Ausgabe Juli 2023

Die Wutbürger-Republik oder: Alle spielen für die AfD

Demonstration und Kundgebung gegen das Heizungsgesetz der Ampel-Regierung auf dem Volksfestplatz in Erding, 10.6.2023 (IMAGO / Smith)

Bild: Demonstration und Kundgebung gegen das Heizungsgesetz der Ampel-Regierung auf dem Volksfestplatz in Erding, 10.6.2023 (IMAGO / Smith)

SPD 18, AfD 18: Als Anfang Juni die Prozentzahlen des jüngsten ARD-Deutschlandtrends publik wurden, war der Aufschrei gewaltig. Und tatsächlich muss es aufhorchen lassen, wenn die Kanzlerpartei, die soeben ihren 160. Geburtstag gefeiert hat, gleichauf liegt mit einer rechten Truppe, die vor gerade einmal zehn Jahren gegründet und seither immer radikaler, ja sogar in Teilen extremistisch geworden ist. Im politischen Berlin ist seither ein bemerkenswertes Schauspiel zu beobachten: Regierung und Opposition schieben sich im Wechselspiel den Schwarzen Peter zu – und tun damit faktisch alles, um der AfD zu neuen Höchstwerten zu verhelfen.

Was die Regierung betrifft, liegt ihre Verantwortung auf der Hand. Populisten und Antidemokraten wachsen nur unter zwei Voraussetzungen: erstens einer realen Krisenlage und zweitens einer demokratischen Regierung, die zur Lösung der Probleme offensichtlich nicht in der Lage ist. Beide Voraussetzungen sind derzeit im Übermaß erfüllt. Wir erleben Krisen in einer Häufung, wie sie die Bundesrepublik bisher noch nicht kannte: einen Krieg in der Ukraine, die sich verschärfende Klimakrise, daneben massive Inflation und schließlich von steigenden Migrationszahlen überforderte Kommunen, ein klassischer Wachstumstreiber aller Rechtspopulisten, der auch durch die avisierte Verschärfung des Asylrechts auf europäischer Ebene keineswegs beseitigt werden wird.

Diese Polykrise trifft auf eine Regierung, die nicht geschlossen, sondern hoch zerstritten auftritt und angesichts eines lange abgetauchten Bundeskanzlers über keine klare Führung verfügt, obwohl gerade das von tendenziell autoritären Charakteren, die den wesentlichen Teil der AfD-Wählerschaft ausmachen, erwartet wird. Insofern ist die Krise der Regierung ein echtes Wachstumsprogramm für ihre Gegner.

Das allerdings erklärt noch nicht, warum nicht primär CDU und CSU als die klassische Opposition von der Schwäche der Ampel profitieren. Zur Erinnerung: Die „Alternative für Deutschland“ wurde 2013 gegründet als eine Anti-Partei gegen die scheinbar endlose Merkel-Ära. Es war vor allem die faktische Alternativlosigkeit der Merkel-Union auf konservativer Seite, die damals für den Aufstieg der AfD sorgte. Der Scheitelpunkt schien vor exakt fünf Jahren erreicht, als die AfD angesichts blockierter Konservativer – auf dem Höhepunkt des Streits zwischen Seehofer/Söder-CSU und Merkel-CDU in der Fluchtfrage – schon einmal 18 Prozent erreichen konnte.

Insofern gibt es einen entscheidenden Unterschied zur Lage von 2018: Damals gab es keine konservative Alternative in der Opposition, war die AfD tatsächlich alternativlos als rechts-konservativer Protest gegen die Regierung. Daher wäre es nun die originäre Aufgabe der Union, auch nach ihrem Selbstverständnis, einen Teil der AfD-Sympathisanten wieder in das klassische, bürgerlich-konservativ Lager zu integrieren, wie es der Union in der gesamten Geschichte der alten Bundesrepublik geglückt war.

Doch davon kann aktuell keine Rede sein. Das alte Prinzip der kommunizierenden Röhren – verliert die SPD, dann gewinnt die Union – ist offensichtlich außer Kraft gesetzt. Die Repräsentationslücke auf der rechten Seite des Parteienspektrums, die sich in der Merkel-Ära aufgetan hat, wird derzeit eher größer als kleiner. Denn während die AfD wächst, stagniert die Merz-Union. Die knapp 30 Prozent, die sie in Umfragen erzielt, sind angesichts der desaströsen Lage der Regierung ein ausgesprochen schwaches Ergebnis. Die Union scheint weiter denn je davon entfernt, die Wählerschaft der AfD „zu halbieren“, wie es Friedrich Merz vor wenigen Jahren versprochen hatte. Und seine denkbar schwachen persönlichen Umfragewerte sind dabei auch nicht hilfreich. Bisher hat speziell der CDU-Chef kein Rezept gegen die AfD gefunden. Umso mehr nimmt die Unruhe in der Union zu, was wiederum zu erheblichen Fehlern führt, die sich als regelrechte Wachstumsspritzen für die AfD erweisen.

