder oder Panzer, www.taz.de, 22.2.2023; Ende der Zeitenwende. Krieg oder Kinder: Ein Jahr lang haben die Ampel-Parteien der neuen Weltlage große Zugeständnisse gemacht. Jetzt soll damit Schluss sein, in: „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“, 26.2.2023.

[5] Christian Lindner im Interview mit t-online, „Wir haben trotz Schuldenbremse im Haushalt Rekordinvestitionen geplant“, www.bundesfinanzministierium.de, 22.2.2023.

[6]  Ebd.

[7]  Vgl. hierzu: Christoph Butterwegge, Bürgergeld: Stimmungsmache auf Stammtischniveau, in: „Blätter“, 12/2022, S. 37-40.

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