Insbesondere Merz‘ Satz „Mit jeder gegenderten Nachrichtensendung gehen ein paar hundert Stimmen mehr zur AfD“ lässt die Rechtspopulisten jubilieren und zugleich alle anderen massiv am strategischen Vermögen des CDU-Chefs zweifeln. Eine bessere Wahlempfehlung für die AfD – im Sinne einer selffulfillig prophecy – kann es kaum geben, bezeichnet Merz damit doch implizit die AfD als den originären Gegenpart der doch auch von seinen eigenen Strategen so stark angeprangerten angeblichen „Wokeness“-Dominanz im Lande.[1]

Nicht weniger fatal: Wenn Merz von einem dem normalen Leben der Menschen abgehobenen „Justemilieu“ der Berliner Regierungsparteien spricht, ist das eine Steilvorlage für die AfD, die mit Genuss darauf hinweist, dass die Union ja ihrerseits in zahllosen Bundesländern gemeinsam mit den Grünen regiert – und dies nach der letzten Bundestagswahl ja auch landesweit tun wollte. Insofern steckt in der Fundamentalkritik des politischen Gegners stets auch die Kritik der eigenen Politik. Zugleich bestärkt es das Kernargument der Rechtspopulisten, wonach wir es mit einer Krise des gesamten Partei-Establishments zu tun hätten. Und für diese stehen letztlich alle etablierten Parteien, die Ampel-Grünen sowieso, aber auch die im Osten an Regierungen beteiligte Linkspartei.

Die einzigen, die grundsätzlich dagegen sein können, sind die AfD und – möglicherweise in naher Zukunft – eine ebenfalls populistisch agierende Wagenknecht-Partei. Anders als die Regierungsparteien profitieren sie davon, dass sie für kein Versagen haftbar gemacht werden können. Getreu der Devise: Nur wer nichts macht, macht keine Fehler.

Jargon der Demokratie-Verachtung

Parallel zur Ratlosigkeit der anderen Parteien artikuliert sich daher ein neues Selbstbewusstsein der Rechtspopulisten. Denn sie, wie auch ihre Anhänger, haben längst begriffen: AfD wirkt, so oder so. Die Partei muss gar nicht regieren, denn sie bestimmt auch so den angstgetriebenen Kurs der anderen.

Zudem muss man der Partei konzedieren, dass sie aus ihrer Krise der letzten Jahre gelernt hat. Seit dem Abgang von Jörg Meuthen gibt sie sich, zumindest in der Öffentlichkeit, nicht mehr zerstritten. Und obwohl sie heute radikaler ist als je zuvor, tritt Björn Höcke als der heimliche Parteiführer kaum in Erscheinung, sondern lässt die beiden schwachen Parteivorsitzenden Tino Chrupalla und Alice Weidel agieren. Selbst die enorm hohen Umfragewerte werden bewusst nicht triumphalistisch kommentiert, um auf diese Weise zu verhindern, dass extreme Meinungen besonders augenfällig werden und sich dadurch die Öffentlichkeit gegen die Partei richten könnte. Die Strategie ist klar: Man hält sich selbst zurück und lässt stattdessen lieber andere für die AfD agieren. Und diese tun ihr leider allzu gerne den Gefallen. Denn längst hat sich auch in den angeblich bürgerlichen Parteien ein Jargon der Regierungs-, ja sogar der Demokratie-Verachtung etabliert, der das eigentliche Kernargument jedes Populisten bekräftigt, wonach nur er „Volkes Meinung“ gegen „die da oben“ vertritt, es sich also letztlich um eine Form autoritärer Herrschaft oder gar Diktatur der politischen Klasse handelt. Wenn etwa Thüringens CDU-Chef Mario Voigt das geplante Heizungsgesetz als „Energie-Stasi“ anprangert, relativiert er nicht „nur“ die DDR-Diktatur, sondern er bedient exakt die Narrative der AfD – und macht damit die Partei wählbar und gesellschaftsfähig.

Die Relativierung der Diktatur

Noch fataler – und zugleich absurder – ist es, wenn der stellvertretende bayerische Ministerpräsident Hubert Aiwanger auf einer Versammlung vor nicht zuletzt AfD-Sympathisanten und Querdenkern davon schwadroniert, dass der Punkt erreicht sei, „an dem sich die schweigende große Mehrheit die Demokratie wieder zurückholen muss“, und anschließend im besten Gossenslang in Richtung Berlin pöbelt: „Ihr habt‘s wohl den Arsch offen da oben!“ Das ist originärer AfD-Ton aus dem Munde eines Regierenden, der damit verschwörungsideologisch raunt, es gebe keine Demokratie mehr in Deutschland. Offensichtlich will Aiwanger damit die bereits angekündigte bundesweite Ausdehnung seiner „Freien Wähler“ für die Bundestagswahl 2025 pushen – faktisch aber spielt er damit dem rechtspopulistischen Original direkt in die Hände. Inzwischen liegt die AfD in Bayern denn auch bei zwölf Prozent, dem zweithöchsten Wert in den westdeutschen Ländern, Tendenz weiter steigend.

Gefüttert wird diese permanente Verschiebung der Grenzen des Denk- und Sagbaren durch eine immer aggressivere Wutbürgerstimmung in einem Teil der Medien, insbesondere des Boulevards, wo ehemalige Protagonisten des öffentlichen Rundfunks wie Peter Hahne und Wolfgang Herles ungehemmt ihren Ressentiments gegen die etablierten Parteien freien Lauf lassen. Auf diese Weise erleben wir eine regelrechte Verschmelzung der Wutbürger in Gesellschaft, Parteien und Medien, die bis in die vermeintlich seriöse Parteiendemoskopie ausstrahlt: „Wenn eine kleine elitäre Minderheit der oberen Bildungs- und Einkommensschichten der Gesellschaft der großen Mehrheit der Andersdenkenden ihre Werte durch Belehrungen oder Verbote aufzwingt, kann das wohl als eine Art Diktatur gewertet werden“, so der (wenigstens umstrittene) Forsa-Chef Manfred Güllner im Interview mit der „Welt“.[2]

Wenn in derartig leichtfertiger Weise der Diktatur-Begriff nivelliert wird, bleibt am Ende eigentlich nur noch die Möglichkeit, sich für die AfD als die einzige – jedenfalls entschiedenste – Gegnerin des vermeintlichen Meinungsdiktats des Partei-Establishments zu entscheiden. Folgerichtig verfügt die AfD inzwischen auch über erste Ansätze einer intellektuellen Anhängerschaft, etwa den ostdeutschen Schriftsteller Uwe Tellkamp („Der Turm“). In einem Interview mit dem ehemaligen „Bild“-Journalisten Ralf Schuler – der selbst so einschlägige Titel veröffentlicht wie „Lasst uns Populisten sein. Zehn Thesen für eine neue Streitkultur“ oder „Generation Gleichschritt“ – spricht er faktisch eine Wahlempfehlung für die AfD aus: „Wenn sie nicht damit einverstanden sind, was derzeit an Hauptpolitik gemacht wird, dann bleibt ihnen als Wähler fast nur noch diese Alternative übrig. Wenn sie nicht wollen, dass gegendert wird, wenn sie nicht wollen, dass Migration weiter so läuft, wie bisher oder noch schlimmer, dann haben sie fast keine andere Option mehr.“[3]

Was hilft gegen die AfD?

Letztlich fällt schon mit der Übernahme der AfD-Rhetorik eine wichtige Brandmauer gegen rechts. Dass bei diesem Überbietungswettbewerb der bürgerlichen Konkurrenz nur die AfD gewinnen kann, ist offensichtlich. Sie spielt mit den anderen Parteien Katz und Maus, oder genauer: Hase und Igel. Kloppen CDU, CSU und Co. auf die Grünen ein, ist die AfD immer schon einen Schritt weiter. Jüngstes Beispiel: Während sich CDU/CSU und Freie Wähler noch am Heizungsgesetz abarbeiten, fordert die AfD bereits den Austritt aus dem Pariser Klimaabkommen.

Hier, am Beispiel des Klimawandels, zeigt sich jedoch auch die weiche Flanke der AfD: Faktisch entzieht sie sich jeglicher Anforderung der Gegenwart, indem sie sie radikal verdrängt. Zweites Beispiel Migration: Die AfD gibt keinerlei Antwort auf die Frage, wie wir die Krise des Arbeitsmarktes lösen wollen. Woher sollen die 400 000 Menschen kommen, die wir jährlich brauchen, um die demographische Lücke zu schließen, die mit dem Abgang der Baby-Boomer entsteht?[4] Kurzum: Die AfD beantwortet alle großen Fragen schlicht mit der Flucht aus bzw. vor der Realität. Damit bedient sie eine immense Sehnsucht nach dem Zurück in die vermeintlich „gute alte Zeit“, als die Welt noch sicher und überschaubar war und man von den Zumutungen der Globalisierung verschont blieb. Insofern kann die einzig sinnvolle Auseinandersetzung nur daran bestehen, sie an den konkreten Herausforderungen zu messen und die inhaltliche Leere ihrer Antworten zu entlarven.

Zugleich kommt es darauf an, deutlich zu machen, wohin die Reise mit Höcke gehen soll. Der erfolgreichen Strategie vieler europäischer Rechtspopulisten folgend, etwa jüngst der Schwedendemokraten, will Höcke von der lokalen Basis aus das Land erobern. Deshalb hat die AfD die Landratswahl im Kreis Sonneberg zur Chefsache erklärt, um mit einem Sieg ein – O-Ton Höcke – „Beben“ auszulösen, das weit über den Landkreis hinausreicht. Das eigentliche Ziel sind die Thüringer Landtagswahlen im Herbst 2024, bei denen die AfD unbedingt stärkste Partei werden will, um damit das zweite Beben auszulösen, getreu der Devise: First we take Sonneberg, second Erfurt – and then we take Berlin. Alles in der Erwartung, dass irgendwann die anderen Parteien so sehr geschwächt sind, dass dann die Forderung unüberhörbar wird, es jetzt doch endlich einmal mit den Rechtspopulisten zu versuchen – wie längst in weiten Teilen Europas, nicht nur in Schweden, sondern auch in Österreich oder zuerst in Italien, mit Berlusconis „Forza Italia“ als Avantgarde, und vielleicht schon bald auch in Spanien.

Eigentlich hat Höcke selbst längst klar gemacht, wohin das letztlich alles führen soll. Auf einer Wahlkampfveranstaltung der Partei am 29. Mai 2021 in Merseburg machte er am Ende seiner Rede vor rund 250 Zuhörern sehr deutlich, was er unter AfD versteht, nämlich „Alles für Deutschland“ – die heute verbotene Losung der SA (weshalb auch eine Anzeige gegen ihn anhängig ist). Mehr an Bekenntnis zu den rechtsextremen Traditionen, inklusive gezieltem Gruß an die Gesinnungsgenossen, geht kaum. Und so sehr momentan viele andere das Ihrige dazu beitragen, den Begriff der Diktatur zu verharmlosen: Im Fall des Geschichtslehrers Höcke sollte man unbedingt davon ausgehen, dass er ganz genau weiß, was er damit sagt – und was er damit letztlich will.

[1] Albrecht von Lucke, Ukrainekrieg und Klimakrise: Die geschürte Polarisierung, in: „Blätter“, 1/2023, S. 7-10, hier: S. 9 f.

[2] Frederik Schindler, „Elitäre Minderheit zwingt Mehrheit ihre Werte auf“, in: „Die Welt“, 12.6.2023.

[3] Uwe Tellkamp bei „Schuler! Fragen, was ist“, 10.6.2023, www.youtube.com.

[4] Stefan Schulz, Die Boomer und der Altenboom, in: „Blätter“, 1/2023, S. 93-103.

Aktuelle Ausgabe September 2025

In der September-Ausgabe plädiert Lea Ypi für eine Migrationsdebatte im Sinne der Aufklärungsphilosophie. Cinzia Sciuto fordert, der zunehmenden Aushöhlung des Völkerrechts mit einer entschiedenen Verteidigung desselben zu begegnen – und nicht mit Resignation und falschem Realismus. Für Georg Diez markieren die Kriegsverbrechen in Gaza und die fehlenden Reaktionen darauf einen Epochenbruch; sie stünden für nicht weniger als den Verrat des Westens an der Humanität. Herfried Münkler analysiert, wie Kriege historisch endeten und Friedenszeiten begannen und was das mit Blick auf den Ukrainekrieg bedeutet. Simone Schlindwein deckt auf, wie Russland junge Afrikanerinnen mit falschen Versprechen für die Kriegswirtschaft rekrutiert. Warum die grüne Digitalisierung ein Mythos ist und was der KI-Boom den Globalen Süden kostet, erläutern Ingo Dachwitz und Sven Hilbig. Und Eva-Maria Klinkisch sowie Markus Rieger-Ladich zeigen auf, wie Long Covid-Betroffene von der Gesellschaft und dem Gesundheitssystem systematisch ignoriert werden – und was dagegen zu tun ist. 

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